Deutschland 1910/11: Internationale Lage und quantitative Heeresrüstung.

Das Jahr 1910 bezeichnet eine bündnispolitisch offenere Situation in Europa, als unter dem Siegel des Blockdenkens bisher gesehen. Der neuernannte britische Botschafter in Berlin, Sir Arthur Goschen, suchte, über den Reichskanzler Bethmann Hollweg, die seit 1908 mit „Invasionsfurcht“ und Navy Scare angespannten Beziehungen zwischen Deutschem Reich und Großbritannien zu verbessern.

Veröffentlicht:
von

INHALT

Einleitung

33 – Englands imperiale Befähigung schwindet.

       - Goschen und die Administration Bethmann Hollweg.

34 - Lagebild des Generalstabs in Berlin.

35 – Generalstäbe: äußerste Zuspitzung der Pläne.

        - Ostaufmarsch: Frankreich muß neutral sein.

        - Österreichischer Generalstab gegen Politik Ährenthals.

36 – Kooperation zwischen politischer und milittärischer Planung.

37 - Conrad plant: Italien, Montenegro, Serbien und Rußland.

        - England.

        - Rußland.

        - Russische Schwerpunktverlagerun

        - Risiko der Schlacht mit verkehrten Fronten.

        - Moltke fordert österreichische Offensive in Polen.

        - Pizzikato der österreichischen Planung.

      - Unklar: Rückverlegung des russischen Aufmarsches.

      - Flankierender ebel: die Insurrection Polens.

38 - Informationsstand in Berlin.

39 – Conrad: Tauziehen um 10 Divisionen.

      - Der Große Ostaufmarsch 1910/11 (Kesselschlacht in Polen).

       - Russen zur Offensive verleiten.

40 - Schlaglicht Marokkokrise 1911: England nun Hauptgegner.

       - Das militärische Berlin: Abrechnen mit England.

       - Deutscher Operationsplan gegen Belgien, Frankreich, England.

       - Österreich tritt auf die Bremse.

       - Goschen sucht den Ausgleich.

       - Berlin kritisches Kalkül. Machtfaktor Türkei. Ausgleich mit Rußland?

        - Kriegsentschluß bereits im Dezember 1911? Zusammenarbeit zwischen Reichskanzler,   Generalstab und Kriegsministerium.

41 – Inspizient des Pionierkorps Mudra: Strategisch keine Probleme.

        - Im Westen wie im Osten: Eventuell Zurückgehen bis auf Rhein und Oder.

42 – Die Wende Ende 1911: Der Kriegsminister für die Nachrüstung.

        - Blick zurück.

        - Folgen der Marokkokrise.

        - Hochrüstungsphase in Europa.

         - Kritik Repingtons als Katalysator.

43 - Moltkes Rüstungsprogramm: Kriegswille, Abstimmung, Entschluß.

       - Zunehmender Offensivgeist.

       - Einfluß der Kritik Repingtons.

       - Das Bild der Blöcke.

       - Krieg mit Frankreich/England leistbar.

- Die türkische Armee - Ass im Ärmel Berlins.

       - Operationsziel: das britische Empire.

       - In Armenien gegen Rußland.

       - Das Resümee Moltkes.

       - Rußland - quantitativ überlegen.

       - Die britischen BEF in Belgien.

       - Frankreich.

       - Belgien, Holland, Schweiz.

        - Kurswechsel in Berlin: Grundsätzliche Reform der Armee.

          - 1.10.1912: Armee kriegsbereit.

 

Einleitung.

Das Jahr 1910 bezeichnet eine bündnispolitisch offenere Situation in Europa, als unter dem Siegel des Blockdenkens bisher gesehen. Der neuernannte britische Botschafter in Berlin, Sir Arthur Goschen, suchte, über den Reichskanzler Bethmann Hollweg, die seit 1908 mit „Invasionsfurcht“ und Navy Scare angespannten Beziehungen zwischen Deutschem Reich und Großbritannien zu verbessern.

Aufmerksam verfolgte der Generalstab in Berlin die gesamteuropäische diplomatisch-militärische Entwicklung. Dass sich die Gewichtung innerhalb der Reichsleitung zugunsten von Generalstab und Reichskanzler verschoben hatte, entnahm Goschen verschiedenen Unterredungen mit dem Kaiser, dessen Position seit der Daily-Telegraph-Affäre geschwächt war. Auch gegenüber dem verbündeten Österreich-Ungarn übernahm Moltke seit 1909 die Rolle eines Militärdiplomaten, indem er mit dem österreichischen Generalstabschef Conrad von Hötzendorff detaillierte Erwägungen und Beschlüsse zu den künftigen Handlungen der deutschen und österreichischen Armeen in einem zukünftigen Krieg anstellte; und das übergreifend für den gesamteuropäischen Raum. Dass die strategische Lage des Dreibundes (unter Einschluss Italiens) keineswegs komfortabel und entspannt war, führte zu äußerst zugespitzten strategischen Machiationen. Keinesfalls aber führten diese zu dem oft behaupteten Automatismus der Bündnisverpflichtungen im Spannungsfall. Also einer Abkoppelung des militärischen Apparates von der politischen Leitung und deren Einfluss. Das wird deutlich an der inneramtlichen Diskussion um die kombinierten Operationen der deutschen und österreichischen Armeen in Russisch Polen. Bis ins Detail erörtern Moltke und Conrad über die Jahre die Möglichkeiten eines Zusammenwirkens gegen die zwischen Warschau und Brest versammelt erwarteten russischen Kräfte.

Dass die Administration Ährenthal keineswegs einer kriegerischen Lösung der Spannungen zwischen Österreich und Russland zuneigte, mag nur ein weiterer Hinweis sein wie offen die europäische bündnispolitische Situation in Wien verstanden wurde. Gern wurde bisher behauptet, diese habe sich einseitig, zielgerichtet auf den Kriegsausbruch von 1914 hinentwickelt. In Berlin ist ablesbar, dass Berliner Generalstab und Reichskanzlei immer stärker zusammenarbeiteten. Der Generalstab setzte einer freien Presseberichterstattung über militärische Fragen Grenzen. Es wurden zentrale Fragen der Kräftegliederung im Kriegsfall bearbeitet, wie zum Beispiel jene der Verwendung von Reservekorps in erster Linie, neben den aktiven Armeekorps. Was zu einer wesentlichen Stärkung der deutschen Armee im Westfeldzug gegen Belgien und Frankreich führte; und, neben dem Durchmarsch durch die Ardennen, die französische Heeresleitung 1914 überraschte. Detailliert wurde ferner der Kampf um Festungen überarbeitet und so die Grundlage für ein rasches Durchschreiten Belgiens mit Kriegsbeginn geschaffen.

Im Verlauf des Jahres 1910 entwickelte der österreichische Chef des Stabes eine Operationsplanung, analog der deutschen. Beide Staaten führten einen Zweifrontenkrieg. Österreich stand sogar zwischen Italien im Westen, Russland im Osten, und dem Balkan. Alles lief auf die zeitlichen Vorgaben der den Krieg auslösenden Krise hinaus. Kompliziert wurde zunehmend der Operationsplan der deutschen und österreichischen Kräfte im Osten durch eine Schwerpunktverlagerung der russischen Gesamtkriegsführung zwischen Ostasien (Japan) und Europa. Schlussendlich die Einrichtung einer „Centralarmee im Wolgagebiet“.

Im Einzelnen galt es zu einer Abstimmung der deutschen und österreichischen Anstrengungen zu gelangen, hinsichtlich des Kräfteaufwandes und schließlich der zu ergreifenden Aktionen am Narew, wie zwischen Krakau und Lemberg. So kam Wien zu einem äußerst gewagten offensiven Vorgehen in Südpolen gegen die inneren Flügel der russischen Aufstellung. Gefordert war vor allem ein rascher Aufmarsch, der den Russen zuvorkäme; und ein entschlossenes Ausnutzen punktueller zahlenmäßiger Überlegenheit. Chancen hatte dieses Vorgehen, solange die russische Führung den Aufmarsch nicht auf Brest zurückverlegte. Diese Lagebeurteilung erforderte zugleich rasche politische Entscheidungen, die es jedoch 1908/09, und augenscheinlich auch 1910, nicht gab. Eine Revolutionierung Polens war zudem ins Auge gefaßt. Benötigte jedoch bereits im Frieden stringente Vorbereitungen.

In Berlin wurde noch bis 1914 mit einer italienischen Armee am Oberrhein geplant und erschien in der öffentlichen Meinung Europas ein deutscher Durchmarsch durch Belgien als selbstverständlich. Der Große Ostaufmarsch war allerdings für einen Moment ernsthaft umstritten, als es darum ging, dass 1910 Moltke bereits von lediglich 8 deutschen Divisionen östlich der Weichsel spricht. Was natürlich den energischen Widerspruch Conrads herausforderte. Die Angaben schwankten außerdem zwischen 32 und 43 Divisionen zwischen Thorn/Graudenz und Allenstein. Moltke sagte schließlich, für den Fall eines deutsch-österreichisch-rumänischen Krieges gegen Russland 43 Divisionen (21 Armeekorps) zu.

Mitte 1911 vertrat Berlin einen russischen Ost-West-Vorstoß in Richtung Posen und die Zangenoperation, aus Ostpreußen und Galizien, in die linke und rechte Flanke des russischen Aufmarsches. „Schlagartige Erfolge“ seien so zu erreichen. Selbst die russische Zentralarmee sollte so aktiviert werden. Auch Conrad erwartete die russischen Kräfte in Polen 1911 aktiv; anders als 1812.

Im Zuge der Marokkokrise des Sommers 1911 fanden in Berlin intensive militärische Gespräche statt, die zeigen, wie sehr künftig der Generalstab auf den Krieg mit England eingestimmt war. Moltke und Kiderlen beabsichtigten England über Marokko zum Krieg zu zwingen, um dieses auf dem Festland zu treffen. Der Generalstabschef erklärte sich österreichischen Gesandten, die auf der Höhe der Marokkokrise mit dem Generalstab Kontakt suchten, geradezu demonstrativ als Englandgegner (wie sein Freund Colmar v.d.Goltz-Pascha, der Ausbilder und Ausrüster der türkischen Armee). Berlin war offensichtlich von der Kampfkraft der 700.000 türkischen Bajonette überzeugt und setzte gegen England ganz auf die Speerspitze des Osmanischen Reiches gegen das britische Empire in Ägypten, am Suezkanal, Euphrat und Tigris wie in Basra und Kuwait. So konzentrierte sich nun der deutsche Kriegsplan, um den 1. September 1911, in erster Linie auf Frankreich, Belgien und England.

Eine Kriegshysterie in Frankreich und Deutschland war im Begtriff sich zu entwickeln. Franzosen wie Deutsche erwarteten vom jeweils anderen militärisch überfallen zu werden. In dieser Situation trat Österreich auf die Bremse. Marokko bildete, nach dem Zweibundvertrag von 1879, wie 1905 in Algeciras, für Wien jedoch keinen Kriegsgrund. Der britische Botschafter in Berlin sucht während eines Besuches auf Schloss und Gut des Reichskanzlers, in Hohenfinow, die bestehenden Spannungen auszuräumen. Er verfolgte den richtigen Weg, denn Bethmann Hollweg führte die deutsche Politik - und niemand anderer.

Einmal war schwierig zu entscheiden, ob die Türkei stark genug sei, einen Machtfaktor gegenüber England und Russland zu bilden. 1910/11 waren sich die Londoner Außenpolitiker durchaus nicht sicher, ob Russland fest an der Seite Englands stehe, Belgien nicht doch deutschfreundlich reagiere, und selbst Frankreich im Falle des Falles wackele.

Als äußerst aufschlußreich für das konsequente miltärisch fachliche Denken in Berlin stellt sich eine Denkschrift des Goltz-Vertrauten, und Nachfolgers auf dem Posten des Chefs des Pionierkorps und des Festungswesens, Mudra, heraus. Sowohl im Osten wie Westen wird hier ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es in der Anfangsphase des Krieges im Westen, wie im Osten möglich sei, dass die Armee bis zum Rhein, bzw. bis zur Oder ausweiche. Für den Osten bedeutete das eine weitere Ausgestaltung der Festungen an der unteren Weichsel wie der mittleren und oberen Oder. Flankiert wurden diese technischen Vorbereitungen durch grundsätzliche Schwenks in Kriegsinisterium und Generalstab. Eswird deutich, dass bereits die Administration Heeringen sehr viel weiter im Hinblick auf die zahlenmäßige Verstärkung der Armee gehen wollte, als dies bisher bekannt ist. Bereits 1911 wird damit bis hart an den Kriegsentschluß herangegangen. Keinesfalls wollte sich Berlin überrüsten lassen und wurde darin, bezogen auf die Armee, durch die harsche Kritik des Militärkorrespondenten der Times, Oberst a.D. À Court-Regington bestärkt, der die deutsche Armee im Kaisermanöver 1911 in Vorpommern als antquiert und überholt, als Armee zweiten Ranges, darstellte.

Der alljährlichen Tradition (wohl seit 1903), in einer militärpolitischen Denkschrift dem Reichskanzler die allgemeine Lage, und daraus folgende Maßnahmen zu entwickeln, folgte Moltke erst Recht im Herbst 1911. Angesichts der zunehmenden Kriegslust in Europa schloß der Chef, ein begrenzter Krieg à la 1911 werde leistbar sein. Doch ein Problem werde der umfassedere Kriegsfall mit den Westmächten plus Rußland darstellen. Ein Ausweg schien mit dem Erstarken dert ürkischen Armee gegeben. Dies vor allem, weil nun England als der eigentliche Gegner erkannt war. Auch gegen Rußland, in Armenien, schienen die deutsch ausgebildeten Türken hilfreich. Mehr als zuvor war die quantitative Überlegenheit des West-Ost-Bündnisses durch die russischen Armeen in Polen bestätigt. Dem sollte, durch eine umfassendende, auch zahlenmäßige, Heeresvermehrung entsprochen werden. Allerdings, von Angst und Schrecken in Berlin (Dieter Groh, 1974 und Stig Foerster): keine Spur!

                                                          _______________ 

  33 – Englands imperiale Befähigung schwindet.

   Die englische Regierung, die Liberalen, verloren in der allgemeinen Wahl vom Januar 104 Sitze an die Konservativen. Ihre bedeutende Mehrheit von 102 Stimmen schmolz auf zwei. Der Premierminister Asquith bezeichnete das königliche Veto, das seit 1707 nicht mehr eingesetzt wurde, als "buchstäblich so tot wie Königin Anna". Lloyd George blieb zu diesem Vorgang, Zeit seines Lebens, der Überzeugung, dass, hätten die Parteimaschinerien seine Vorschläge befolgt, es weder zur Revolution in Irland, noch zum Krieg mit Deutschland gekommen wäre. Dennoch war die außenpolitische Bedeutung König Georgs V. beträchtlich. Seine Reisen und Unterredungen mit Gesprächspartnern, Souveränen und Politikern auf dem Kontinent hätten, in weniger kundigen Händen, auch weniger erfolgreich ausfallen können. Die Wirkung Georgs V., in seiner Zeit, wurde, in deren Zwischentönen, etwa so gefaßt wie hier bei Nicolson:

"Die Regierungszeit der Königin Victoria kann man als eine Periode stetig wachsender Stabilisierung bezeichnen. Die Zeit König Eduard VII. war ein Zwischenakt verschwenderischen Reichtums und unangefochtener Macht. Unter König Georg begannen die Grundlagen dieser Stabilität zu wanken, schwand unsere Macht  und unsere Prosperität und traten neue Kräfte auf den Plan, die binnen einem Vierteljahrhundert die Struktur der ganzen Welt veränderten" (Hervorh.v.m., B.S.).

König Georg V., so wird allerdings bestätigt, habe dieser - "stets schlau und hellhörig und von klarerem Blick, für die den Ereignissen zugrunde liegenden Tendenzen, als manche seiner Minister" - dennoch nicht die Kraft besessen, das gespaltene Inselreich und erst recht nicht den gespaltenen Kontinent zusammenzuführen.

  Großbritannien befand sich Anfang des Jahres 1911 in einer ernsten innenpolitischen Krise. Die inzwischen organisierten Eisenbahner drohten mit Streiks. Im Herbst 1910 waren diese in den Tälern von Rhonda und Aberdare ausgebrochen. Ausschreitungen begleiteten die Ausstände. Im Januar brach auch in der Sydney Street/Eastend London eine Schlacht zwischen den Scots Guards und Anarchisten aus. Churchill lugte, trotz Ministeramt, um die Ecke von Sydney Street. Georg V. machte ihn später darauf aufmerksam, dass dies nicht zu den Pflichten eines Ministers gehöre. Weitere Streiks in der ersten Jahreshälfte der North-Eastern Eisenbahn, der Seeleute-Gewerkschaft, wie der Dock- und Transportarbeiter, veranlassten die Mobilisierung von Truppen aus York für Manchester.

