Die "Eliteförderung" durch das Elterngeldgesetz

Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, Besserverdienern höheres Elterngeld zu zahlen als Geringverdienern? Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, bei Geburt eines zweiten und weiteren Kindes regelhaft niedrigeres Elterngeld zu zahlen als bei der Geburt eines ersten Kindes? Es ist an der Zeit, das Elterngeldgesetz auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand zu stellen.

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Auch unabhängig vom Grundgesetz ist die Bundesregierung bis heute die Erklärung schuldig geblieben, warum sie durch die bestehende Ausgestaltung des Elterngeldes im Vergleich zum früheren Erziehungsgeld die ohnehin vorliegende ausgedehnte Kinderarmut nochmals wesentlich verstärkt hat.

Die Verfassungsmäßigkeit des seit 2007 geltenden Elterngeldgesetzes ist mehrfach von Juristen in Zweifel gezogen worden (z.B. Christian Seiler, „Das Elterngeldgesetz im Lichte des Grundgesetzes“; Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2, 2007, S. 129-134). Eine der wenigen, die versuchen, das Gesetz mit juristischen Argumenten zu verteidigen, ist Frauke Brosius-Gersdorf („Das Elterngeld als Einkommensersatzleistung des Staates“; Neue juristische Wochenschrift; 4,  2007, S. 177-256). Sie wird daher von den Befürwortern des Gesetzes auch häufig zitiert. Das gibt Anlass, sich mit ihrer Auffassung auseinanderzusetzen.  

Das Elterngeld gibt es seit 2007. Es ersetzt das frühere Erziehungsgeld. Das Erziehungsgeld betrug 300 €/Monat für 24 Monate. Das Elterngeld wächst mit dem im Jahr vor der Geburt erzielten Einkommen bis auf maximal 1800 €/Monat, wird aber nur 12 bis 14 Monate gezahlt. Der Mindestbetrag ist 300 €. Damit erfolgte für Eltern, die vor einer Geburt bereits vorhandene Kinder betreuten, für Studentenpaare und für Geringverdiener eine Halbierung der Leistung. Dagegen erhielten Besserverdiener, besonders beim ersten Kind, wesentlich mehr. Etwa 60% aller Eltern werden gegenüber der früheren Regelung schlechter gestellt. Nur etwa 25% profitieren. Die Kinderarmut in jungen Familien wurde durch das Gesetz wesentlich verstärkt (Mehr-Kinder-Familien, Studentenpaare, Alleinerziehende u. a.).

Die Argumentation von Brosius-Gersdorf

Frau Brosius-Gersdorf  vertritt die Auffassung, das Gesetz verstoße weder gegen das Gebot zum Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 noch gegen Art. 6 Abs. 2, der die „Pflege und Erziehung der Kinder“ als „das natürliche Recht der Eltern und zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ bezeichnet. 

Das Elterngeld diene nicht dem Schutz der Familie, sondern sei eine „Familienförderung“ im Rahmen der Grundsatznorm nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2, Satz 1 GG. Bei einer „Grundrechtsförderung“ genieße der Gesetzgeber im Vergleich zu Grundrechtsbeschränkungen weitergehenden Handlungsspielraum. 

Im Einzelnen führt sie u. a. aus, Art. 6 Abs.1  verbiete es, Eltern gegenüber kinderlosen Paaren zu benachteiligen. Zitat: “Dieses Benachteiligungsverbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an … die  Wahrnehmung des Elternrechts  in familiärer Erziehungsgemeinschaft anknüpft“. Das Elterngeld benachteilige Familien nicht, da kinderlose Paare keine Förderung erhielten.

Es sei verfassungsrechtlich anerkannt, dass der Gesetzgeber nach dem Einkommen differenzieren dürfe. Z. B. sei die einkommensbezogene Staffelung von Kindergartengebühren mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. Das gelte auch für eine einkommensbezogene Staffelung des Elterngeldes. Und wörtlich: "Die progressive Förderung von Familien durch Elterngeld dient dem Ziel, die Zahl der Geburten quer durch sämtliche soziale Schichten zu erhöhen. Dieses Regelungsziel lässt sich nur verwirklichen, wenn Familien nicht gleich, sondern unterschiedlich gefördert werden. Für Paare mit hohem Einkommen gehen Anreize zur Familiengründung nur von vergleichsweise hohen finanziellen Zuwendungen aus, während für Paare mit niedrigen Einkommen bereits eine geringere finanzielle Unterstützung die Gründung einer Familie erleichtern und mithin positiv beeinflussen kann."

