Die Bildungsmesse 2010 in Köln

Bildung ist ein gutes Geschäft. Beleg dafür sind die jährlich stattfindenden großen Messen, die abwechselnd in Köln, Hannover und Stuttgart stattfinden. Von der diesjährigen Bildungsmesse kam ich nachdenklich nach Hause zurück.

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Diesmal fand die Großveranstaltung Mitte März in Köln statt. Welche Eindrücke sind geblieben? Da ist einmal die wiederholt gemachte Erfahrung der Überforderung. Sowohl den Ausstellern als auch den Messebesuchern macht die allseitig ans Ohr dringende, verwaschene Lärmkulisse zu schaffen. Dazu kommt die Vielfalt an optischen Eindrücken, an Farben, Formen und beweglichen Elementen. Nach einigen Stunden Aufenthalt inmitten der unentwegt voranströmenden Menschenleiber, betäubt durch vielfältige Sinneseindrücke, machen sich Erschöpfungszustände bemerkbar; die Aufnahmefähigkeit geht merklich zurück.

Masse und Anonymität

Menschenmassen formen die Psyche. Unsere persönliche Zuwendung gilt stets nur der einzelnen Person, niemals der anonymen Vielheit; sobald sich persönliche Gesichter in der abstrakten Menge auflösen, leidet das spezifisch Menschliche. Dieses äußert sich in Empathie, das ist die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, sich mit ihm zu freuen oder zu leiden. Empathie ist die Grundlage von Zivilisation und Kultur schlechthin. Der Messebetrieb hat daran erinnert: anonyme Menschenansammlungen verlangen Verhaltensstrategien vom einzelnen, die völlig andersartig sind als jene Eigenschaften, die in kleinen, natürlich entstandenen Ordnungen Gültigkeit besitzen. Die besten Voraussetzungen für Persönlichkeits- und Charakterbildung bieten kleine, überschaubare Gemeinschaften, wie die Familie oder dörfliche Gemeinden.

He, du da! Du mit dem roten Pulli!

Vor vielen Jahren schrieb ich über die damals landauf, landab neu eingerichteten Schulzentren einen Beitrag, welcher in der illustrierten Zeitschrift „Brigitte“ veröffentlicht wurde und viel Resonanz hervorgerufen hat. Ich war damals eine junge Lehrerin an einer fünfzügigen Sekundarstufenschule. Das Gebäude glich einer abweisenden Festung. Es thronte auf einem Hügel am Ortsausgang. Vom Tal aus erblickte man zuerst die fensterlose, graue Sichtbetonwand, ein Symbol für die steinerne Wehrhaftigkeit der Einrichtung. Dahinter tobte förmlich das Leben – ein künstliches, lautstark und verzweifelt um Anerkennung ringendes Leben! Mich hat das damals zutiefst verstört, denn meine Erwartungshaltung war eine andere gewesen.

Wie jeder junge Mensch war ich mit glühenden Idealen in den Lehrerberuf gegangen. Doch bald kam die Ernüchterung. Zwischen den einzelnen Schulstunden bewegte sich eine Horde von Schülern durch die Gänge wie eine Völkerwanderung auf der Suche nach neuem Land. Der einzelne Lehrer fand sich wie ein Stück Treibholz inmitten dieser wabernden, dröhnenden Masse, konnte den Übermütigkeiten und Aggressionen von Pubertierenden wenig  entgegensetzen. Dieses Wenige, eigentlich ein Nichts, kann man mit den Worten zusammenfassen: „He du da! Ja, du, mit dem roten Pulli, dich meine ich!“ Aber da waren etliche rote Pullis. Nun begann ein sich stets wiederholendes Spiel. Die „Roten“ drehten sich theatralisch um die eigene Achse, der Angesprochene mit ihnen. Mir dämmerte damals schon, daß meine Hilflosigkeit nicht etwa aus einer pädagogischen Unfähigkeit heraufstieg, sondern einem systembedingten Mangel zuzuschreiben war. Hier gab es kein Oben und kein Unten, keine Täter und keine Opfer, kein Gut und kein Böse. Es gab überhaupt keine Ordnung, denn hier regierte die amorphe Masse. Die Masse hat kein Gesicht.

Wo es echte Gemeinschaft gibt

In der Gemeinschaft kleiner Einheiten gehört zu jedem Pulli ein Gesicht, zu jedem Gesicht ein Name und zu jedem Namen eine persönliche Verantwortung. Man kennt einander. Der Umgangston ist ruhig und freundlich, da genügend Zeit zur Verfügung steht, um sich auf den anderen einzulassen. Im Schulzentrum auf dem Hügel hingegen herrschte ein erbitterter Kampf der zahlreichen Namenlosen gegen das undurchsichtige Geflecht von Normen und unverstandenen Regeln. Der Angriff richtete sich naturgesetzlich gegen die Repräsentanten des Netzwerks. In der Auseinandersetzung mit der anonymen Masse erleidet der Lehrer zwangsläufig schmerzhafte Niederlagen. Er ist derjenige, der im Gegensatz zum vielköpfigen Gegner ein Gesicht besitzt, und einen Namen.

Wer hat sich das ausgedacht? Können Sparmaßnahmen dies rechtfertigen? Ach, all die schönen Reden, denen man in Köln während der Didacta 2010 allerorten und zu jeder Tageszeit lauschen konnte! Diese Reden kamen aus dem Munde von Männern und Frauen, welche die gültigen Rahmenbedingungen im Alltag der Schule politisch durchgesetzt haben. Und während sie das eine tun, reden sie anders. Durch die Mikrophone großer Verlage, Verbände oder sonstiger Institutionen verkünden sie die schöne, heile Schulwelt, die man nunmehr zu verwirklichen sich anschicke. Sie sind voller Lob und Freude. Noch einige wenige Reformen, und alles werde gut. Reform, Reform, seufzte da manch einer. Sind die Dinge nicht schon schlimm genug?