   864 Streiks mit 1 Million Arbeitern. Es gingen 1911 101/4 Millionen Arbeitstage verloren. Die gesamte Garnison von Aldershot wurde nach London verlegt. Das Parlament stellte Schutzleute ein. Die Büchsenmacher von St.James Street und Pall Mall verkauften binnen 48 Stunden ihre gesamten Bestände an Revolvern. Dem Eingreifen von Lloyd George, und dessen Einfluss auf den Chef der Eisenbahnergewerkschaft, Thomas, war es zu danken, dass von England "ein so schweres Unglück", wie es ein Streik dieses Ausmaßes bedeutet haben würde, ausblieb. So gestaltete sich die innere Lage in Großbritannien Anfang des Jahres 1911. Eine Szene, die in der deutschen Historiographie bislang kaum gewürdigt wurde.

   - Goschen und die Administration Bethmann Hollweg.

Goschen berichtete vor diesem Hintergrund am 1. Januar über sein Gespräch mit dem Kaiser, das anlässlich einer "Gala" im Stadtschloss stattgefunden habe. Wilhelm II. bemerkte gegenüber dem britischen Gesandten:

"He bullied me about the Speeches in England - and said ‘Not much of the Peace and Good will over there such as we expect at this Season. You have all gone mad and you seem to think that I am always standing with my battle-axe behind me waiting for an opportunity to strike’. He said what amazed him most was that the worst speeches were made by the Upper Classes. I told him that I had already been scolded by the Chancellor - on which he clapped me on the shoulder and said ‘I am glad he did scold you - he is very angry’"(Hervorh.v.m., B.S.).

Es ging um die deutsch-englischen Beziehungen in der Amtszeit Bethmann Hollwegs, welche sich auf Talfahrt befanden. Doch mit dem Tod König Eduard VII. wurde in London eine neue Parole ausgegeben. Der neue König informierte Goschen,

"he should do his best to keep up the best private and public relations with Germany. But he didn’t seem keen about a definite understanding on German lines!" (Hervorh.v.m., B.S.).

Zu Beginn der Urlaubszeit verfehlte Bethmann Hollweg nicht, Gerüchte um den neuen Staatssekretär des Auswärtigen, Kiderlen-Wächter, gerade zu rücken. Er versicherte Goschen:

"Don’t you trouble about Kiderlens’s sentiments - it is I that directs the Imp’l For[eign]. policy – ‚et c’est moi qui inspire les sentiments’ (Hervorh.v.m., B.S.).

Goschen begann sich in der Folge der Aufgabe zu unterziehen, seinen wichtigsten Gesprächspartner in Berlin zu erforschen. Er vermutete, Bethmann Hollweg werde versuchen, die Bülowianer um ihn herum los zu werden, um Männer seiner Wahl heranzuziehen und

"to try to put into practice his theory of governing over the heads of the parties".

34 - Lagebild des Generalstabs in Berlin.

Parallel vermittelt ein Blick auf die Beziehungen der militärischen Stellen mit den politischen und zivilen, einen regen Austausch. So erreichten den Generalstab im Januar 1910 laufend Berichte zu Marschall [der deutsche Botschafter in Konstantinopel], der offenbar beim Auswärtigen Amt auf eine deutsch-türkische Militärkonvention dränge. Auch betreffend Vorgänge in Griechenland. Die meisten dieser Berichte gingen an das Militär Kabinett zurück oder verblieben (wenn nicht anders angemerkt) beim Chef des Generalstabes. Dazu kommen Berichte der Mililitär Attachés, die direkt über alle möglichen Dinge (z.B. Besuche des Kaisers in der Schweiz) handen. Die politische Rolle des Generalstabs mag deshalb seltsam überhöht erscheinen. Dass Moltke seinerseits den Kontakt zum Admiralstab hielt, zeigte dessen Schreiben an den Chef des Admiralstabes. Der Stabschef kündigte die Absicht an, die große Generalstabsreise des Jahres 1910 in Schleswig-Holstein abzuhalten.

   Dass der Kaiser andererseits durch die Folgen der Daily Telegraph- und Hale Interview-Affären politisch und persönlich äußerst mitgenommen war, infolgesessen an Abdankung dachte, und der Kronprinz und die Kaiserin bereits Morgenluft witterten, ist unbestritten. Goschen bestätigt in dessen Tagebuchnotizen diese Entwicklung und erweiterte das Bild vom eigentlichen Machtzentrum in Berlin, indem er Wilhelms II. dunkle Äußerung vom 27. Januar wiedergibt, die ahnen lässt, was hier tatsächlich in der Machtzentrale vorging. Goschen berichtet:

"Then he scolded me again for the speeches in England and w’d not listen when I wanted to tell him that it was more admiration for Germany’s activity and strength than abuse. Then he uttered the cryptic phrase ’I am not the strong man - that is someone else!!’ I don´t know to this minute what he meant" (Hervorh.v.m., B.S.).

Eine Andeutung, die in direktem Zusammenhang mit dem neu berufenen, sehr viel stringenteren Reichskanzler, und dessen Verbindung zum Generalstabchef, verstanden werden könnte. Wie zerrissen Wilhelm II. über die Jahre war, illustrierte seine Äußerung wenig später, wenn er sich über das vorgebliche Ende des deutsch-englischen "Navy Scare" äußerte. Der Kaiser beklagte gegenüber Goschen,

"that he had during 22 years striven to be England´s best friend - and that no one in England ever seemed to believe it. He couldn’t understand the English he felt inclined to ask them in the words of the old song ´Oh Juliar - Oh Juliar - why are you so peculiar?´!!" (Hervorh.v.m., B.S.).

35 - Generalstäbe: äußerste Zuspitzung der Pläne.

Der österreichische Generalstabschef, Conrad von Hötzendorf, eröffnete Anfang Januar Verhandlungen mit Moltke, die auf einer neuen Ebene höherer Intensität der planerischen Vorarbeiten abliefen. Obwohl „die Verhältnisse“ für die verschiedenen Kriegsfälle „im Allgemeinen und Wesentlichen die gleichen geblieben“ seien, gelangte der Österreicher, unter sorgfältiger Abwägung der möglichen Fälle, im Einzelnen zu der Erkenntnis, die Bedeutung der Türkei nehme bedeutend zu, Rumäniens Teilnahme auf Seiten Österreichs und Deutschlands sei nahezu unverzichtbar und mit Italien als Gegner sei in jedem Falle zu rechnen. Das wurde als Begründung dafür angeführt, dass von österreichischer Seite nunmehr „auch der[n] Kriegsfall gegen Italien in Betracht gezogen“ werde. Aus der Disposition „Italien, Serbien und Montenegro“, unter gleichzeitiger Neutralität Rußlands und Frankreichs, leitete Conrad den günstigsten Fall „Balkan“ für Österreich her. Die Erwartungen des Wiener Stabschefs, Japan würde Rußland in Ostasien fesseln, erscheinen zu diesem Zeitpunkt in Wien als recht entscheidend eingestuft. Der Fall „Italien, Serbien, Montenegro und Russland“ gegen Österreich erfordere selbstverständlich das Eingreifen Deutschlands, so Conrad gegenüber Moltke. Der österreichische Chefstratege ergänzte:

„Deutschland tritt im Sinne des Vertrages vom Jahre 1879 an die Seite der Monarchie und löst damit auch das kriegerische Eingreifen Frankreich’s aus. So wie in diesem Falle, nach den geschätzten Mittheilungen Euer Exzellenz; Deutschland seine Hauptmacht vorerst gegen Frankreich wende,- gegen Rußland aber nur secundäre Kräfte (13 Divisionen) belassen würde,- um erst nach einem durchgreifenden Erfolg gegen Frankreich gegen Rußland die Entscheidung zu suchen – würde analog unsererseits mit der überwiegenden Hauptmacht ein Erfolg zuerst gegen Italien angestrebt werden, um erst nach einem solchen sich gegen Russland zu kehren“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Wie der deutsche, so disponierte auch der österreichische Generalstab augenscheinlich unter äußerster Zuspitzung seiner Planungen. „Auch gegen Russland“ stellte Conrad „nur 5 Inf[an]t[erie].- Divisionen erster Linie..., Alles in Allem 9 ½ Inf[an]t[erie]., 4-6 Cav[allerie].Div[isio]nen)“ in die Rechnung „Galizien“ ein. Diese Kräfte würden natürlich „einer groß angelegten russischen Offensive ...nicht“ widerstehen können. Vorgesehen wurde daher,

unter möglichster Verzögerung des feindlichen Vorrückens, über die Karpathen zurückzugehen und zwar mit der bei Lemberg-Przemysl versammelten stärkeren Gruppe im Allgemeinen in der Richtung auf Budapest, mit der bei Krakau versammelten schwächeren Gruppe im Allgemeinen in der Richtung auf Wien“.

„Im äußersten Falle“ wurde die Verteidigung des Landes „an der Donau Strecke Wien-Budapest“ vorgesehen. Dort sollte

„die russische Offensive so lange zum Stehen gebracht werden, bis das Eintreffen der in Italien freigewordenen Hauptkräfte zu erfolgen vermöchte“.

Alles, was eine genauere Festlegung möglich mache, sei allerdings „dermalen“ nicht zugänglich. Ob ein derartiges Zurückgehen überhaupt notwendig, wie weit es ausgreifen würde und wann die „Hauptkräfte zum offensiven Rückschlag einzusetzen“ seien, war nicht abzusehen. Russlands Verhalten sei hierfür entscheidend. Dafür seien, so Conrad, die Rückverlegung des russischen Aufmarsches“ und dessen „Sorge um seinen ostasiatischen Besitz...Momente, welche dem raschen Wirksamwerden einer russischen Offensive“ entgegenstünden. Ein derartiger Kriegsfall erschien dem Wiener Stabschef als „recht schwieriger, wenn auch im Enderfolg durchaus nicht hoffnungsloser“. Infolgedessen aber forderte er von der Diplomatie, „einer solchen Constellation vor[zu]beugen“.

   Am 30. Januar bestätigt Moltke dem österreichischen Generalstabschef die im Jahre 1909 getroffenen Vereinbarungen als weiterhin bindend. Diese seien "den diesjährigen Mobilmachungs-Vorbereitungen...zu Grunde gelegt worden". Er unterstreicht die ebenfalls von Conrad hervorgehobene Bedeutung der Türkei in einen Balkan- wie einem allgemeinen europäischen Konflikt

"bei einem Kriege der Monarchie auf dem Balkan, (sondern) auch bei einem solchen der Verbündeten gegen Rußland und eventuell Frankreich".

Moltke sucht die Türkei dem österreichischen Generalstabschef nahe zu bringen, und betont deren Bedeutung auch in einem Balkankrieg. Moltke erläutert:

"Zwar sind die Verhältnisse in Constantinopel noch zu wenig geklärt, um die türkische Armee als sicheren Faktor in die militärischen Erwägungen einstellen zu können, aber ich glaube bestimmt, daß auch ohne formelle vorherige Abmachungen der Selbsterhaltungstrieb die Türkei in einem auf dem Balkan ausbrechenden Kriege an die Seite Oesterreich-Ungarns führen wird".

Den so gewonnen "Kräftezuwachs" bezeichnet der Berliner Stabschef als "von nicht geringer Bedeutung". Für 1913/14 erwartet er die türkischen Streitkräfte als "vollwertig". Rumäniens Haltung erscheint ihm als zuverlässig. Herausragende Aufmerksamkeit widmet Berlin offensichtlich dem österreichisch-italienischen Verhältnis. Moltke betont, "das Verhalten Italiens" spiele

"für die Erwägungen der oesterreichisch-ungarischen Heeresleitung eine ähnliche Rolle, wie dasjenige Frankreichs für die Erwägungen der deutschen Heeresleitung".

- Ostaufmarsch: Frankreich muß neutral sein.

Der deutsche Chefplaner folgert:

"Sollten diese beiden Staaten bei einem Kriege der Verbündeten gegen Rußland sofort auf die Seite unserer Gegner treten, so würde die Lage, wenn auch ernst, doch klar und einfach sein" (Hervorh.v.m., B.S.).

Für diesen Fall plant Moltke den deutschen und österreichischen Angriff mit deren "Hauptkräften auf Frankreich und Italien. Gegen Rußland sollten von deutscher Seite 91/2 Infanterie-Divisionen und 4 bis 6 Kavallerie-Divisionen, von österreichischer Seite 13 Infanterie und 2 Kavallerie-Divisionen "ins Feld" gestellt werden. Das entbehrte nicht der Realität, da der russische Aufmarsch zurückverlegt und damit deren Operationsbereitschaft beträchtlich verzögert werde. Moltke erwartet, selbst mit diesem geringen Kräfteansatz könne "eine [deutsch-österreichische] Offensive unternommen werden". Die Überlegung, zunächst gegen Italien vorzugehen, erweitert Moltke um den Gedanken, es sei

„der Fall denkbar, dass beide Verbündete ihre Vorbereitungen gegen den für sie wichtigsten Gegner treffen, also Oesterreich-Ungarn gegen Italien, Deutschland gegen Frankreich“.

Für den Fall jedoch, diese Staaten blieben neutral, sieht Moltke die Gefahr, „Rußland mit seinem slawischen Gefolge“ bedrohe „inzwischen die Grenzen“; dann Frankreich und Italien den Krieg zu erklärten, um die Lage zu bereinigen, sei “aber aus rechtlichen, politischen und allgemein menschlichen Gründen nicht anwendbar“. Als Ausweg sieht der Stabschef daher,

„wenn der Krieg zwischen den Verbündeten und Russland als unausweichlich und unmittelbar bevorstehend angesehen werden muß, seitens der deutschen Regierung eine umgehende und völlig klare Erklärung von der französischen Regierung darüber gefordert wird, wie dieselbe sich bei ausbrechendem Kriege zu verhalten gedenkt. Diese Erklärung muß sofort erfolgen, denn die Entscheidung, ob die deutschen Hauptkräfte gegen Westen oder gegen Osten aufmarschieren sollen, duldet keine Verzögerung. Eine ausweichende oder zweideutige Antwort würde als gleichbedeutend mit der Kriegserklärung angesehen werden müssen.“ (Hervorh.v.m., B.S.)

Anzeichen für eine streng neutrale Haltung Frankreichs dagegen würden von deutscher Seite die Zusicherung zulassen,

„auch Deutschland [werde] keine Feindseligkeiten gegen dasselbe [zu] unternehmen, d[as].h[eißt]. die westlichen Grenzfestungen werden nicht armiert, und der Grenzschutz tritt nicht in Wirksamkeit. Die gesammte Armee wird zwar mobil gemacht, aber diejenigen Teile derselben, die nicht in erster Linie gegen Russland eingesetzt werden können, verbleiben zunächst mobil in ihren Standorten“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Eine Aussage, die, in dieser Konsequenz, ein wesentlich neues Licht auf die immer noch vorherrschende These vom Automatismus der Mobilmachungen wirft. Eingeschlossen war hiermit eine Ermutigung der Österreicher im Hinblick auf den Kampf mit Russland. Das bestätigt Moltke, wenn er fortfährt:

„Die vom deutschen Generalstabe getroffenen militärischen Vorbereitungen sind den vorstehenden Erwägungen gemäß so angeordnet, dass bei einer befriedigenden Neutralitätserklärung Frankreichs die für diesen Fall mit Eurer Excellenz verabredeten Truppenmengen sofort an die Ostgrenze abgefahren werden, während der Rest der Armee zunächst mobil im Bedarfsfalle nach Osten nachgezogen, oder alsbald gegen Frankreich eingesetzt zu werden, wenn dieses in seiner Neutralität schwankend werden sollte“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Ein tiefer Einblick in eine erhebliche Variationsbreite der operativ-strategischen Planung wird hiermit gewährt. Der Berliner Chefstratege betont nicht nur die gewaltige zahlenmäßige Unterstützung, die Österreich damit durch Deutschland zuteil werden könne, sondern verweist unmittelbar anschließend auf den unverbrüchlichen Willen des Reichs, zu den getätigten Zusicherungen zu stehen. Und dies trotz des Nachteils, dem „gefährlichsten Gegner – Frankreich – längere Zeit nur unterlegene Kräfte entgegenzustellen“. Moltke schließt an:

„Trotzdem habe ich diesen Aufmarsch ebenfalls bearbeiten lassen, um auch unter den ungünstigsten Verhältnissen den Verpflichtungen gegen unserem hohen Verbündeten nachkommen zu können“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Abseits aller, wie auch immer motivierten, Wünschbarkeiten auf österreichischer Seite betont Moltke, zum Abschluss seines Schreibens, die bedrohliche Lage und das lastende Gewicht einer Entscheidung für Krieg. Der Kriegsfall „Österreich-Ungarn-Deutschland gegen Russland und die Balkanstaaten, Frankreich und Italien“ werde „einen Kampf auf Leben und Tod bedeuten“. „Klare Verhältnisse“, „wer Freund und wer Feind ist“, seien vonnöten. Dafür zu sorgen, sei die „Pflicht der Diplomatie“. Doch diese Kriegskonstellation werde zu verhüten sein. Moltke stimmt damit der gleichlautenden Forderung Conrads zu.