Als Grund für die „Familienförderung" durch Elterngeld wird angeführt: "Die niedrige Geburtenrate und der damit verbundene Rückgang der Bevölkerung bedrohen die Grundlagen von Staat und Gesellschaft und gefährden dauerhaft den Sozialstaat".

Kritische Anmerkungen zur Auffassung von Frau Brosius-Gersdorf

Dem obigen Zitat (Dieses Benachteiligungsverbot steht jeder belastenden Differenzierung entgegen, die an … die Wahrnehmung des Elternrechts in familiärer Erziehungsgemeinschaft anknüpft) ist zuzustimmen. In die Umgangsprache übersetzt heißt das: „Der Staat darf keine Regelungen schaffen, die Eltern deshalb benachteiligen, weil sie Kinder erziehen oder weil sie ihre Kinder so erziehen, wie sie es für richtig halten." Zumindest gilt das, solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist. Aber: Eine "belastende Differenzierung, die an die Wahrnehmung des Elternrechts anknüpft" ist nicht nur zwischen Eltern und kinderlosen Paaren möglich, sondern z. B. auch zwischen Eltern mit einem und solchen mit mehreren Kindern. Schließlich fordern mehrere Kinder in der Regel einen größeren zeitlichen und finanziellen Einsatz der Eltern als ein Kind. Das wird aber von Brosius-Gersdorf gar nicht thematisiert. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass das Elterngeldgesetz systematisch Eltern benachteiligt, die vor Geburt eines Kindes wegen Betreuung bereits vorhandener Kinder nicht oder nicht voll erwerbstätig waren. Diese Benachteiligung nimmt mit der Kinderzahl zu. Des Weiteren werden – auch bei gleicher Kinderzahl - diejenigen Eltern benachteiligt, die ihr Kind länger als ein Jahr selbst betreuen gegenüber den Eltern, die bereits nach einem Jahr eine Kinderkrippe in Anspruch nehmen. Damit liegen eindeutig „belastende Differenzierungen, die an der Wahrnehmung des Elternrechts anknüpfen" vor. Das Elterngeldgesetz verstößt also auch bei Zugrundelegung der von Brosius-Gersdorf angeführten Definition, die einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 10. 11. 1998 entnommen ist (2 BvR 1057/91) gegen das Schutzgebot des Grundgesetzes. Sie selbst übersieht das offensichtlich, weil sie sich mit der Mehr-Kind-Familie gar nicht befasst.

In diesem Zusammenhang ist auffallend, dass die Autorin das Elterngeldgesetz mehrfach damit begründet, der Staat wolle „Familiengründungen" fördern. Dabei geht es in der Regel um die Geburt eines ersten Kindes. Es wäre aber sicher eine Falschinterpretation, das Schutzgebot nach Art. 6 Abs.1 GG nur auf die „Familiengründung" zu beziehen und die Geburt weiterer Kinder außer Acht zu lassen.

Die einkommensabhängige Staffelung des Elterngeldes mit der vom Bundesverfassungsgericht gerechtfertigten einkommensabhängigen Staffelung der Kindergartenbeiträge zu rechtfertigen, ist abwegig. Letzteres ist eine Begünstigung sozial Schwächerer, die verfassungsrechtlich zwar nicht geboten aber aufgrund des Sozialstaatsgebots zu rechtfertigen ist. Eine steuerfinanzierte Begünstigung von Besserverdienern bedarf aber einer grundsätzlich anderen Begründung.
Brosius-Gersdorf sieht eine solche Begründung darin, dass mit steigendem Einkommen auch ein steigender Elterngeldbetrag erforderlich sei, um die gleiche „Anreizwirkung" zur Geburt eines Kindes zu erzielen. Das Recht des Staates, eine „Anreizwirkung" anzustreben, begründet sie mit den verhängnisvollen Folgen der niedrigen Geburtenrate, denen der Staat entgegenwirken müsse.