„Bildung“ für Krippenkinder

Noch ein Zweites hat mich auf dieser Bildungsmesse nachdenklich gemacht. In Halle 7 waren die Aussteller für Vorschulpädagogik untergebracht. Seit die Schülerzahlen bei uns rückläufig sind, suchen freigewordene Kräfte nach neuen Arbeitsfeldern. Nun bringen sie Bildung zu den Allerkleinsten. Krippenkinder sollen diese durch staatliche Stellen eingeflößt bekommen wie Muttermilch. „Bildung in der Krippe ist möglich!“ jubelt ein Transparent. Welch seltsame Vorstellung von „Bildung“ liegt diesem Satz zugrunde!

Und schon ist „Bildung“ als Voraussetzung für das Gedeihen eines Krabbelkindes in aller Munde. Wie wird dies bewerkstelligt? Salopp gesagt, ruht diese „Kleinkinderbildung“ hauptsächlich auf den Säulen Beobachtung, Dokumentation und Evaluation. (Der Deutsche, so wird gelästert, diskutiert lieber über den Himmel als daß er dort hineinkommen möchte ...) In besagter Halle 7 blätterte ich in einer zum Kauf angebotenen Mappe für die Praxis der Kleinkindbetreuung (es gibt Dutzenderlei Ausführungen solcher Mappen, von verschiedenen Anbietern). Schritt für Schritt erfolgt minutiös die Anleitung zur Erstellung von „Portfolios“ über das Lern- und Sozialverhalten von Krippenkindern. Allein der Begriff „Portfolio“ beeindruckt. Dabei heißt „Portfolio“ nichts anderes als Sammelmappe. In dieser Sammelmappe werden nicht nur „Lern“fortschritte der Krabbelkinder dokumentiert, sondern auch das etwaige „Fehl“verhalten oder sonstige Abweichungen von einer angenommenen Norm.

Dokumentation heißt weniger Zeit für Kinder

Soll die „Krippengärtnerin“ ihre Zeit dazu verschwenden, statistisch tätig zu werden? Soll sie ihre Aufmerksamkeit dem zweckgebundenen, rein bürokratischen Akt widmen, der das „Bildungsverhalten“ des Krabbelkindes dokumentiert? Soll sie Tabellen ausfüllen und Strichlisten führen? (An Schulen hat sich das Dokumentations- und Bewertungsunwesen bereits seit längerem etabliert.) Ist uns klar, was dies bedeutet? Die beobachtende Person steht außerhalb des gemeinsamen Tuns, das beobachtete Kind wird zum Objekt. Dokumentieren löst die Einheit des Erwachsenen mit dem Kinde auf. Man stelle sich vor, wie eine Aufsichtsperson mittels „Stoppuhr“ ermittelt, welche quantitativen und qualitativen Veränderungen im kindlichen Verhalten innerhalb welcher Zeitspannen wahrnehmbar sind. Die Notizen macht, wenn das Kind lacht oder weint. Die zählt, wie oft es in die Windeln macht. Flüchtige Notizen müssen natürlich in Form gebracht werden. Zu welchem Zeitpunkt erfolgt die Reinschrift für das „Portfolio“? Zu Hause in der Freizeit? Am Abend? Am Sonntag? Oder doch vor Ort während der Arbeitszeit?

Ich kann mir vorstellen, wie eine Mutter aus Freude an ihrem Kind ein individuelles, von Liebe diktiertes Tagebuch führt, es mit Fotos und Zeichnungen ergänzt und dieses persönliche Dokument der Wertschätzung dann der Tochter oder dem Sohn zum 18. Geburtstag schenkt. Wie aber soll dies eine professionelle Fachkraft leisten, die den Job des notwendigen Broterwerbs wegen tut? Da mag sie noch so gewissenhaft arbeiten, emotionell wird sie niemals die Stelle der Mutter einnehmen können, zumal sie ihre Aufmerksamkeit zwischen mehreren Kindern aufteilen muss. Wenn das Arbeitsplatzprofil nun Beobachtung, Bewertung und Evaluation verlangt: wie kann sich eine Betreuerin unvoreingenommen auf die kindliche Seele einlassen? Haben wir alle zusammen den Verstand verloren, wenn wir glauben, so etwas täte uns allen gut?

Was ist zu tun?

Vielleicht nehmen Sie den tröstlichen Gedanken mit, daß wir diesen negativen Veränderungen im Schul- und Kindergartenalltag nicht hilflos gegenüberstehen. Es kommt auf uns selbst an und auf die Bereitschaft, kritisch zu denken und noch kritischer zu handeln. Die Bürokratie mit ihren Anordnungen, papierenen Pflichten und kalten Mechanismen der Gleichschaltung gilt es zurückzudrängen, so gut es eben geht. Im Alltag ist es jedem von uns möglich, rings um uns herum eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Schaffen Sie einen Raum, in welchem man einander gegenseitig in die Augen schaut, statt diese auf ein Blatt Papier mit Tabellen und Kästchen zu richten, während die Hand einen Stift führt.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Johannes G. Klinkmüller

Erstaunlich eigentlich, dass Kinder bei unserer Portfolio-Bildung noch so normal aus der Schule kommen.

Mit Ihrem Vergleich, dem von der Mutter geführten Tagebuch, haben Sie es auf den Punkt gebracht, dass es eben in der Bildung immer um etwas geht und gehen wird, was sich von Mensch zu Mensch abspielt.
Ein Post von Ihnen, der gut tut; schön, dass Sie mit dem Herzen sehen.

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