- Österreichischer Generalstab gegen Ährenthals Politik.

   Der österreichische Außenminister pflichtet Conrads Tendenz, zu diesem Zeitpunkt bereits festzulegen, wer in einem Krieg mit Rußland als Freund oder Feind zu bezeichnen sei, nicht bei. Vielmehr sieht Aehrenthal "Rußland auf Jahre hinaus außer Stande..., eine aktive Politik zu führen". Auch scheint ihm kein Gegensatz zu Österreich und Deutschland gegeben; zumal die Verbündeten "konsequent darauf hinarbeiten" würden, "nach und nach mit Rußland freundschaftlichere Beziehungen anzuknüpfen" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Conrad unterstreicht, in seiner Antwort an den Berliner Chef am 23. Februar, daß die bisherigen Abmachungen zwischen Berlin und Wien gelten würden und schrieb, ganz im Sinne der österreichischen Interessen:

"Was das für den Fall eines Confliktes mit Rußland deutscherseits an Frankreich zu richtende Ultimatum anlangt um festzustellen ob sofort gegen Osten oder gegen Westen mit der Hauptkraft loszuschlagen ist,- so wird österr[eich].-ung[arischer].seits in diesem Falle Italien gegenüber der gleiche Vorgang eingehalten sowie überhaupt sowohl diplomatisch als militärisch nur im vollen Einklang mit Deutschland vorgegangen werde" (Hervorh.v.m., B.S.).

Conrad stimmt Moltke zu, damit die gemeinsame Auffassung betonend,  

"daß in dem Moment wo die Mobilmachung ausgesprochen wird, volle Klarheit darüber herrschen muß wer Freund und wer Feind ist".

   Am 8. April überbringt der deutsche Militärattaché in Wien, Graf Kageneck, ein Schreiben Moltkes an Conrad, in dem der Chef des Generalstabes die Mitteilung des rumänischen Attachés Hauptmann Ruscanu übermittelt, worin Bukarest signalisiert, die rumänische Armee werde nunmehr nach Bessarabien hinein offensiv an der Seite Deutschlands und Österreichs auftreten. "Das Erstarken der Türkei" entlaste Rumänien an der bulgarischen Front. Moltke kommentiert diese Entwicklung mit dem Bemerken, die Rumänen würden hoffen, "sich mit dieser Operation beim Friedensschlusse ein Anrecht auf Wiedergewinnung derjenigen Teile von Bessarabien" zu sichern, "die sie im Berliner Kongreß 1878" hatten aufgeben müssen.

 

36 – Kooperation zwischen politischer und miliärischer Planung.

  Auch im Jahre 1910 wird in Kontinuität "über die italienischen Mil[itär].Transporte" verhandelt. Am 22. April übersendet das Kriegsministerium einen Bericht des "Mil[itär].Bevollmächtigten[/] Petersburg über den russischen Heeresetat 1910". Auch das Schreiben des Militär-Attachés in Bukarest über eine Audienz beim König von Rumänien zu dessen "Stellung...zum Drei[er]bund" läuft am 8. Mai über das Kriegsministerium ein. Anfang Juli berichtet Moltke über die "kriegerische Verwendung von Ersatzformationen der Feldtruppen aufgrund der Erfahrungen des Winterkriegsspiels 1909/10 und der Gen[eral].stabs-Order [von] 1910". Der Schriftwechsel dazu erstreckt sich vom 5. bis 20. August. Mit dem Militärbericht Nr.96 wird am 20. September aus Brüssel "vor deutschen Zeitungsaufsätzen über die...belg[isch].- holländ[ische]. Neutralität" gewarnt. Es zeigt sich die "ungeheuerliche Wirkung von solcher Literatur in Belgien!" In der Kölnischen Zeitung vom 28. September wird "daraufhin auch die offizielle Antwort" gegeben in

"der die Diskussion für überflüssig und die Rede von deutscher Neutralitätsverletzung für ‚Verdächtigung’ erklärt wird (wohl vom Kriegsminister veranlaßt)"

Der Chef des Generalstabes bittet am 18. November das Kriegsministerium, "daß Erörterungen dieser Art unterbleiben". Daraufhin hält eine "Notiz des Referenten" im Kriegsministerium vom 12. Dezember zum "Op[erations].Plan" das "Einvernehmen mit [dem] Chef des Gen[eral].Stabs für dringend erwünscht". Es sollen künftig

"in der deutschen Presse Erörterungen...über [den] mutmaßlichen Verlauf künft[iger]. Kriege...vermieden werden(!!). [Das] Mil[itär].W[ochen].Bl[att]. und Neues Mil[itär].Bl[att]. sind verständigt".

   Mitte August 1910 kommt die "Anleitung für den Kampf um Festungen" (D.V.E. Nr.250) heraus. In einem Exemplar findet sich die handschriftliche Anmerkung zum Abschnitt "B. Angriff auf die Sperrfortline". Es geht in diesem "Beispiel" um den "Angriff der [deutschen] 4. Armee gegen die Sperrfort Linie der mittleren Maas (Toul-Verdun). Zunächst ("1.") wird die Frage nach der Angriffsrichtung der "4. Armee" gegen die Sperrfortlinie gestellt, "wenn sie von Feldtruppen besetzt ist". Zweitens wird gefragt:

"Wie erzwingt die 4. Armee den Durchbruch und den Übergang über die Maas, wenn das linke Maasufer durch feindliche Feldtruppen besetzt ist".

Drittens wird nach der "Gliederung der 4. Armee zum Angriff auf die feindlichen Feldtruppen auf dem linken Maasufer in Linie St.Mihiel-Verdun" gefragt. Es wird diskutiert: "Welche Teile der Armee greifen die Sperrforts selbst an und wann?" Auch das weitere Verhalten der Armee "nach dem Übergang" über die Maas erscheint diskussionswürdig ("4"). Sollten die Kräfte zunächst "auf den Fall der Sperrforts warten?"

37 - Conrad plant: Italien, Montenegro, Serbien und Rußland.

   Mitte April fixiert der österreichische Stabschef Moltke gegenüber seine Position zu den möglichen Kriegsfällen mit Rußland, Italien, Serbien/Montenegro. Italien wird in seinen "territorialen Aspirationen" in "Südtirol, Triest, Istrien", und an der Adriaküste, als Gegner erfasst. Montenegro erscheint mit dessen Zielen in "Süd-Dalmatien und Süd-Hercegowina" als Rammbock zur "Loslösung der Serben (Südslawen) von" Österreich-Ungarn. Serbien schlägt in demselben Sinn zu Buche; zuzüglich Bosnien's. Rußland steht, in Conrad’s Urteil, mit dessen Machtinteresse, hinter diesen Tendenzen auf dem Balkan. Der Generalstabschef betont:

"Rußland welches in seinem Streben nach gesichertem Besitz der Meerengen in der Monarchie ein Hindernis erblickt und welches eine Erweiterung seiner Machtsphäre in Europa von der Aufbietung und Zusammenziehung des gesammten Slaventums erwartet wodurch die Monarchie in ihren Grundfesten erschüttert würde. ... Ein für Rußland unglücklicher europäischer Krieg würde Süd= und Westslawen am sichersten für die Monarchie erhalten und von Rußland trennen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Conrad legt das vordringliche Kriegsziel der Donaumonarchie offen und umreisst gleichzeitig die Basis des deutsch-österreichischen Bündnisses. Italien, Montenegro, Serbien und Rußland erschienen als natürliche Gegner der Monarchie. Die Türkei und Bulgarien würden sich, so nahm der Wiener Stratege an, "stets gegenseitig paralysieren". Frankreich habe "keine direkten Gegensätze zur Monarchie", komme "jedoch als Gegner Deutschlands in Betracht,- insbesondere infolge seines Allianzverhältnisses mit Rußland".-

England.

Außer Flotten-, Landungs- und Vorstoßunternehmungen über italienisches Gebiet sieht der Wiener Generalstab keine direkten Fronten mit Frankreich. Dies vor allem, da Deutschland über ein derart großes "Machtaufgebot" verfüge. Über die Verwendung österreichischer Alpentruppen auf deutscher Seite stellt Wien dennoch Überlegungen an.

   England werde "wie bisher...zunächst abwarten“. Im Falle eines britischen Kriegseintritts erwartet Conrad:

"...das Gros seiner Flotte, sowie seine verfügbare Landmacht (angeblich 6 Di[visi]onen) gegen Deutschland".

Die Schweiz wurde auf der Seite "der Gegner Italien´s" erwartet. Die "politische Rolle Japan´s" schien "von schwerwiegenster Bedeutung". Mit Blick auf den Russisch-Japanischen Krieg sieht der Wiener Stratege das Zarenreich

"vor der Frage, ob es das Schwergewicht seiner aggressiven Politik vorerst auf Ostasien verlegen und daher in Europa Ruhe halten will, oder umgekehrt zuerst in Europa abrechnen und dann erst sich gegen Japan wenden will" (Hervorh.v.m., B.S.).

Rußland.

Der österreichische Generalstab erwartete allerdings  n i c h t , dass Rußland, bedingt durch die Niederlage gegen Japan, und die so entstandene "militärische Rückständigkeit", in Kürze in Europa auftreten werde. "Die Rührigkeit Japan´s", der "Ausbau der sibirischen Bahn" und "die russischen Rüstungen" ließen Conrad "in Bälde" mit einer "Aktion in Ostasien" rechnen. Das werde "infolge der offensiven Politik Rußlands" in Ostasien und "letztenfalls, wenn man Rußland´s Schwäche ausnutzen wollte", zu einer "kriegerischen Aktion der Monarchie gegen Rußland" (Hervorh.v.m., B.S.) zu nutzen sein. Doch diese Überlegung erachtete der Wiener Stabschef als eher akademisch. Er plädierte stattdessen dafür, die Schwäche und Ablenkung Rußlands zu einem Schlag gegen Italien, Serbien und/oder Montenegro auszunutzen. Sollte es allerdings zum Krieg Österreichs, verbündet mit Deutschland und Rumänien, "gleichzeitig gegen diese drei Staaten und Rußland" kommen, so bezeichnete er diese Eventualität als einen großen Misserfolg der Diplomatie. Denn die Politiker würden mit dem Fortbestand des Dreibundes - und damit den Anschluss Italiens an Österreich und Deutschland - rechnen. Conrad sah jedoch Italien eher auf der Seite Frankreichs und Englands, deren Mittelmeer-Flotten Rom veranlassten, nach Westen abzuschwenken. Auch würden die "nationalen Sympathien [Italiens] viel mehr zu einem Bündnis mit Frankreich als zu einem solchen mit Österreich-Ungarn und Deutschland neigen".

Russische Schwerpunktverlagerung.

   Conrad erörtert im Folgenden die Kriegsfälle Rußland und Balkan, Italien und Balkan, sowie Balkan und Italien-Rußland für das Jahr 1911. Im Fall Rußland wurde von Wien Deutschland mit dem "Hauptschlag gegen Fr[ankreich]. erwartet. Indessen gegen R[ussland]. nur 13 Divisionen" in die Berechnung eingestellt. Die russischen "Kräfte u[nd]. [den rußischen]. Aufmarsch" zeichnet der Stabschef als gravierend verändert. Conrad führt aus, schärfer auf die Gunst der Lageentwicklung für den Schlag gegen Westen eingehend:

"Die Bedrohung durch Japan, das dadurch veranlaßte Streben, die Kräfte in Ostasien dauernd (um 2 Corps) zu erhöhen, die Idee, eine russische Centralarmee im Wolgagebiet zu schaffen, derart, daß selbst je nach Bedarf nach Ost-asien, -oder auch Central-asien oder aber in den Westen dirigiert werden kann; die Idee, das Weichsel-Gebiet im Kriegsfalle zu entblößen, den Aufmarsch daher in die Linie Grodno-Brest-Kowel-Luek- Dubuv Prockurow rückzuverlegen; die Absicht die Weichsel-Festungen zu vernachlässigen,- jene in der obigen Linie aber, insbesondere Brest-Kowel auszugestalten".

Conrad gibt zu bedenken, dann sei "mit einem anderen Maß der Kräfte" zu rechnen und forderte dazu auf, zugleich zu bedenken, dass diese Pläne geraume Zeit in Anspruch nehmen würden. Erst seien genaue Daten durch Spionage und Militärattachés zu ermitteln, bevor Veränderungen auf österreichisch-deutscher Seite in Gang gesetzt würden. Es sei weiter damit zu rechnen:

"daß...Rußland bei friedlicher Abfindung in Asien seine aggressive Politik in Europa wieder aufnehmen, also im Westen mit gespannter Kraft offensiv auftreten kann; bestenfalls dürfte es aber dann kaum mit der - wenn auch aus anfänglicher - Preisgebung des Weichselgebietes rechnen".

Erwartet wurden Vorbereitungen Rußlands, erstens für den Fall eines gleichzeitigen Krieges in Ostasien und Europa, und zweitens "eines selbst gewollten Offensiv-Krieges in Europa bei neutraler Situation in Ost-Asien". Diese zweite Möglichkeit trat für Conrad "anbetrachts der Rührigkeit, Entschlossenheit und Zielbewußtheit der Japaner" im April 1910 jedoch zurück. Im Einzelnen erwartete der österreichische Stabschef, Rußland werde angesichts der Überzeugung, Deutschland und Österreich würden schneller aufmarschieren als die eigenen Kräfte, kaum versuchen aus dem Weichselraum heraus in den deutsch-österreichischen Aufmarsch hineinzustoßen. "Nur wenn Italien aktiv auf Seite Rußland’s träte - käme dieser vorgeschobene Aufmarsch in Betracht". Für den Fall eines nicht "so weit vorspringenden Aufmarsch[es]" erwartete Conrad die "II.[russische] Armee (12 Div[isionen.]) bei Bialystock Louisa-Sielce" und die "III.Armee (91/2 Div[isionen]) bei Lublin-Cholm, sodaß diese Armeen den Gegner zwingen sie anzugreifen". Die 1. und 2. Armee wurden in umfassendem Vorgehen erwartet. Conrad schließt stattdessen, Rußland scheide

"seine Hauptkraft in zwei Theile deren einer gegen D[eutschland]., deren anderer gegen Ö[sterreich]- U[ngarn]. gerichtet wird;...versammelt dagegen die Armee gegen D[eutschland]. am Njemen (Kowno, Grodno, Bialystock); die Armee gegen Ö[sterreich].- U[ngarn]. aber in der Linie Rowno, Kamiencec-Podolsk und rollt von hier aus im westlichen Vormarsch die in Ostgalizien concentrierten ö[sterreichisch].-u[ngarischen]. Kräfte auf, sie von ihren über die Karpathen führenden Verbindungen und daher dem Haupt=Gebiet der Monarchie abdrängend".

Risiko der Schlacht mit verkehrten Fronten.

Der Generalstabschef zögert jedoch, dem Russen ein "so weite[n]s Auseinanderhalten seiner Hauptkräfte" zu unterstellen. Die "Gefahr, an den inneren Flügeln geschlagen zu werden" schätzt Conrad hoch ein. Angenommen wird, dass Rußland mit 27 Divisionen gegen Deutschland und 24 Divisionen gegen Österreich und 51/2 Divisionen gegen Rumänien auftrete. Mit der Verschiebung von 8 Divisionen von der deutschen gegen die österreichische Gruppierung wurde gerechnet. Es würden demnach 19 Divisionen gegen Deutschland stehen bleiben. Doch dass Rußland seine Kräfte teile, nimmt der Stabschef in Wien nicht an. Er erwartet vielmehr, dass die Russen ihre Kräfte "gegen einen Gegner concentrier[t]en". Conrad folgert, wenn

"R[ußland]. eine derart ungleiche Theilung von Haus aus vorbereitet,- so ist es wahrscheinlich, daß die größere Gruppe gegen Ö[sterreich].-U[ngarn]. gewendet wird, - in der Absicht mit Ö[sterreich].U[ngarn]. abzurechnen,- ehe die gegen Frankreich wieder freigewordenen deutschen Kräfte einzugreifen vermögen"(Hervorh.v.m., B.S.).

Moltke fordert österreichische Offensive in Polen.