Wenn Brosius-Gersdorf meint, schon eine kurzfristige Leistung wie das Elterngeld könne die Geburtenrate wesentlich beeinflussen, dann sollte sie sich auch die Frage stellen, ob nicht eine finanzielle Benachteiligung der Eltern bereits in der Vergangenheit der Grund oder zumindest ein Mitgrund für die niedrige Geburtenrate war und ist. Im Sozialrecht, besonders im Rentenrecht, würde sie dann rasch fündig. Schließlich kam die Investition in Kinder seit alters her den Eltern zugute. Erst unser Sozialrecht hat dazu geführt, dass Eltern zwar weiter ganz überwiegend die Kinderkosten tragen müssen, andererseits von ihren Kindern aber finanziell weniger profitieren als die, die gar keine Kinder haben.

Kommen erst einmal diese tatsächlichen Verhältnisse in den Blick, dann erübrigt sich das Konzept einer „Anreizwirkung". Es genügt dann, Eltern eine Gegenleistung dafür zu geben, dass sie eine Leistung erbringen, die heute der ganzen Gesellschaft nutzt. Das ist dann weder eine „Förderung" der Familie und auch kein „Anreiz", Kinder zu bekommen, sondern bestenfalls eine Leistung, die den Anreiz, keine Kinder zu bekommen, mindert.

Da die Qualität der Kinderziehung keine erkennbare Beziehung zum früheren Einkommen der Eltern hat, zumindest solange keine Erziehungsunfähigkeit besteht, lässt sich auch keine einkommensabhängige Staffelung einer Honorierung der Erziehungsleistung rechtfertigen. Wer vor der Geburt ein hohes Einkommen hatte, konnte sich sogar leichter auf eine Geburt vorbereiten, als andere. Er/sie ist auch besser in der Lage, bei fortgesetzter Erwerbstätigkeit eine Fremdbetreuung zu finanzieren. Eine Benachteiligung Besserverdienender ist durch gleiche Honorierung der Erziehungsleistung nicht gegeben.

Es fällt auch auf, dass Brosius-Gersdorf bei ihrer Analyse den Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheit vor dem Gesetz) ganz ausblendet. Dabei ist die Ungleichbehandlung von Eltern, die vor einer Erstgeburt beide voll erwerbstätig sein konnten und Eltern, die wegen Betreuung bereits vorhandener Kinder weniger erwerbstätig waren, offensichtlich. Hier wird die vorangegangene Erwerbstätigkeit bis zu 6-mal höher bewertet als vorangegangene Kindererziehung. Aber wie bereits gesagt: Brosius-Gersdorf hat offensichtlich nur Erstgeburten im Blick.

Abgesehen davon, dass die Geburt eines Kindes und seine Erziehung nicht als „Schadensfall" behandelt werden sollte wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit, ist eine Analogie zur Einkommensbezogenheit von Krankengeld und Arbeitslosengeld schon deshalb nicht herzustellen, weil diese durch einkommensbezogene Beiträge, das Elterngeld dagegen aus Steuern finanziert wird.

In der Argumentation der Autorin wird durchgängig eine Minderbewertung der Erziehungstätigkeit gegenüber der Erwerbstätigkeit deutlich, wie sie auch ganz charakteristisch unserem Sozialrecht, besonders dem Rentenrecht, zugrunde liegt. Das geht sogar so weit, dass die Benachteiligung von erziehenden Müttern und Vätern zum Anlass genommen wird, eine neue Benachteiligung nach Geburt eines weiteren Kindes zu rechtfertigen.

Diese ganz auf Erwerbstätigkeit fokussierte Denkweise nimmt Kindererziehung gar nicht mehr als Leistung in den Blick, sondern sieht sie nur als Störfaktor wie eine Krankheit oder Arbeitslosigkeit und behandelt sie auch so. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, ob nicht schon diese Betrachtungsweise des Gesetzgebers mit all ihren Konsequenzen mit Art. 6 Abs.1, 2 und 4 GG unvereinbar ist. Schließlich fußt ja die Konstruktion des Elterngeldes als „Einkommensersatz" auf der unausgesprochenen Annahme, dass Kindererziehung keine anerkennenswerte bzw. eine nur sehr geringwertige Tätigkeit sei.

Die von Brosius-Gersdorf vertretene Auffassung, das Elterngeldgesetz könne in der vorliegenden Form einen Beitrag leisten, der von ihr als verhängnisvoll betrachteten demographischen Entwicklung entgegenzuwirken, obwohl es die Mehrheit der Familien schlechter stellt als beim früheren Erziehungsgeld, ist auf diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Das Gesetz wird die Mehrzahl der Familien weiter schwächen und damit der Auflösung unserer sozialen Ordnung einschließlich unseres Sozialsystems weiter Vorschub leisten.

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