Doch Conrad plädiert dafür, den Aufmarsch der österreichischen Kräfte, trotz der deutschen Schwäche in diesem Moment, "rasch und möglichst weit vorn" durchzuführen,

"um den langsamer mobilisierenden Gegner anzugreifen ehe er vollständig operationsbereit ist;- selbst wenn 13 deutsche Divisionen nur 13 russische binden würden, blieben 44 russische gegen 48 österr[eich]- ung[arische] und rumänische Divisionen".

Daraus wird gefolgert, es gelte "die eigene Operationsbereitschaft zur Offensive gegen den voraussichtlich noch unfertigen Gegner auszunutzen". Das dränge "zu einem Aufmarsch möglichst weit vorn". Mit einem Aufmarsch russischer Kräfte westlich der Weichsel wird nicht gerechnet. Stattdessen sollte der Schwerpunkt der russischen Kräfteentfaltung östlich der Weichsel, sowie in "Wolhynien und Podolien" liegen. Deshalb würden die österreichischen Armeen ihren "Aufmarsch auf Ost-Galizien" konzentrieren. Dies wurde als vorteilhaft erachtet, selbst wenn die Russen westlich der Weichsel stark aufträten, denn so wären diese "doch zum Schlagen östlich der Weichsel" gezwungen. Als ungünstig wird bezeichnet, dass Ostgalizien von drei Seiten von russischem Gebiet umschlossen sei. Ein umfassendes Vorgehen der Russen liege demnach auf der Hand.

Pizzicato österreichischer Planung.

Conrad betont:

"Thatsächlich scheint der damalige russische Aufmarsch auf dieses Ziel gerichtet, indem die drei Gruppen: Cholm, Dubno, Proskurow einfach Direction Lemberg vorzugehen hätten, - wo die Gruppen Cholm, Dubno nach 5-6, und die Gruppe Proskurow mit den beiden anderen nach 7-8 kleinen Märschen vereint schlagen könnten. Die Zeit von etwa fünf Tagen, muß also eigenerseits zur Entscheidung ausgenutzt werden;- es wird dabei darauf ankommen diese Operation mit bereits tunlichst completen Kräften zu beginnen noch ehe der Gegner seine Kräfte complet hat und zwei feindliche Gruppen - oder mindestens einer weit abzuhalten und indessen die eine, beziehungsweise die beiden andren zu schlagen" (Hervorh.v.m. , B.S.).

Doch hält der Stabschef solche Wege für zu riskant, da der Schlag gegen die eine Gruppe durch den Flankenstoß der anderen beantwortet werden könne. "Ein Manöver auf der inneren Linie also leicht missglücken könnte". Es scheine

"daher am zweckmäßigsten seine Hauptkräfte vorerst gegen die Gruppe von Cholm und von Rowno zu wenden,- die Gruppe von Proskurow aber anfänglich lediglich möglichst weit abzuhalten; sei es mit direkter Unterstützung der Rumänen,- sei es ohne diese direkte Unterstützung, falls die Rumänen gänzlich gegen die russische V. Armee engagiert sind".

Zunächst solle die Gruppe Cholm angegriffen werden, darauf rechtsschwenkend, sich die Offensive gegen Rowno anschließen. Dazu ständen am 15. Mobilmachungstag 19 österreich-ungarische 11 russischen Divisionen ("der Gruppe Cholm-Dubno") gegenüber. Allerdings, nach 5 Märschen würden diese auf 16 russische Divisionen treffen.

"Am 20.Tag ständen gegen die 18 russ[ischen]. Di[visi]onen der Gruppe Cholm-Dubno 29 öst[erreich].- ung[arische]. Di[visionen] bereit,- welche nach 5 Märschen auf 20 russ[ische]. Di[visi]onen obiger Gruppen stoßen könnten. Der 20te Tag erschiene also für den Beginn der Offensive am zweckmäßigsten,- doch schon vom 15.Tag an wäre eine gewisse Chance vorhanden".

Zunächst, so Conrad, sei die Gruppe Cholm zurückzuwerfen, sodann die Gruppen Dubno und Cholm zu trennen. Rückendeckung für die eigene Mittelgruppe werde so geschaffen und weitere Kräfte gegen die Dubnoer Gruppe seien heranzuziehen. Der Wiener Chefstratege wünscht,

"daß eigenerseits vor Allem die gegen die Cholmer Gruppe bestimmten eigenen Kräfte complet und operationsbereit“

werden".

   Die Aufgabe der Österreicher ähnele derjenigen der Armee "Kronprinz" 1870, welche die Aufgabe gehabt  habe, früher operationsbereit zu sein und "die Offensive gegen die französische Armee im Elsaß zu beginnen um diese zu schlagen oder doch zurückzuwerfen". "Einer ähnlichen Aufgabe" müsse "die eigene linke Flügelarmee" nachkommen. Dieser wies der Wiener Stab zu, sich das Flügelkorps bei Jerow so zu "intradieren", dass "es je nach Umständen entweder am unteren San eintreffen oder weiter gegen Osten geführt werden könnte".

1910 unklar: Rückverlagerug des russischen Aufmarsches.

Die Problemlage verschärfte sich zusätzlich mit der möglichen Rückverlegung des russischen Aufmarsches. Dann sei dafür zu sorgen, so Conrad, dass Korps zur Verstärkung der rechten Gruppe des österreichischen Aufmarsches per Eisenbahn herangeführt werden könnten. Allerdings sei nicht klar, "wann Russland diese Veränderung vornimmt". Conrad beauftragt seine Militärattachés und das Evidenz-Büro, diesen Termin so früh als möglich aufzuklären. Der Chef des Generalstabes fasst zusammen:

"Es wird darauf ankommen, alle in Frage kommenden Möglichkeiten in Calcül zu stellen,- die Chancen für die verschiedenen Fälle zu unterscheiden und dann,- mit der Hauptabsicht aufgrund früherer Operationsbereitschaft die Initiative zu ergreifen u[nd].zw[ar]. in jener Richtung welche die wirksamste und dabei genügend sicher ist, den Aufmarsch-Entschluß festzustellen".

Um Fehler im Aufmarsch zu vermeiden, wurde der Schwerpunkt in einem Stoß nach Norden gesehen, "um sich Luft zu machen". Vier Armeen und eine rechte Flügelgruppe sollten

"die Offensive der drei linken Armeen gegen die feindliche Hauptmacht, wenn sie bei Rowno Luck Dubno versammelt ist in der Absicht sie gegen den Polecie zu drücken und von der Proskurower Nebengruppe gänzlich zu trennen,- oder aber mit den drei rechten Armeen die feindliche Hauptkraft falls sie um Proskurow und südlich versammelt wird derart anzugreifen, daß man sie auf ihrem nördlichen Flügel umfaßt und von der Rownoer-Gruppe trennt, gegen welche die eigene linke Flügel-Armee vorzugehen hätte. Auch für diesen Fall hätte die linke Flügel-Armee der zuerst operationsbereite zu sein. Aber auch wenn man sich getäuscht haben und der Feind seinen Aufmarsch nicht gänzlich östlich des Bug verlegt haben,- oder aber wenn er nach erfolgtem rückverlegten Aufmarsch Kräfte wieder westlich des Bug disponieren sollte entspricht im Wesentlichen der dargelegte Aufmarsch,- da sich die linke Flügel-Armee dann westlich des Bug gegen diese Kräfte wenden kann" (Hervorh.v.m., B.S.).

- Flankierender Hebel:  Insurrection Polens.

Conrad entschied sich für diesem Aufmarsch. Er fasst zusammen:

"Der Erfolg ist im Wesentlichen auf die möglichst fesche eigene Operationsbereitschaft basiert,- jede Verzögerung der Versammlung, also jede Störung der Aufmarschtransporte wäre daher eine vitale Schädigung ,- es gewinnt also die Sicherung des Aufmarsches eine ausschlaggebende Bedeutung. Sei es daß Rußland von Haus aus weit vorn aufmarschiert und eine baldige Offensive plant,- sei es daß es mit dieser zurückhält und auch den Aufmarsch rückverlegt - so wird er doch jedenfalls den derseitigen Aufmarsch zu stören trachten und hierzu seine Cavallerie, eventuell gefolgt von kleineren Infanterie-Detachements sofort über die Grenze brechen lassen. Bei diesem Einbruch wird ebensowohl mit kleinen Streifencorps (11-12 Eskadronen), als mit dem Einbruch starker Gros zu rechnen sein".

Der Stabschef betont, wie "wichtig" vorbereitende Maßnahmen wie etwa die "Alarmgruppierung" seien, welche "bei sich zuspitzender politischer Lage" einzuleiten wären. Aus der Vielzahl der Sicherungsmaßnahmen sei hier die "feldmäßige Sicherung schon im Frieden" erwähnt. "Außer diesem defensiven Schutz der eigenen Bahnen" fasst Conrad "die offensive Aktion...", welche "in dem Moment zu beginnen" sei, "zu welchem die erste russische Abteilung die Grenze überschreitet" ins Auge. Offiziere wären

"schon im Frieden zu designieren, evident zu halten, zu instruieren und vorzüglich in die Lage zu versetzen ihre Route zu bereisen, insbesondere die Bahnobjekte kennen zu lernen welche sie zu zerstören hätten" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Dass der innere Zustand der Donaumonarchie äußerst labil war, zeigen die Überlegungen zur inneren Sicherheit auch im Operationsgebiet. Conrad verlangte "die rücksichtslose Unterdrückung jeder reichsfeindlichen Agitation u.s.w. schon im Frieden" und schärfstes Vorgehen gegen "den leider vorhandenen passiven Widerstand der Civilbehörden" (Hervorh.v.m., B.S.). Während der feindlichen Spionage entgegen gewirkt werden müsse, sah der Generalstabschef die Schwerpunkte der eigenen Aufklärung in den "Hauptzielen" feindlicher Massierung "zwischen Bug und Weichsel", "bei Luck, Dubno, Rourev, Ostroy" oder "bei Proskurow und südlich". Die

"Insurgierung der polnischen Gebiete Rußlands"

wurde vorgesehen:

"Es wäre ein großes Versäumnis wenn man sich der Vortheile entschlagen würde welche eine Insurgierung der polnischen Gebiete Rußlands zu bieten vermag. Eine solche muß jedoch schon im Frieden angebahnt und für den Krieg speziell vorbereitet sein. In erster Hinsicht ist enger Contakt mit in Russisch-Polen ansäßigen eigenen Reichsangehörigen (Reserve: Offizieren!) sowie mit allen russenfeindlichen Faktoren zu suchen und aufrechtzuerhalten. Es ist insbesondere durch die Geistlichkeit der Boden vorzubereiten. Für den Kriegsfall hingegen muß vorgesorgt sein daß eigene Cavallerie-Körper,-Detachements, und nationale freiwilligen Formationen schon bei Kriegsbeginn in das feindliche Gebiet einbrechen und die Insurrection entfachen. Diese Detachements müssen bereitgestellt, ihre Armeeintendanten hinsichtlich ihrer Aufgabe instruiert sein, diese Instruktionen, sowie die zu ertheilenden Proklamationen müssen bereitliegen,- letztere um bei drohender Lage sogleich gedruckt zu werden. Diese Insurrektion ist für das ganze polnische Gebiet insbesondere aber für den Raum südlich der Pilic und jenem zwischen Weichsel und Bug anzustreben also vorzubereiten. Die in diesen Räumen stationierten russischen Truppen sollen zur Gegenwehr gezwungen und dadurch abgehalten werden in das Gebiet der Monarchie einzubrechen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Conrad drang in seiner „Directive“ vom 12. April 1911 auf „den innigen Zusammenhang zwischen der politischen Anschauung und den operativen Vorarbeiten. Er kritisierte für seine Mitarbeiter im Generalstab die „status quo“-Politik des österreichischen Außenministers und forderte realistisch das „eigene[n] Entwicklungsbedürfnisse[s]“ in Korrelation mit dem der „Nachbarn und Concurrenten“ zu vergleichen. Er gab bekannt, er habe

1907/8 einen Präventivkrieg gegen Italien, 1908/9 das Losschlagen gegen Serbien... maßgebensten Ortes beantragt“ (Hervorh.v.m., B.S.).

Seine Vorschläge seien „nicht acceptiert, die betreffenden Maßnahmen... nur so weit zur wirksamen Geltung“ gekommen, „als sie die Anrainer-Politik unterstützten und diplomatisch sicherten“. Die österreichische Politik habe „die Erhaltung des Friedens als oberstes Ziel“ gesetzt, doch seien „die Gestellung guter Beziehungen zu Russland und zu den Balkan-Staaten, sowie das Festhalten an dem Bündnis mit Italien“ nur möglich bei „innige[m] Anschluß an Deutschland“ und Rumänien. Conrad forderte, die „Kriegsvorbereitungs-Arbeiten“ auf eine früher bereits erarbeitete „breite Basis“ zu stellen.

38 - Informationsstand in Berlin (Italien, Belgien).

   Anfang des Jahres 1911 wird "noch immer festgehalten an den Transportange- legenheiten für die ital[ienischen]. Truppen". Eine "neue Konferenz [wird] deshalb abgehalten". Offenbar kommt es zu Unstimmigkeiten, denn der "Mil[itär].Attaché[s] Paris" meldet

"Äußerungen des ital[ienischen]. Mil[itär].Attachés über die Rolle der italienischen Armee im Kriegsfall".

Ende Januar findet die "Vlissinger Frage" ihre Fortsetzung. Der Tenor ist: Deutschland werde durch Belgien marschieren. Das belgische Journal des Débats

"bestreitet das auch nicht, folgert aber, daß die Versuchung für Frankreich mindestens ebenso groß sei wie für Deutschland und daß Engländer u[nd]. Franzosen im Kriegsfalle (wie in London und Paris die Spatzen von den Dächern pfeifen!) durch Belgien hindurch in den Rücken der deutschen Armee vorstoßen wollen, oder Holland zur Operationsbasis machen wollen".

Im Reichsboten antwortet E.Bötticher und "warnt unter Hinweis auf die Haltung der Holländer vor engl[ischen]. Absichten eines Sprungbretts auf dem Kontinent. Die Behauptung, die belg[ische]. Neutralität sei in Gefahr, erklärt B[ötticher]. für ‚erlogen’(!)". Anfang Juni kommt vom Militärkabinett ein "Bericht des Gesandten" in Bern zu "französische[n] antideutschen Hetzereien in der Schweiz".

 

39 – Conrad: Tauziehen um 10 Divisionen.

   Conrad antwortete auf Moltkes Schreiben zum Kriegsfall Deutschland/ Österreich gegen Rußland unter Neutralität der übrigen Staaten. Der Wiener Stabschef stellte 40 Divisionen gegen Rußland in Aussicht und fasste ins Auge, gegen Serbien und Montenegro "mit einem Minimum an Kräften" auszukommen. Im Gegenzug erwartete Conrad, daß "deutscherseits mindestens 40 Infant[erie]. Divisionen von Haus aus gegen Rußland" eingesetzt werden. Zehn rumänische Divisionen stellte der Österreicher in seine Rechnung nicht ein, da noch "nicht völlig klar liegt, daß dieser Staat von Haus aus aktiv auftritt", schrieb Conrad. Der österreichische Militärattaché in Berlin, Bienerth, habe ihm jedoch gemeldet, es würden "nur 32 Infant[erie]. Di[visionen]. im Gebiet Preußen’s östlich der Weichsel aufmarschieren, da ein Mehr in diesem Raum überhaupt nicht zu placieren wäre". Infolge von "Wald, See- und Sumpfgebiete[n]" rechnete Conrad mit deren "beengende[m]n Einfluß", was verursachen könne, daß "8 Div[isio]nen östlich der Weichsel" nicht versammelt würden. Als Aushilfe schlug Conrad vor, eine Operation aus dem Raum westlich der Weichsel gegen den unteren Narew einzuleiten. Selbst einen Stoß über Kalicz-Lodz gab er zu bedenken, und hoffte, die Russen würden im Raum Warschau-Brest-Bialystok versammelt sein. Allerdings erkannte Conrad die Gefahr, ein Stoß der Russen "westlich der Linie Kowel[-]Lemberg“ werde „alle Verbindungen" der österreichischen Hauptkräfte "empfindlichst" treffen und diese würden „von der Monarchie ab, gegen die Waldkarpathen gedrängt werden können". Daraus leitete der österreichische Generalstabschef ein Gegenvotum zu den Vorstellungen Moltkes her, möglichst mit den Hauptkräften "im östlichsten Galizien" aufzumarschieren, "mit der Tendenz, durch Vorgehen vom rechten Flügel aus die russischen Kräfte gegen das Polezie zu drängen". Hinzu käme, daß die österreichischen "Bahn-Verhältnisse ein rechtzeitiges Versammeln der Hauptkräfte im östlichen Galizien gar nicht" ermöglichten. Russische Gegenmaßnahmen zeichneten sich ab. Diesen Kräften genügend stark entgegentreten zu können, sei durch die schwachen österreichischen Bahnen nicht möglich. Conrad nahm an, Rußland werde "die Kräfte seiner Central-Armee" gegen den Narew heranführen und vertrat, es werde

"trachten, - die Deutschen u[nd]. die öst[erreich].-ung[arischen]. Kräfte von den inneren Flügeln zu trennen,- also erstere gegen den öst[lichen]. San, letztere gegen die Waldkarpathen zu drängen; jedenfalls wäre dies die für die Verbündeten gefährlichste Operation",

Der Österreicher plante:

"Die öst[erreich]-ung[arischen]. Hauptkräfte werden im mittleren Ostgalizien, östlich des San versammelt um die Offensive vom linken Flügel aus zu beginnen,- ein analoges Vorgehen deutscherseits, also ein Vorgehen entsprechendere deutscher Kräfte gegen den unteren Bug-Narew wäre sehr erwünscht" (Hervorh.v.m., B.S.).

Conrad erwartete "45 oder doch wenigstens ebenso viele deutsche als österr[eich].[-] ung[arische]. Div[isi]onen. gegen Rußland" und bestand, für den Fall der Einmischung Frankreichs und Italiens, auf den Vereinbarungen von 1910.

   Am 3. Juni hatte Moltke Conrad eine "wertvolle Mitheilung hinsichtlich der im Kriegsfalle gegen Rußland bereitgestellten deutschen Kräfte" gemacht. Alarmiert durch die Meldung des österreichischen Militärattachés, Baron Bienerth,

"Deutschland werde in einem Kriege der Verbündeten gegen Rußland, bei vorausgesetzter Neutralität Frankreichs, nur 32 Divisionen in Preußen aufmarschieren lassen" (Hervorh.v.m., B.S.),

antwortete Moltke dem österreichischen Generalstabschef, es handele sich um ein "Mißverständnis". Moltke sagte zu,

"wenn Österreich-Ungarn und Deutschland - vielleicht unter Mitwirkung Rumäniens - den Krieg gegen Rußland allein zu führen haben, wird Deutschland in erster Linie 43 Divisionen für den Aufmarsch gegen Rußland verfügbar machen. Von diesen können 32 Divisionen ohne Weiteres östlich der Weichsel aufmarschieren, der Rest - 11 Divisionen - muß entweder westlich der Weichsel ausladen und per Fußmarsch nachgezogen werden, oder er muß als 2.Staffel mit der Bahn vorgeführt werden" (Hervorh.v.m., B.S.).

Der Große Ostaufmarsch 1910/11 (Kesselschlacht in Polen).

   Moltke ging Mitte 1911 von einem Krieg - vordringlich mit Rußland- "bei gleichzeitiger Neutralität Frankreichs und Italiens"- aus und entwarf das Bild des Großen Ostaufmarsches. Angesichts der diplomatisch-politischen Entwicklung zu diesem Zeitpunkt jedoch keinesfalls eine realistische Annahme. Dass dieser Kriegsfall "sehr unwahrscheinlich ist" erkannte der Berliner Chef jedoch an. Bis zum 24. Mobilmachungstag sollten demnach künftig "alle 43 [deutschen] Divisionen mit der Eisenbahn über die Weichsel vorgeführt werden können". Der Vormarsch wurde schon am 16.Mobilmachungstage erwartet. Das hieß: 5 Tage vor Abschluss des russischen Aufmarsches. Insgesamt ging Moltke von 41 österreichisch-deutschen Armeekorps aus, zu denen 5 rumänische auf dem rechten Flügel der Österreicher treten könnten. Die russischen Kräfte wurden "an einer Stelle zur kraftvollen Offensive" erwartet. Den Versuch, die österreichischen und deutschen Kräfte auf deren inneren Flügeln zu trennen", bezeichnete der deutsche Chef des Generalstabes als für die Verbündeten nur vorteilhaft. Ausdrücklich war Moltke jedoch keinesfalls von Angst vor "langandauernden Kämpfen" beherrscht. Vielmehr plädierte er, unter Berücksichtigung der vermehrten Waffenwirkung, darauf "schlagartige Erfolge" zu erzielen, obwohl "die heute weniger als früher zu erwarten" seien. Doch werde ein Ausweichen der Russen nach Osten durch das Vorgehen der Österreicher "mit vorgenommenem rechtem Flügel" erreicht, "um den Gegner gegen die Pripjet-Sümpfe zu drängen und einen Abzug auf Kiew zu verhindern" (Hervorh.v.m., B.S.).

Russen zur Offensive verleiten.

Moltke jedenfalls erwartete von einem energischen deutschen Vorgehen aus Ostpreußen,

"gegen Narew und Njemen...vielleicht den Einsatz der[russischen] Zentralarmee heraus[zu]fordern" (Hervorh.v.m., B.S.).

Nochmals bestätigte der Generalstabschef die seit Januar 1910 gemachten Zusagen für den Kriegsfall ‚Rußland’, bei "zweifelhafte[r] oder feindliche[r] Haltung Frankreichs und Italiens".

   Der österreichische Chef des Generalstabes antwortete zustimmend, "die Offensive [gegen Rußland] sobald als möglich zu beginnen". "Strengst vertraulich" teilte er Berlin ferner mit, dass er "seit einigen Jahren" hinsichtlich des "so sehr erwünschten aktiven Beitritt[s] Rumänien´s" in "direkten Verhandlungen" stehe. Das bisherige Ergebnis strich Conrad allerdings aus seinem Konzept. Er hatte Moltke mitteilen wollen, "daß Rumänien seine Hauptkräfte in der Gegend von Dotucani" versammeln werde. Da Rumänien den Bulgaren nicht traue, rechnete Conrad mit "kaum mehr als acht rumänische[n] Divisionen" gegen Rußland. Weiter nahm der Österreicher an, die russische "Central-Armee" könne sowohl gegen Deutschland wie auch gegen Österreich eingesetzt werden. Dem Wunsch Moltkes, die österreichische Armee möge "in Richtung Brest-Litowsk" eingreifen, suchte Conrad zu entsprechen. Er teilte mit, er habe

"den Aufmarsch der diesseitigen Hauptkräfte so weit nach Osten verlegt als es die nicht sehr vortheilhafte Grenzconfiguration Galizien´s und die Leistungsfähigkeit der Bahnen"

zulasse. Grundsätzlich stimmte der Österreicher Moltke zu, der Schlag gegen die russische Armee in Polen könne gelingen. Conrad hielt fest:

"Auch ich bin der Ansicht, daß Rußland gegenüber das unangenehmste Moment in der Unermeßlichkeit der Räume dieses Reiches und der damit Rußland gebotenen Möglichkeit gelegen ist seine Streitkräfte zurückzuführen um im Clausewitzschen Sinne die Offensive erlahmen zu lassen,- und daß es daher nur höchst erwünscht sein kann, die russischen Kräfte zum Schlag zu zwingen;- doch glaube ich, daß diese Verhältnisse seit 1812 sehr zu ungunsten Rußland´s verändert sind" (Hervorh.v.m., B.S.).

Conrad erwartete Mitte 1911, dass Rußland in Polen offensiv werde:

"Das höchst Bedenkliche einer so großen freiwilligen Gebietsabtretung, insbesondere bei den bestehenden polnischen und ukrainischen Aspirationen,- die Gefahr der socialen Revolution im Inneren werden R[ußland]. nöthigen den Schlag im Westen zu [führen, gestr.] suchen; andererseits bieten die modernen Verkehrsmittel ganz andere Chancen für den Angreifer als dies im Jahre 1812 der Fall war" (Hervorh.v.m., B.S.).

Auch der theoretische Vorteil der russischen Position, zwischen deutschen Kräften in Ostpreußen und österreichischen in Galizien, erschien Conrad wie Moltke von geringerer Bedeutung. Doch schränkte der österreichische Generalstabschef ein:

"Hinsichtlich des heutzutage Bedenklichen der Operationen auf der inneren Linie bin ich ganz E[urer].E[xcellenz]. Anschauungen;- aber im vorliegenden Falle scheinen mir zwei wesentliche Momente mitzusprechen, erstens ist der trennende Raum zwischen den beide[n] Vorstoßenden in der Linie Mlawa, Zaidichost 300 Kilometer breit und zweitens kann jeder der beiden Verbündeten am äußeren Flügel wieder umfaßt werden, nämlich die deutschen Kräfte aus der Linie Kowno, Grodno, die öst[erreich].ungarischen aus jener Piosknrow Staro Konstantinow,- so daß sich die Gesamtlage damit ergibt[,] daß jede der infolge der Grenzconfiguration auf 300 km voneinander getrennten beiden Gruppen der Verbündeten,- russischerseits aus zwei Fronten angegriffen werden könnte [Warum sollte sich Rußland das nicht zunutze machen? gestr.] (Hervorh.v.m., B.S.).

Dennoch bleibe es, so Conrad, bei den im Januar/Februar 1910 getätigten Vereinbarungen.

 

40 – Schlaglicht Marokkokrise 1911: England nun Hauptgegner.

   Anfang Februar fühlt der preußische Kriegsminister beim Reichskanzler vor, ob der Anregung des Korvetten-Kapitäns a.D.Mayer vom 27. Januar gefolgt werden könne, ausgesonderte 15 cm  und 21 cm Ring- und 21 cm Mantel-Kanonen an Serbien und Griechenland zu liefern. Am 17. Juli berichtet der Militärattaché in Konstantinopel, Strempel, dass der "Ausbruch eines Krieges zwischen [der] Türkei und Montenegro wahrscheinlich" sei.

   Noch am Tage seiner Krönung zum König von England erwähnte Georg V. in seinem Tagebuch den ernsten politischen Hintergrund vor welchem seine Investitur stattgefunden hatte. Der neue König schrieb:

"Sah Francis (Lord Knollys), der gerade aus London zurückkam, und hatte eine lange Unterhaltung mit ihm über politische Krise, die sich sehr unangenehm zugespitzt und mir viel Kummer und Sorge macht!" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Am 4. August vormittags fand sich Conrads Emissär, Hauptmann Ulmansky, aus Wien kommend, in Begleitung des österreichischen Militärattachés Bienerth, bei Moltke ein, um einen Brief des österreichischen Generalstabschefs zu überbringen. Im Verlauf des sich anschließenden Gesprächs äußerte der deutsche Gesprächspartner, es wäre in der gegenwärtigen Lage "die günstigste Zeit" für den Krieg gewesen. Bienerth und Ulmansky gewannen den Eindruck,

"dass die Ansichten S[eine]r. Exzellenz sich mit jenen unserer allgemeinen militärischen Kreise vollkommen decken. Wir schlossen dieses Kapitel mit dem beiderseitigen Ausdrucke des Bedauerns, dass es sich anders gefügt hat, als es der Soldat wünschte" (Hervorh.v.m., B.S.).

Das militärische Berlin: Abrechnen mit England.

Das Gespräch war jedoch nicht beendet. In dessen zweitem Teil kam Moltke auf die letzte Marokkokrise zu sprechen und betonte,

"dass die militärischen Kreise [in Berlin] vollkommen überzeugt sind, dass die Tätigkeit der deutschen Diplomatie die erwünscht beste und zweckmäßigste ist. An ein Nachgeben seitens der Diplomatie des lieben Friedens halber scheint in Deutschland  N i e m a n d Massgebender zu glauben. S[eine]. Exzellenz sagte, die ganze Sache ist nur eine Frage der Nerven und Kiderlen hat gute Nerven. Weiters gab S[eine]. Exzellenz seiner Ueberzeugung Ausdruck, dass die ganze Frage  n u r  von England in das gegenwärtige Fahrwasser gedrängt wurde. Sobald England erwähnt wurde, gewannen die Redewendungen und Ausdrücke S[einer]. Exzellenz derart an Kraft und Leben, dass man sah, dass er England als den Gegner mit dem man abrechnen muss betrachtet".

Bedeutsam erscheint, dass Moltke offensichtlich mit Kiderlen einig war in der Absicht, über Marokko England zum Krieg zu zwingen, und festlandstrategisch in Frankreich zu treffen. Dass die Übereinstimmung von Politik und Militär in Deutschland keine vorübergehende Laune war, zeigte das am Abend folgende Gespräch der österreichischen Spezialdelegation mit den Vertretern der Nachrichten-Abteilung III im Generalstab. Diese betonten nämlich, dass der deutsche Generalstabsoffizier "in der auswärtigen Vertretung [Deutschlands] den eminenten Förderer seiner Aspirationen" sieht. Wie hoch das Engagement Deutschlands, rein strategisch gesehen, in der Türkei bewertet wurde, zeigte die Aussage der Herren der deutschen Feindnachrichten-Abteilung, die

"alle im deutschen Heere dienenden [türkischen] Offiziere (gegenwärtig za 150) [würden] als den sehnlichsten Wunsch der Türkei, deren Aufnahme in den Dreibund bezeichnen" (Hervorh..m., B.S.).

Auch Moltke hatte am Vormittag "eine der Türkei freundliche Politik" als "erwünscht" bezeichnet. Gerade zwei Tage zuvor, so wurde berichtet, sei die gegenwärtige "Marokkoangelegenheit" hochgekocht. "Am 2./8" seien "alarmierende Nachrichten von der französischen Ostgrenze" eingelaufen, wonach "Bahnpersonal einberufen worden sein soll". Die Spionage-Spezialisten in Berlin hätten "sofort einen Offizier zur Bereisung dieser Gegend" entsandt.

   Am 10. August schickt das Auswärtige Amt "Berichte des Konsulats Johannisburg über eine Unterredung zwischen dem englischen General Townshend und dem deutschen Finanzier Gossert" über einen "(Krieg zwischen England und Deutschland, engl[ische]. Maßnahmen)". Dazwischen läuft am 19. August der Militärbericht Nr. 83 aus Brüssel ein, worin gemeldet wird, die

"Belgier haben sehr geringes Vertrauen zu ihrer eigenen Armee und zu Frankreich, werden ihre Neutralität wohl nicht sehr energisch verteidigen. England steht doch mehr draußen; ist nur halb beteiligt nach Belgiens Meinung" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Im Juli sprach der liberale Premierminister Asquith im Unterhaus zur Flottenfrage. Er äußerte sich positiv über Deutschland. Goschen schrieb, diese Rede habe in Berlin einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen und fügte hinzu:

"he spoke of the great friendly German Nation, admitted that Germany required a strong navy - with her commerce and World Power increasing every day, and buttered them up generally. He however maintained his point about the possibility of Germany having 17 [eingefügt: Dreadnought] ships in 1912 - and that may make a little row as Tirpitz and Bethmann etc. have always said that they will only have 13. Moreover, they can have 17 - and we have to reckon not with what they say they will have - but with they can have and what they would have sh’d circ’es require it" (Hervprh.v.m., B.S.).

Goschen beurteilte die deutsch-englischen Flottenbeziehungen äußerst nüchtern. Er sah den deutschen Willen, das Flottengesetz durchzuführen. England aber werde, so Goschen’s Tagebuchnotiz vom 29. Juli:

"build a sufficient number of ships to ensure our supremacy at sea" (Hervorh.v.m., B.S.).

Der Botschafter machte vor allem die Presse verantwortlich für die auf beiden Seiten erhitzte Atmosphäre, wie auch immer wechselseitig deren Stimme motiviert gewesen sei. Das habe dazu geführt, dass

"Press violence only embittered relations [between England and Germany] and rendered any moderating influence quite powerless".

Deutscher Operationsplan gegen Belgien, Frankreich, England.

Zusätzlich erschwerten Schoens Weggang, und dessen Nachfolger Kiderlen, die Lage. Goschen urteilte:

"Kiderlen-Wächter will be another pair of shoes - and I doubt if they will fit me so well. Mais nous verrons! and it is possible that it may be advantageous having a man who will take a line of his own - and talk out even tho’- brutally" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Die Krise um Marokko erreichte am 1. September ihren Höhepunkt. Das

"K[riegs]M[inisterium] teilt [eine] Unterredung mit dem Reichskanzler und [dem] Staatssekretär des A[uswärtigen]A[mtes] über [die] Abbestellung der Manöver mit Rücksicht auf die politische Lage"

mit. Am 28. September trifft in Berlin ein anonymer Artikel der "Fortnightly Review" ein. Dieser "sieht den deutschen Operationsplan durch Belgien" als Tatsache und

"versichert die Franzosen d[er]. engl[ischen]. Unterstützung. Antwerpen soll so lange gehalten werden bis "die Engländer landen und in die deutsche Flanke vorstoßen können". "Ein Artikel der Zeitung La Belgique" empfiehlt "bereits den Volkskrieg zu entfesseln gegen die Deutschen mit Rücksicht auf die Unzulänglichkeit der belg[ischen]. Armee. Frankreich einverstanden....!" (Hervorh.v.m., B.S.)

Die

"Besorgnisse Belgiens wachsen immer mehr nach den weiteren Berichten des Mil[itär].Att[achés].[:] pessimistische Stimmung. Die Alarmartikel der belg[ischen]. Presse vermehren sich immer stärker".

Die französische "Presse läßt jetzt (seit Herst 1911) eifrigen Beistand" in der "Landesverteidigung" erkennen. "Sachverständigenbücher erscheinen über die Gefahr [des deutschen Angriffs]".

Österreich tritt auf die Bremse.

   Am 1. August berichtete der österreichische Botschafter in Berlin, Szögyenyi, Kiderlen und Ährenthal hätten "beschlossen", dass Sommer und Herbst friedlich sein sollten. Auch sei Kiderlen sehr wohl für gute Beziehungen mit England zu haben. Doch Goschen hegte Zweifel. Er notierte:

"I am not certain about either of these things. I don’t think things look particularly well in Macedonia - and I am not certain about K[iderlen]. Of course if we yielded everything Germany wants we could have an understanding tomorrow" (Hervorh.v.m., B.S.).

Offenbar war aber Grey nicht gewillt, den Deutschen die Sache zu einfach zu machen. Goschen erhielt Anfang August Weisungen, die seinen Äußerungen, zuvor gegenüber Bethmann Hollweg, zuwider liefen. Der englische Botschafter bemerkte, offensichtlich stehe der Außenminister unter dem Druck des "radical wing" im Kabinett. Während Kiderlens Empfang, wenige Tage darauf, äußerte dieser sich überhaupt nicht zu den englisch-deutschen Beziehungen. Es kam dem deutschen Außenminister offensichtlich darauf an, dass sich die Dinge in Macedonien besserten; wie war ihm eigentlich gleich. Zur Frage eines Krieges auf dem Balkan schien der deutsche Aussenminister mit Ährenthal überein zu stimmen. Goschen schrieb:

"I asked him whether supposing there was war he agreed with Ährenthal in thinking it would be localised. He said – ‘Yes - if you keep your friends back’! I said ‘What friends?’ and he said ‘The Russians’." (Hervorh.v.m., B.S.)

Goschen sucht den Ausgleich.

Die Vorstellungen Berlins, unter welchen Bedingungen der Krieg zu führen sei, waren augenscheinlich im Jahre 1911 ausgereift. Kiderlen der im Außenministerium empfing, überließ es Stumm, mit Goschen ins Detail zu gegen. Wobei der Staatssekretär des Äusseren zunächst über englisch-deutsche Beziehungen einiges "blubberte", um dann kurzerhand eine neue Theorie zu verkünden. Nämlich, nicht die Flottenfrage führe zu den Belastungen zwischen Deutschland und England, sondern dessen Politik, sich mit Frankreich und Russland zu verbinden. Goschen antwortete:

"My dear man - we might as well complain of your policy of being friends with Austria and Italy´. He [Kiderlen] admitted that he had no belief in the Balance of Power theory" (Hervorh.v.m., B.S.).

So vorbereitet, erreichte den englischen Botschafter am Freitag, dem 12. die durch Stumm überbrachte Einladung des Reichskanzlers auf dessen Landsitz "Hoch Finnow" - wie Goschen in seinem Tagebuch notierte - für Sonntag, den 14. August. Goschen gab von Schloss und Garten Hohenfinow einen ersten Eindruck wider:

"went out to see Chancellor at Hohen Finnow [Hohenfinow bei Eberswalde]- a quaint old house with fine ceilings and a nice old fashioned garden - with old fashioned flowers and beautiful avenues of old lime trees. Farm - about 200 cows not up to much - and badly kept. Some good pigs - Deutsche Edelschweine chiefly - but not many".

Doch das Hauptgewicht des Gespräches, das von Musik am Flügel und Anmerkungen zu Literarischem umrahmt wurde, lag, an diesem Nachmittag und Abend, auf den deutsch-englischen Marinefragen. In einer langen und zentralen Unterredung erörterten der Kanzler mit Goschen den britischen Vorschlag, wie eine Verständigung möglich sei. Dabei ging es darum zu klären, was Greys Vorschlag bedeute, die deutsche Flottenrüstung einzufrieren und sich gegenseitig über Schiffbaufragen zu informieren. Bethmann Hollweg fragte: "But what will G´t Britain do meanwhile?" Goschen merkte in seinen Tagebuchnotizen an, er habe geantwortet,

"that I was not clear either but that I thought - as our great object was to reduce the great expenditure on armaments - we should reduce our expenses to the minimum of what we considered necessary for safety" (Hervorh.v.m., B.S.).

Der Kanzler habe nicht sofort Stellung bezogen, sondern gebeten, Grey für die Verbindung zu danken, jedoch anzumerken, er habe noch einige Unterlagen durchzusehen, bevor er seine Meinung gebildet haben werde. Mit einigen atmosphärisch-skizzenhaften Anmerkungen schloss Goschen seine Aufzeichnungen:

"I had quite a nice afternoon – tho’ it was beastly cold sitting out in the garden before dinner - Me B[ethmann].H[ollweg].’s sister was there - young B[ethmann].H[ollweg]. a nice lad educated at Oxford and a very pretty Governess - Miss Clark: also that dull fellow Flotow and Stumm" (Hervorh.v.m., B.S.).

Berlin kritisches Kalkül: Machtfaktor Türkei. Ausgleich mit Rußland?

   Wenig später erläuterte der serbische Außenminister Milovanovich dem englischen Botschafter die Machtverhältnisse auf dem Balkan. Die Macht der Türkei werde weit überschätzt. Goschen hielt fest:

"He told me inter alia in answer to an observation from me that the military situation between Turkey and Bulgaria was very different, in Turkey’s favour, from what it was two or three years ago, that that was true to a certain extent; but that the Turks were neither so strong as they thought themselves nor as a great many other people thought them. Their men were good - but their officers - nothwithstanding v.der Goltz deplorable: as venal and inefficient as they were in Abdul Hamid´s time" (Hervorh.v.m., B.S.).

Der Militärbericht Nr.109 meldete bereits am 10. Oktober,

"das Belg[ische] K[riegs]M[inisterium] und die Mehrzahl der belgischen Offiziere sind deutschfreundlich gesinnt".

   Goschen und Bethmann Hollweg trafen Mitte Oktober zu einem "tremendous talk of 2 hours" zusammen. Ein paar Tage später wiederholte sich dieser Vorgang mit Wilhelm II., der eingehend mit dem Botschafter über Politik sprach. "It was interesting but too secret for this book" (Hervorh.v.m., B.S.), notierte Goschen in seinem Tagebuch. In diesen Tagen urteilte der französische Botschafter Jules Cambon über Kiderlen:

"Dans les petites affaires il sera très coulant - mais dans les affaires importantes il est capable de nous faire des grandes cochonneries’!!"

Das sich abzeichnende Treffen zwischen Zar und Kaiser erörterte Unterstaatssekretär  Nicolson vom Foreign Office in einem Brief an Goschen. Der englische Botschafter reduzierte auf das Wesentliche, nämlich die Begegnung zwischen Sasonow und Kiderlen-Wächter. Überdies schien ihm ein Krieg zwischen der Türkei und Griechenland (unter Beteiligung Deutschlands auf türkischer Seite) nicht mehr zu erwarten.

   Doch die Spannungen - vor allem jene zwischen Frankreich und Deutschland - dauerten an. Cambon äusserte erneut zu Kiderlen:

"Ah! Mon ami - nous avons mangé notre pain blanc dans la Personne de Schoen - avec Kiderlen nous n´aurons que du pain noir!" (Hervorh.v.m., B.S.)

Aber auch zwischen den Westmächten und Russland bestand Misstrauen. Goschen und Cambon waren sich einig, wenn es darum ging, aus Osten-Sacken oder Schebeko etwas über Sasonows Besuch in Potsdam und Berlin herauszuholen. Am 1. November aßen Bethmann Hollweg und Kiderlen bei Osten-Sacken mit Sasonow. Goschen bemerkte, es werde schwer fallen herauszubekommen, was der russische Außenminister in Berlin wolle. Als der englische Geschäftsträger Ende Dezember Nicolsen in London traf, war dieser über Sasonow äußerst entrüstet. Auch Goschen meinte: "I think latter is not behaving well". Schoen, nun nach Paris versetzt, hatte aus Berlin eine Antrittsrede erhalten, die er vor dem Präsidenten der Republik Fallières zu halten hatte, deren freundliche Töne er jedoch abschwächte. Der deutsche Geschäftsträger begründete dies damit, er werde in der deutschen Öffentlichkeit bereits als zu frankophil bezeichnet.

   Im November fasste Brigadegeneral G.N.Nickolson die Kontakte des Jahres 1906, zwischen Frankreich und Großbritannien, noch einmal zusammen. Es habe sich damals um Vorbereitungen "für den Fall eines unprovozierten Angriffs Deutschlands auf Frankreich" gehandelt. "Die Arbeiten von 1906" hätten "eine gewisse Berücksichtigung für die Heimatarmee 1907" gefunden.

   Den vorgeblichen Gegenstand der "Entrevue von Potsdam" teilte dann, mehr oder weniger unscharf, Kiderlen am 8. November mit, als der englische Botschafter den deutschen Staatsekretär des Auswärtigen an dessen diplomatischem "jour fixe" aufsuchte. Goschen notierte dazu:

"Went to Kiderlen´s day - he gave me a very jejune account of his conversations with Sazonow - Statu quo in Balkans - support of present Turkish Gov´t Faute de Mieux´(wh. he explained by saying that a Gov´t directed by an anonymous Committee was not an ideal one!) - localization of quarrels amongst minor Balkan States - and necessity of making latter understand that sh´d Internal troubles arise in Turkey it is not their affair but that of G´t Powers. About Persia he said but little merely that he had told Sazonow that as long as integrity of Persia and open door was guaranteed Germany had nothing to do with ‘Persian Question’".

Kriegsentschluß bereits im Dezember 1911? Zusammenarbeit zwischen Reichskanzler, Generalstab und Kriegsministerium.

Am Vortage hatte der "Daily Chronicle"(Pansa) die Ausführungen Bethmann Hollwegs zu den englisch-deutschen Beziehungen unverkürzt gebracht, die der Kanzler Goschen gegenüber getätigt hatte. Berlin bemühte sich demnach, an allen Fronten den Druck auf Downing Street zu erhöhen, schließlich einem Abkommen mit Deutschland näherzutreten. "Zufällig" begegnete der Botschafter, anlässlich einer Jagd auf Schloss Trachenberg, dem Fürsten "Lignowsky" und späteren Botschafter in London. Unübersehbar demnach die "Regie", welche deutscherseits alles darauf abstellte, die Beziehungen mit Großbritannien über kurz oder lang, und "in any case", zu verbessern.

   Am 2. Dezember geht an Bethmann Hollweg die "Denkschrift des Chefs des Gen[eral].Stabs der Armee über die militärpol[itische]. Lage Deutschlands", "d[ie]. achte!"

Es fragt sich, wo sind die übrigen sieben geblieben, und was war deren Inhalt? Das Kriegsministerium erhält am 4. Dezember eine Abschrift. Der Reichskanzler dankt am 26.12.1911. Von Bethmann Hollweg hatte am 28. November, dem Vertreter Moltkes, Stein, die

"Abschrift der Berichte 707, 718, 773, 774, 775 des Marine-Attachés in London [und] 2 Berichte der Botschaft in London [übersandt]. Staatssekretär Tirpitz sendet in Abschrift ebenfalls [die Berichte] 707 und 718".

"Zugeschickt an Gen[eral].Major Stein ganz!" Am 14. Dezember folgt ein "Bericht des Reichskanzlers an S[eine].M[ajestät]. über [die] Unfreundlichkeiten der belgischen Presse und deren Abstellung" nach. Am 16. Dezember macht das Militärkabinett

"Mitteilung über die vom 1.10.[19]12 an neu beabsichtigte Friedenspräsenz- und Heeresvermehrung".

Der Generalstab antwortet am 22. Dezember, und macht dem Kriegsministerium "Vorschläge für die neue Friedensgliederung im Osten und Westen". Der "Entwurf am 23.12. an Oberst Ludendorf zurück". Am 18. Dezember waren vom Auswärtigen Amt "Berichte des Gesandten in Brüssel[,] nebst Anlagen[,] betr[effend]. [die] Haltung Belgiens zu Deutschland" eingetroffen. Kurz darauf kommt der

"Bericht des Geschäftsträgers in Paris über Aufmarschmassierungen und russ[isch].-franz[ösische]. Abmachungen".

Am 26. Dezember meldet der Botschafter in Bukarest Rumänien rechne "für [das] Frühjahr 1912 mit einem Krieg" (Hervorh.v.m., B.S.).

41 - Inspizient des Pionierkorps Mudra: Strategisch keine Probleme.

   Neue Funde aus den Jahren nach 1919, legen diese Zusammenhänge offen. Der Inspizient für Festungen und Pionierwesen, Mudra, meldete am 9. November seine Forderungen beim Generalstab an. Er betonte "die schwierige Lage", das Reich werde "den Krieg nach 2 Seiten führen" müssen. Der Krieg nach einer Seite - West oder Ost - stelle kein Problem dar. Dieser sei "offensiv und außerhalb des eigenen Gebietes zu führen" (Hervorh.v.m., B.S.). Der Grundgedanke des deutschen Aufmarschplanes war bekannt. Von der Schwerpunktbildung auf einer Seite leitete Mudra her, es sei "die vornehmste Aufgabe der Landesbefestigung diese Absicht mit allen Mitteln zu unterstützen". Der Inspizient des Festungswesens und der Pioniere legte damit die operative Absicht der deutschen Generalstabes offen. Mudra führte aus, es könne

"ein Zweifel darüber wohl nicht bestehen, daß wir mit unserem Hauptstoß in erster Linie Frankreich treffen müssen. Ist Frankreich in den ersten Schlachten geschlagen und ihm das Bewußtsein seiner Unterlegenheit uns gegenüber von neuem aufgepreßt, so ist m.E. die wichtigste Arbeit getan" (Hervorh.v.m., B.S.).

Im Westen wie im Osten: Eventuell Zurückgehen bis auf Rhein und Oder.

Im Westen würden "Metz-Diedenhofen...auf einer Strecke von rund 40 km Länge" die Heeresbewegungen begünstigen. Erneut spielte der Inspizient auf den geplanten Aufmarsch rund um Metz an. Selbst ein Ausweichen "auf den Rhein" wurde erwähnt. Ein Umstand, der 1914, im Zuge der Marneschlacht, durch Lyncker erwähnt werden sollte. Doch gerade die ersten Schlachten des Krieges seien deshalb von entscheidender Bedeutung, weil

"die großen Militärmächte...die Entwicklung ihrer Wehrkraft, ihre Mobilmachung, alle Kriegsvorbereitungen darauf an[legten], in den ersten großen Entscheidungen im freien Felde ihre gesamte militärische Kraft zum Einsatz zu bringen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Darin waren sich Moltke und Mudra einig. Dieser schloss:

"Daraus folgt, daß bei einem Kriege nach 2 Seiten die Lage für uns eine aussichtslose wird, wenn wir nicht spätestens am Rhein den Umschwung herbeiführen, und daraus folgt weiter, daß die Festungen wenigstens am Mittel- und Niederrhein kaum anders in Aktion zu denken sind, als in Verbindung mit der Feldarmee!" (Hervorh.v.m., B.S.)

Alle Anstrengungen wollte der Inspizient des Festungswesens auf Metz-Diedenhofen konzentriert wissen. Die Grenzbefestigungen in diesem Raum sollten bereits im Frieden armiert sein. Doch der "Schwerpunkt für den Friedensausbau" der "Landesbefestigung" liege jedoch "an der Ostgrenze". Mudra skizziertr die Planungen für den Ostkriegsschauplatz. Er führte an, es komme

"darauf an, in zähem Widerstande mit möglichst geringen Kräften das Vordringen der numerisch weit überlegen anzunehmenden Russen aufzuhalten und Zeit zu gewinnen für die Durchführung der zunächst entscheidenden Operationen auf dem westlichen Kriegstheater. Frankreich muß von uns in entscheidenden Schlachten geschlagen sein, ehe die Russen mit stärkeren Kräften die mittlere und untere Oder überschreiten" (Hervorh.v.m., B.S.).

Die herausragende Bedeutung des Festungsbaus im Osten unterstrich der Inspizient durch den Hinweis:

"Je länger wir im Osten mit Hilfe der Landesbefestigung die Situation hinhalten, desto mehr Zeit bleibt für die entscheidende Aktion im Westen, desto gründlicher kann dort die erste Abrechnung vor sich gehen, ehe man von den Franzosen ablassen muß, um sich gegen die Russen zu wenden!" (Hervorh.v.m., B.S.)

   Im Jahre 1899 hatte der Freund und Lehrer Mudras, Colmar von der Goltz, bereits diese Grundsätze deutschen Festungsbaus entwickelt, jedoch für die gleichzeitige fortifikatorische Ausgestaltung des westlichen, wie des östlichen, Kriegsschauplatzes plädiert. Diese Forderung hatte zu dessen Entlassung geführt, da Generalstab (Schlieffen) und Klriehgsminister (Einem) gegen Festungslinien aufgetreten waren. Die Anmerkungen des Oberquartiermeisters Stein zeigten 1911 die gleich ablehnende Position des Generalstabes. Die untere Weichsel, so Mudra, sei bereits gegen den frontalen Angriff der Russen verstärkt. Von Süden sei die Front "Kulm-Marienburg jedoch jederzeit zu umgehen. Die Verteidigung der Weichsellinie entbehre der Tiefe. Ein Durchbruch werde zur "Räumung der ganzen Linie" führen. Deshalb sei Graudenz zu erweitern und "zu einem doppelten Brückenkopf" auszubauen. "Die Weichsel-Befestigungen von Thorn bis Marienburg und...die Festung Posen" behinderten "einen Vormarsch der Russen in der allgemeinen Richtung Berlin".

   Momentan wären die Festungen Posen, Thorn und Graudenz derart schwach, dass die Russen "nach erfolgter Durchführung der lebhaft in Angriff genommenen Modernisierung ihrer schweren Artillerie...sogar gegen 2 von diesen Festungen den Angriff gleichzeitig aufzunehmen in der Lage sei[e]n". Die Modernisierung dieser Plätze, so der Pionier, sei überfällig. Königsberg, als Brückenkopf in der rechten Flanke der vorstoßenden Russen, stehe

"nach Ausführung des Hafenabschlusses durch die Frische Nehrung in einem gewissen Zusammenhange mit der Weichselverteidigung; dies kann bei Aufnahme der Offensive unsererseits größere Bedeutung gewinnen - ganz abgesehen davon, daß durch den Haffanschluß das Samland mit seinen reichen Hilfsmitteln dem Gegner entzogen bleibt" (Hervorh.v.m., B.S.).

Cüstrin - und eine ernsthafte Belagerung dieser Position - wurden durch Mudra deshalb nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, da, gelange "der Feind einmal mit bedeutenden Kräften in die Nähe von Berlin, so" werde "der Krieg entschieden sein, wenn es nicht" glücke, "den Gegner bald in freiem Felde zu schlagen" (Hervorh.v.m., B.S.). Glogau und Breslau wurden nur in begrenztem Maße herangezogen. Diese erhielten dennoch indirekte Bedeutung durch die "mit französischem Geld" vervollständigten Bahnlinien "in das Festungs-Dreieck Warschau-Brest-Iwangorod". Feldbefestigungen, bereits im Frieden "an den Obra-Abschnitten", wurden beantragt. Offenbar wollte sich der Inspizient der Zustimmung Moltkes versichern. Im November 1911 war augenscheinlich der Umriss der künftigen Kriegführung festgelegt und die Phase unmittelbarer Kriegsvorbereitung sollte eingeleitet werden.

42 – Ende 1911 die Wende: Der Kriegsminister für die Nachrüstung.

   Aufgefordert durch den Reichskanzler, zog am 19. November der Kriegsminister seine Folgerungen aus der Marokkokrise des Sommers. Bislang seien "normale[r] Verhältnisse" Grundlage der letzten Schätzungen zum Bedarf der Armee gewesen. "Mit den neueren politischen Vorgängen" habe auch eine öffentliche Diskussion "Erwägungen" zum "Friedenspräsenzgesetz 1911" in Gang gesetzt. Vorschalten wollte Bethmann Hollweg die Beratung zu einer Marinevorlage. Das veranlasste Heeringen, in Übereinstimmung mit dem Chef des Generalstabes, auf das Gespräch über die Nachrüstung der Armee hinzulenken.

Blick zurück.

In einer Anlage betonte der Kriegsminister, die Heeresvorlage 1911 sei von vornherein "als unzureichend bezeichnet" worden. Aus fiskalischen Gründen habe auch der Kriegsminister seine Vorstellungen zurückschrauben müssen. Ohne akute politische Spannungen sei dieses Gesetz zu vertreten gewesen. "Der erste wirkliche Zuwachs an Kampfkraft" sei "erst im Jahre 1914" und 1915 geplant gewesen. Allein mit Zahlen des militärtechnischen Vergleichs sei, im Reichstag und dessen Ausschüssen, 1909 keine Armeevergrößerung durchzusetzen gewesen. Allerdings sei schon zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen:

"Daß wir uns auf einen französischen Angriff - event[ue]l[l]. unterstützt durch Rußland und England - einzurichten und dabei nur auf die Hilfe von Oesterreich, aber keineswegs sicher auf die von Italien zu rechnen hätten" (Hervorh.v.m., B.S.).

Heeringen suchte sich gegen den Vorwurf mangelnder Voraussicht zu sichern. "In den Stärkeverhältnissen" zu Frankreich, Russland und England sei "seit 1909 keine durchschlagende Verschiebung" erfolgt. Heeringen unterstrich die nun veränderte Rüstungslage:

"Die russische Armeeorganisation ist fast vollendet. In Frankreich scheinen sich die Absichten, das afrikanische Menschenmaterial zur Stärkung der in Europa verfügbaren Streitmittel zu verwenden, zu verdichten. Belgien und Holland haben sich, angeregt durch die Spannung 1911, auf die Wahrung ihrer Neutralität wesentlich mehr vorbereitet" (Hervorh.v.m., B.S.).

- Folgen der Marokkokrise.

Diese Folge der zweiten Marokkokrise, so sah es der Kriegsminister, werde, "in wenigen Jahren..., schon aus rein ziffernmäßigen Erwägungen eine Verstärkung des deutschen Heeres unabweisbar" werden lassen. Das Problem zahlenmäßiger Unterlegenheit gegenüber den möglichen Gegnern, wurde keineswegs zurückgewiesen, sondern als Argument für eine Armeeverstärkung ins Feld geführt. Vorgeblich hatte der Kriegsminister bereits 1910 mehr gewollt. Jedoch seien die Bemühungen seit 1905 "verhältnismäßig wenig vorwärts" gekommen, gestand Heeringen zu. Bereits mit dem "technischen Quinquennat" von 1911 wurde für dessen Durchführung das Jahr 1916 anvisiert. Nun sei in der Planung auf 1914 hin disponiert worden, und 1915 für den Abschluss vorgesehen. Die Lage habe sich jedoch mit der Marokkokrise, in der zweiten Jahreshälfte 1911, grundlegend verändert. Das Reich habe sich inzwischen - und das gestand der Kriegsminister zu - auf einen "französischen Angriff - event[ue]l. unterstützt durch Rußland und England - einzurichten" und könne "dabei nur auf die Hilfe von Oesterreich, aber keineswegs sicher auf die von Italien" rechnen. Überraschend für den Leser stellt Heeringen fest, seit 1909 sei "keine durchschlagende Verschiebung" zuungunsten Deutschlands eingetreten.

Hochrüstungsphase in Europa.

Die Veränderungen in Frankreich (Armeeverstärkung) und Russland (Umorganisation) bildeten "noch keine greifbaren Tatsachen". Allerdings regten die Vorgänge des Sommer 1911 zu nicht mehr als der "Frage" an, "ob die militärpolitischen Verhältnisse auch jetzt noch ebenso zu beurteilen" seien. Die Entwicklung Frankreichs in Marokko werde die französischen Streitkräfte verstärken können. Russland, Belgien und Holland hätten deren Reorganisationen nahezu abgeschlossen. Dennoch sei "das deutsche Heer nach des Kriegsministers und des Chefs des Generalstabes der Armee Ueberzeugung" den "vorausssichtlichen Gegnern" Deutschlands "noch gewachsen". Heeringen näherte sich der Position Moltkes insofern an, als auch er keineswegs die Bedeutung "numerisch[r] Ueberlegenheit...im Kriege" leugne.

Kritik Repingtons als Katalysator.

   Entscheidenden Einfluss übte hier die beißende Kritik ausländischer Militärbeobachter an der deutschen Armee, die nach den Kaisermanövern 1911 in Vorpommern von englischer Seite zutage gefördert wurde. Heeringen sprach von "politischen Hetzereien im Ausland" und leitete von dort die gegnerische Kriegsbereitschaft her. Aushangspunkt für Kriegsvorbereitungen schien dem Kriegsminister England zu sein. Als Anlass könne ein weiterer Ausbau der deutschen Flotte dienen. Das Rezept der deutschen militärischen Führung für diesen Fall war, nach Ansicht Heeringens,

"daß wir unter Hinwegsetzung über alle Bedenken alsbald Frankreich vor die Klinge nehmen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Der "preemptive strike" war demnach deutsches Programm. Diese Vorstellung entsprang der Überlegung, das "neben einem Seekriege auch mit einem Landkriege zu rechnen" sei.

"In letzterem wird aber unbedingt die Entscheidung liegen....Auf dem Sieg oder Mißerfolg des deutschen Heeres ruht das Schicksal der Krone der Hohenzollern, das Wohl und Wehe unseres Vaterlandes",

führte Heeringen dem Reichskanzler eindringlich vor Augen. Der Kriegsminister prägte für die anstehenden Wehrgesetze die Formel: nicht allein die Flotte sondern auch die Armee. Bis zum 1.10.1912, demnach mit einiger Beschleunigung, sollte nunmehr zunächst die Armee nachgerüstet werden.

43 - Moltkes Rüstungsprogramm: Kriegswille, Abstimmung, Entschluß.

   Anfang Dezember griff daraufhin auch der Generalstabschef zum Mittel der Denkschrift, um dem Politiker zum Jahresende die militärische Lage zu entwickeln. Offen ist, ob dies alljährlich zu diesem Zeitpunkt geschah. Moltkes einleitende Ausführungen stellten seine Darstellung in den Duktus abgestimmten Vorgehens innerhalb der politischen und militärischen Führungsspitze des Reiches. "Politische und militärische Verhältnisse" seien nicht zu trennen. Ausdrücklich sprach Moltke für die Synopse beider Sichtweisen. "Deutschlands Ziele" seien 1911 "weiter gesteckt als früher". So sei

"der Leiter der militärischen Operationen...vor eine Aufgabe gestellt, die fruchtbringend nur gelöst werden kann, wenn seine Vorarbeiten sich in Uebereinstimmung mit den politischen Richtlinien des Staates befinden. Die Vorbereitungen für Aufmarsch und Operation bedürfen einer langwierigen und sorgfältigen Arbeit, sie können nicht von heute auf morgen verändert werden und auch die Führung unserer Politik wird auf sie rücksichtigen müssen. Schon der Zeitpunkt, wo die Politik durch Waffengewalt fortgesetzt werden soll, kann von ausschlaggebender Bedeutung für den Ausgang sein" (Hervorh.v.m., B.S.).

Nichts anderes als hochmodern waren diese Einsichten des verantwortlichen militärischen Führers. Wurde diese Denkschrift deshalb von einem Teil der Forschung, da unliebsam für deren apüologetische These vom polykratischen Chaos, bewusst vernachlässigt? Die Kooperation von Politik und Militär im Kaiserreich wird hier durch Moltke bestätigt.

Frankreich: Zunehmender Offensivgeist.

   Von Frankreich ausgehend, welches das zentrale Problem deutscher Strategie darstelle, sah Moltke keine aktuelle Bedrohung. Anders England, von wo der französische Revanchegeist wiederbelebt würde. Zum Beispiel durch die Propaganda eines Repington. Deutschland verfolge seinem westlichen Nachbarn gegenüber keine offensiven Ziele. Wenn auch die deutsche Weltpolitik durch den Generalstabschef offensiver aufgefasst wurde, blickte doch immer wieder die Sorge zwischen den Zeilen hervor, der französische Offensivgeist könne wieder erstarken, "Armee, Regierung, Generalstab und Kriegsministerium" Mut fassen, die deutsche Armee im Rahmen der Entente mit England anzugreifen. Moltke konkretisierte:

"Die Zuversichtlichkeit, die durch die Niederlage des russischen Verbündeten einen empfindlichen Stoß erlitten hatte, hat sich mit dem Wiedererstarken des Zarenreiches gehoben, vor allem ist sie gekräftigt worden durch die Gewißheit englischer aktiver Unterstützung in einem Kriege mit Deutschland" (Hervorh.v.m., B.S.).

Einfluß der Kritik Repingtons.

Welche Bedeutung der westeuropäischen Kritik an der deutschen Armee, auch an höchster Stelle, beigemessen wurde, bestätigte der Generalstabschef:

"Zahlreiche Flugschriften, Aufsätze in den Tageszeitungen und in Zeitschriften, auch größere, wissenschaftlich[e] gehaltene, zum Teil von höheren Offizieren verfaßte Werke suchen die Ueberlegenheit der französischen über die deutsche Armee nachzuweisen. In demselben Sinne sind Aeußerungen der englischen Presse laut geworden. In einer längeren Reihe von Aufsätzen über die diesjährigen deutschen Kaisermanöver kommt ein Militärschriftsteller von Ruf, der englische Oberstleutnant Rep[p]ington, zu dem Schluß, die deutsche Armee sei der französischen vielfach unterlegen, in manchen Dingen stehe sie nur auf der Stufe eines Staates zweiten Ranges" (Hervorh.v.m., B.S.).

Den Franzosen solle so suggeriert werden, "die Vortrefflichkeit der eigenen Armee" könne "sich mit jedem Gegner messen". Der Gedanke eines französischen Überfalls klang erneut an. Moltke unterstrich, "die chauvinistische Stimmung" könne "mit oder ohne Willen der Regierung den Krieg unerwartet herbeiführen, der entscheidend sein" werde "für Deutschlands Zukunft". Doch einen lokalisierten deutsch-französischen Krieg hielt der Generalstabschef nicht mehr für möglich.

Das Bild der Blöcke.

Er nahm an:

"Kommt es zum kriegerischen Zusammenstoß beider Staaten, so werden auch die übrigen Großmächte in einer Weise in Mitleidenschaft gezogen, die ihnen ein aktives Handeln aufzwingen"

werde. Seine Prognose ging dahin, "der Dreibund Deutschland, Oesterreich, Italien" werde "der Koalition Frankreich, England, Rußland gegenüberstehen". Den Dreibund sah Moltke geteilt, hinsichtlich der jeweiligen Aufgabenstellung zwischen Deutschland und Österreich gegen Rußland und Deutschland-Italien gegen Frankeich. Falls Rußland nicht am Kriege teilnehme, bestünde für Österreich "keine vertragliche Verpflichtung zu einer Unterstützung Deutschlands". Das würde bedeuten, Deutschland und Italien würden gegen Frankreich kämpfen, das "sicher" von England "aktiv" unterstützt sein werde. Dadurch, und über den Ausgleich der französisch-italienischen Spannungen seit 1902, erscheine die Unterstützung durch Italien unsicher. Diese Entwicklung werde verschärft durch die "Spannung zwischen Oesterreich und Italien". Italien lasse sich inzwischen von Dreibund und "Ententemächten" umwerben. Das sei die Situation.

Krieg mit Frankreich/England leistbar.

Moltkes schlussfolgerte:

"Deutschland wird also gut tun sich darauf vorzubereiten, daß es einen Krieg gegen Frankreich und England zunächst alleine zu führen haben wird. Einen solchen Krieg haben wir nicht zu fürchten, so lange Rußland neutral bleibt und damit für Deutschland Rückenfreiheit geschaffen ist" (Hervorh.v.m., B.S.).

   Die Unbekannte in der Rechnung des Generalstabes hieß: was enthält der Zweibundvertrag zwischen Rußland und Frankreich für den Bündnisfall? Die aktuellen politischen Vorgaben wandelten sich demnach von Jahr zu Jahr. Sollte Russland eingreifen, dann würde das bedeuten, daß Österreich an Deutschlands Seite träte. Stehe Italien zum Dreibund, dann würde Österreich "den größten Teil seiner Kraft gegen Russland verwenden" können. Moltke befürchtete allerdings für den Fall, dass Italien abschwenke, werde dessen "Stoßkraft...gegen Rußland gelähmt werden". Es zeichne sich ab, dass Österreich in diesem Fall "seine Hauptkräfte gegen Italien" einsetzen werde. In jedem Falle werde "Deutschland die Eröffnung des Feldzuges mit allen verfügbaren Mitteln gegen Frankreich" einleiten. Äußerst schwach gegen Russland auftretend, sollte "die Entscheidung des Krieges" gegen Frankreich und England gesucht werden. Moltke verkündete sein Credo:

"Die Republik ist unser gefährlichster Gegner, aber wir können hoffen, hier eine baldige Entscheidung herbeizuführen. Ist Frankreich in den ersten großen Schlachten geschlagen, so wird das Land, das über keine großen Reserven an Menschenmaterial verfügt, kaum imstande sein, einen lang andauernden Krieg weiterzuführen, während Rußland ihn nach einer verlorenen Schlacht in das Innere seines unermeßlichen Gebiets verlegen und ihn auf unabsehbare Zeit in die Länge ziehen kann. Das ganze Streben Deutschlands muß aber darauf gerichtet sein, mit einigen großen Schlägen den Krieg wenigstens nach einer Seite hin sobald wie möglich zu beendigen" (Hevorh.v.m., B.S.).

Die türkische Armee - Ass im Ärmel Berlins.

Operationsziel: Das britische Empire.

Die Hauptgefahr des parallel ablaufenden italienisch-türkischen Krieges um Tripolis sah der Generalstabschef darin, dass Deutschland "entweder einen Bundesgenossen oder einen Freund" verlieren könne. Entscheidend sei, und das erwähnte Moltke herausgehoben, der "militärische[n] Wert" der Türkei in "einem europäischen Kriege". Für das osmanische Reich als Bündnispartner Deutschlands sprach aus der Sicht des Generalstabschefs,

"seitdem Rußland in ein freundschaftliches Verhältnis zu England getreten ist und letzteres dadurch von seinen Besorgnissen um Indien entlastet hat, ist die Türkei die einzige Macht, die England zu Lande gefährlich werden kann. Eine türkische Offensive aus Syrien würde die englische Etappenlinie nach Indien, an der empfindlichsten Stelle, dem Suezkanal, bedrohen und die englische Machtstellung in Aegypten gefährden" (Hervorh.v.m., B.S.).

Wie durchdacht die türkische Karte im deutschen Machtkalkül bereits war, zeigte Moltkes Berechnung für den Vorstoß der Türkei gegen Ägypten. 80.000 Mann türkischer Verbände würden zunächst 6.000 Mann englischer Truppen gegenüberstehen. Diese Kräfte würden "aus den Kolonien auf 20.000 Mann gebracht werden" können. Berlin glaubte annehmen zu dürfen, England würde es nicht "wagen können, in einem Kriege gegen den Kalifen aller Gläubigen die eingeborenen ägyptischen Truppen zu verwenden". Allerdings sei dieser Vorstoß über 350 Kilometer zu führen; benötige also Zeit. Entscheidender erschien jedoch dem Generalstabschef, dass "schon die Versammlung starker türkischer Kräfte in Syrien...es England unmöglich machen" werde, "seine Heimatarmee in voller Stärke auf europäischem Boden einzusetzen" (Hervorh.v.m., B.S.). Damit enthüllte Moltke einen wesentlichen Teil seiner strategischen Rahmenkonzeption. Es ging ihm darum, die Türkei wie mit einem Dreizack einzusetzen. Russland in Armenien und England in Ägypten und Persien zu binden, und so, neben der russischen Westarmee in Polen,  das Auftreten der British Expeditionary Forces in Nordfrankreich zu schwächen.

   Selbst Aden, der britische Seestützpunkt am Ausgang des Persischen Golfes, sollte durch die Türkei genommen werden. Im Jemen standen 30-40.000 Mann türkischer Truppen, die geeignet erschienen, sowohl die türkischen - wie auch die deutschen - Ziele zu verwirklichen, nämlich Ägypten und Aden zu bedrohen und den Seeweg nach Indien zu gefährden. Hinter diesen Überlegungen stand offenbar der Plan, vermittels der Revolutionierung der islamischen Welt, das britische Weltreich ins Mark zu treffen. Die türkische Armee - so Moltke - habe inzwischen ihre "Schlagfertigkeit erhöht".

In Armenien gegen Rußland.

Sie beabsichtige ferner,

"im Falle eines Krieges mit Rußland ein Heer von 100 000 Mann in Armenien aufzustellen. Rußland kann diesem nur seine drei, im Kaukasus stehenden Armeekorps entgegenstellen. Sie werden umso weniger ausreichen, als starke Kräfte zur Niederhaltung der, mit ihren Sympathien der Türkei zuneigenden, mohammedanischen Bergvölker erforderlich sein werden. Rußland wird daher gezwungen sein, Teile seiner Zentralarmee nach dem Kaukasus zu werfen, die dann auf der deutsch-österreichischen Front ausfallen. Wenn die Türkei von den 700 000 Mann, die sie aufstellen kann, 100 000 gegen Rußland, 100 000 gegen Aegypten, 50 000 gegen Aden einsetzt, so bleiben ihr noch 450 000 Mann in Europa verfügbar, denen Bulgarien seine 350 000 Mann nicht vollzählig wird entgegenstellen können, da es sich gegen Rumänien decken muß" (Hervorh.v.m., B.S.).

Die Türkei, als strategischen Machtfaktor von "Gewicht", erwartete Moltke "in einem europäischen Kriege" auf Seiten Deutschlands und Österreichs. Das habe auch England erkannt, das der türkischen Armee gestatte, "eine gut arbeitende Etappenlinie nach der Cyrenaika einzurichten".

Das Resümee Moltkes.

Letztlich, und das ist des deutschen Generalstabschefs "worst case"-Szenario, blieben "als sichere Factoren, mit denen zu rechnen" sei, "nur die vereinigten Streitkräfte Deutschlands und Oesterreichs, die einer Koalition Frankreich, England, Rußland entgegengestellt werden" könnten. Diese Kräfte würden in voller Stärke, ausschließlich und ohne Ablenkung, gegen die Zentralmächte Deutschland und Österreich aufmarschieren können.

   Das Kräftegleichgewicht sei für diese ein äußerst prekäres. Auch die Zuflucht, numerische Überlegenheit sei nicht alles, und

"die Wehrhaftigkeit einer ganzen Nation, Kriegstüchtigkeit, Tapferkeit, Aufopferungsfähigkeit, Disziplin, Geschicklichkeit der Führung sind höher zu bewerten als die tote Zahl",

konnte nicht des Problems Lösung bringen. Moltke gestand das ein. Nur die Gegenüberstellung der beiderseitigen Machtmittel" bedeute "eine positive Unterlage".

Rußland quantitativ überlegen.

So habe Rußland, neben der Reorganisation der bestehenden Armee, die "Dislokation seiner Truppen vorgenommen". Die "Mobilmachung" sei beschleunigt, das Eisenbahnnetz ausgebaut und der "Aufmarsch an der West- und Südwestgrenze...in der Hälfte der Zeit" durchführbar. Verbessertes Kriegsmaterial, "besonders mit schweren Geschützen und mit einem modernen Feldgeschütz" eingeführt, und werde ergänzt um eine stringente Verjüngung des Offizierkorps, neue "Reglements und Dienstvorschriften". Eine mobile Belagerungsartillerie, der die ostpreußischen Befestigungen nicht gewachsen seien, und andererseits die Verstärkung der Narew- und Njemenbefestigungen, würden durchgeführt. Moltke widerrief die bisherige Überzeugung der deutschen Militärbehörden, "Rußland sei noch auf lange hinaus zu einem europäischen Kriege nicht fähig".

Die britischen BEF's in Belgien.

   Auch England habe "alles getan, was im Rahmen seiner staatlichen Einrichtungen möglich war". Die Territorialarmee sei innerhalb und außerhalb der Insel einsetzbar, "6 Divisionen mit 130 000 Mann" könnten auf dem Kontinent eingesetzt werden. Dass die Lage grundsätzlich verändert sei, stellte der Generalstabschef unmissverständlich fest. Moltke führte aus:

"Seit dem Abschluß seiner Entente mit Frankreich hat es seine maritimen Streitkräfte fast ganz aus dem Mittelmeer zurückgezogen und sie im Kanal zwischen Frankreich und Deutschland, von dem es eine Niederlage Deutschlands und Gelegenheit zur Vernichtung seiner jungen Flotte erhofft, nicht ungern sehen würde, daß es bereit ist, an diesem Kriege mit voller Kraft teilzunehmen, hat seine Politik deutlich bewiesen".

Dennoch glaubte Moltke nicht, England werde "auf eigene Faust einen Krieg mit Deutschland herbeiführen". Die sichere Beteiligung Frankreichs sei dafür die Vorbedingung. Der Vertreter der Armee zeichnete die Gefahren, welche in diesem Zusammenhang von "einer weiteren Verstärkung der deutschen Seemacht" ausgingen. Der Chef des Generalstabes führte aus:

"In diesem Fall aber würde England den Krieg nur zu Wasser führen, es würde die deutschen Häfen blockieren, den Handel Deutschlands schädigen. So würde es versuchen, das Land finanziell zu ruinieren, Gelegenheit suchen seine Flotte zu zerstören, seine Kolonien beschlagnahmen, aber es würde keine Truppen auf deutschem Boden landen. Und Deutschland würde trotz seiner starken Armee den Gegner niemals militärisch niederzwingen können. Denn wenn es selbst der deutschen Flotte gelingen wird, ihm empfindliche Verluste zuzufügen, so wird doch England bei seiner ungeheuren Ueberlegenheit auf dem Wasser immer noch die See beherrschen, so daß auch dann noch eine Landung deutscher Truppen auf der Insel ein undurchführbares Unternehmen bliebt. Bei einem Kriege gegen England allein fehlt Deutschland ein Kriegsobjekt. Nur durch eine Besetzung Belgiens und der Niederlande, durch eine Besitznahme der Scheldemündung könnte man England empfindlich treffen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Diese jedoch, so Moltke, werde "gleichzeitig den Krieg mit Frankreich herbeiführen". Denn "wollte Frankreich gestatten, daß Deutschland mit einer mobilen Armee in Belgien" stehe, "so würde es völlig lahm gelegt sein. Eine Mobilmachung würde ihm dann unmöglich, denn mit dem ersten Tage derselben würden wir schon auf französischem Boden stehen". Damit war das tatsächliche Konstrukt für den sogenannten "Schlieffenschen Ansatz" ausgesprochen.

   Deutschland griff nicht nur aus militärtechnischen Gründen über Belgien hinweg Frankreich an. Es gab verschiedene Stufen der Entwicklung im militärpolitischen Raum, welche die deutsche Seite zu dieser Antwort führten. Nicht zuletzt die Rücksicht auf den tatsächlichen Gegner des Reiches: England. Moltke fasste zusammen, und die Formulierung lässt auf die Diskussionen innerhalb der deutschen Führungsspitze schließen:

"Es würde ein grosser Fehler sein, wollte Deutschland solange warten, bis Frankreich über das weniger kriegsbereite Land herfällt. Der Krieg mit Frankreich muß sowieso kommen, sobald der Krieg mit England ausbricht. Ein mobiles Deutschland an seiner Seite kann Frankreich nicht ertragen, es wird ebenfalls mobilisieren und damit wird der Krieg unvermeidlich. Vielleicht gelingt es Deutschland, wenn es zu ihm die Initiative ergreift, einen Vorsprung in der Mobilmachung zu erlangen" (Hervorh.v.m., B.S.).

Ganz selbstverständlich forderte Moltke, die gesamten Anstrengen Deutschlands auf die Tatsache auszurichten, dass "die Entscheidung" in einem künftigen Kriege" auf dem Lande" liege "und von der Armee herbeigeführt werden" müsse. Schließlich beruhe "auf der Stärke seiner Armee...nach wie vor die Machtstellung Deutschlands". Daran hatte schließlich über die Jahre der gesamte aufwendige Flottenbau nichts geändert.

Frankreich.

   Frankreich, das bis 1905 in seinen Rüstungsanstrengungen nahezu erlahmt war, habe, so der Generalstabschef, nach der ersten Marokkokrise das Steuer herumgerissen und "allein für den Ausbau und die Ausrüstung seiner großen Grenzfestungen über 200 Millionen Francs" aufgewandt. Die zweite Marokkokrise habe nun zu "wiederum eine[r] gesteigerten Tätigkeit auf dem Gebiet der Landesverteidigung" geführt. Der Königsplatz fasste, bereits im November 1911, in seltener Schärfe zusammen:

"Die Artillerie des Feldheeres ist um 150 Batterien erhöht und damit die bisherige Ueberlegenheit Deutschlands wettgemacht, die Infanterie und Kavallerie sind mit Maschinengewehren ausgerüstet, die Aviatik ist im weitesten Maße in den Dienst des Heeres gestellt, die Kommandoverhältnisse der Armee sind umgestaltet worden. Frankreich hat sich in einer beispiellosen Weise gegen einen deutschen Einmarsch verbarrikadiert. Seine vier großen Grenzfestungen Verdun, Toul, Epinal und Belfort sind mit allen Mitteln moderner Technik ausgebaut und durch eine Reihe von Sperrforts miteinander verbunden. Aber es begnügt sich nicht mit diesem Schutz, es arbeitet mit aller Kraft an der Ausbildung seiner Armee, zu deren besserer Ausgestaltung eine ganze Reihe von Maßnahmen teils geplant teils in der Durchführung begriffen sind. Dabei nutzt es seine Volkskraft in einer Weise aus, hinter der Deutschland weit zurückbleibt" (Hervorh.v.m., B.S.).

Belgien, Holland, Schweiz.

Nun sei auch in Belgien und Holland ein scharfer Ruck in Richtung auf gesteigerte Rüstungen festzustellen. Gleichfalls unternehme die Schweiz auf dem Sektor des Artilleriematerials verstärkte Anstrengungen. Moltke gipfelte:

"Alle bereiten sich auf den großen Krieg vor, den alle über kurz oder lang erwarten".

Und weiter:

"Doch liegen die politischen Verhältnisse Europas heute so, daß die Entscheidung über seine künftige Gestaltung wohl nur durch einen Krieg der verschiedenen Staatengruppen untereinander geschaffen werden wird" (Hervorh.v.m., B.S.).

Kurswechsel in Berlin: Grundsätzliche Reform der Armee.

Es ging demnach bereits 1911 nicht um bloße "Verteidigung", sondern um "Gestaltung". Was heißt: Deutschland beabsichtigte, verbunden mit Österreich, Europa nach seinen Vorstellungen zu verändern. Der Vorschlag, Armee und Flotte "Hand in Hand" auszubauen, erscheint eher taktischer denn tatsächlicher Natur. Jedenfalls bildete die Quintessenz der Denkschrift Moltkes vom November 1911 ein klares Plädoyer für stringente Aufrüstung, in enger Abstimmung mit der politischen Führungsspitze des Reichs.

   Bereits Anfang Januar 1912 war klar, dass künftig die Armee in die Rüstungspriorität zurückkehren müsse. Den Vorstoss Moltkes vom 19. Dezember 1911 hatte Heeringen bereits am 29. November beantwortet. Nun bekräftigte der Kriegsminister noch einmal, es ginge nicht darum, "Lücken zu schließen" und dem "Fortschritt der Technik" zu folgen. Es handele

"sich vielmehr um die aus ernsten politischen Verwicklungen sich ergebende Staatsnotwendigkeit einer nachdrücklichen Verstärkung der Wehrkraft nach Kopfzahl und Gliederung. Eine solche Vorlage fordert, einmal beschlossen, so schnell durchgeführt zu werden, als es die Verhältnisse des Heeres gestatten" (Hervorh.v.m., B.S.).

1.10.1912: Armee kriegsbereit.

Der Kriegsminister, ganz auf der Seite des Generalstabschefs, forderte von Bethmann Hollweg , "daß die Heeresvorlage in ihren wesentlichen Teilen vorweg oder spätestens mit Beginn der Flottenverstärkung und überhaupt nicht später wie am 1.10.1912 verwirklicht wird". Die 105 Millionen Mark, die der Reichsschatzsekretär angeboten habe, würden "dem Bedürfnis der Armee und der Marine" nicht annähernd genügen. Die Armee werde für die beschleunigte Durchführung des "Friedenspräsenzgesetzes von 1911" 99,4 Millionen Mark benötigen. Wesentliche Änderungen des Gesetzes von 1911 waren die "Etatserhöhungen der nahe der Grenze stehenden Infanterie" und der völlige Verzicht auf "neue Kavallerie-Formationen". Die Durchführung der Aufstellung von zwei Armeekorps, mit deren Korpstruppen, seien "lückenlos" durchzuführen, forderte Heeringen. Auch "die Erhöhung der Gemeinen-Löhnung", um das Eindringen der sozialdemokratischen Agitation in die Kasernen zu verhindern, und den "guten Geist[es] in der Armee" zu erhalten. Auch die Stimmung im Volke gelte es zu stützen, da im Ausland die Meinung aufgekommen sei, "Deutschland sei am Ende seiner finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt".

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang