Des Zornes und der Empörung Wellen

Es gibt keinen Mißbrauch der Sozialeinrichtungen. Es gibt auch keinen Mißbrauch des Finanzwesens. Was wir derzeit erleben beziehungsweise, was uns jetzt erst zu Bewußtsein kommt – , ist etwas ganz anderes: der durch und durch konsequente Gebrauch der Mittel und Werkzeuge, welche aufgrund bestehender Gesetze und Regeln öffentlich zur Verfügung stehen.

Veröffentlicht:
von

„Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man läßt!“ So spottete der Humorist und Zeichner Wilhelm Busch (1832 – 1908). Der österreichische Philosoph und Staatswissenschaftler Leopold Kohr (1909 – 1994) schrieb, Tugend sei nichts als die Folge mangelnder Gelegenheiten; in launigem Stil erzählt der Autor in seinem Werk „Das Ende der Großen“ eine Anekdote aus seiner Kindheit, welche diese Einsicht plastisch veranschaulicht.
Man stelle sich vor, jemand ließe seine prall gefüllte Geldbörse gut sichtbar und offen auf einer Bank im Großstadtpark liegen, derweil der Besitzer sich selbst zu einem Nickerchen ins Gras legte. Erwartet man allen Ernstes, daß die Geldbörse lange an ihrem Platz liegenbliebe?

Die Moral am Buffet

Und wie verhält es sich mit der Vorstellung, daß Menschen in der Anonymität des Gesellschaftslebens freiwillig darauf verzichteten, sich mehr zu nehmen, als ihnen zugedacht ist? Transferzahlungen, Zuwendungen, Subventionen … all die schönen „kostenlosen“ Angebote des Sozialstaats, soll man denn darauf verzichten? Und das freiwillig? Der gesetzliche Rahmen, der das Erlaubte abstreckt, ist sehr elastisch, wie angesichts der aktuellen Vorgänge inzwischen jedermann erfährt, der es wissen will. Wie kommt es, daß jedermann sich über jedermanns Nehmermentalität empören zu müssen glaubt? Nimmt nicht jeder von ihnen ebenfalls ohne Zögern all das an sich, was sich in Reichweite befindet – zumal bereits in der Schule vermittelt wird, daß jedermann Rechte habe?

Am „kostenlosen“ Buffet übt man keine Zurückhaltung, Hosenbund hin, Hosenbund her. Wenn dennoch ein rücksichtsvoller Zeitgenosse meint, das letzte Bratwürstchen NICHT nehmen zu sollen, weil er bereits eines vertilgt hat, und er es jemandem überlassen möchte, der bislang leer ausgegangen ist, dann tritt garantiert seitlich eine Person heran, die sich ebendiese Wurst angelt. Und man kann getrost davon ausgehen, daß diese Person bereits drei Würstchen vertilgt hat. In der horizontalen Umverteilungs- und Versorgungsgesellschaft ist solches Verhalten nicht nur normal, sondern ein Naturgesetz! Was nicht ich nehme, das nimmt sofort ein anderer. In Grenzsituationen entscheiden Tempo und Entschlossenheit des Zupackens über die nackte Existenz. Das Vorhandensein eines Vakuums ist von der Natur nicht vorgesehen. Das Gesetz spontanen Eindringens in fremde Lebensräume und rücksichtslosen Ansichreißens begehrter Mittel gilt in der zerfallenden Ordnung der Zuteilungsgesellschaft gleichermaßen für Bratwürstchen wie für frischgedruckte Geldscheine.

Ein Lehrer wundert sich

Zur Zeit lese ich ein Buch, das ein Gymnasiallehrer im Selbstverlag herausgegeben hat. Er beschreibt die Alltagsmisere in den deutschen Bildungseinrichtungen, allen voran die Agonie des Gymnasiums. Seine Beobachtungen sind korrekt, seine Analysen scharfsinnig – allerdings quillt aus allen „Poren“ des dicken Wälzers der unverdaute und wunderliche Ärger über die Zustände. Der Autor beschreibt sie so: Erstens „Ungezogenheit“ und „Dummheit“ auf seiten der Schüler. Zweitens „Unverschämtheit“ und „Drohgebärden“ auf seiten der Eltern. Drittens „Feigheit“, „Arglist“ und „Intrigenspiel“ bei Kollegenschaft und Schulleitung. Dieser Lehrer hat sich den persönlichen Berufsärger in einem Schwulst erbitterter Anklagen von der gequälten Seele geschrieben, was als therapeutische Maßnahme an sich recht sinnvoll ist. Der empfindsame Leser verspürt bei der Lektüre förmlich das verwunderte Dauerkopfschütteln des Autors, welcher nicht fassen kann, wie Menschen derart „niederträchtig“ handeln können, wie sie es unter gewissen Umständen nun einmal tun! Dieser Lehrer erwartet allen Ernstes, daß niemand die Geldbörse des Schläfers an sich nehmen werde. Dieser Lehrer stellt sich vor, daß jeder Buffetgast sich freiwillig mit einer einzigen Wurst begnüge. Dieser Lehrer versteht nicht, daß Eltern das „kostenlose“ Schulsystem und seine Vertreter nicht ernstnehmen können und es daher für eigennützige Zwecke manipulieren. Dieser Lehrer erwartet allen Ernstes, daß Schüler für leistungsentkoppelte, inflationierte Zensuren auch noch lernen! Was mutet dieser Lehrer den armen Menschlein denn alles zu? Und: wie sieht er sich selbst?

Anklage ist der falsche Weg

Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) warnte vor der „vaterlosen Gesellschaft“. In ihr gebe es keinen Zusammenhalt mehr, da jeder um sein eigenes Überleben ringe – für Moral und Zurückhaltung sei kein Raum mehr, wolle man nicht selbst untergehen. Die Menschen handeln nicht mehr aus eigenem Vermögen, sie re-agieren nur noch auf die Zumutungen der gesichtslosen Gesellschaft. Daß hierbei die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens zerstört wird, ist die wahre Tragik der Demontage echter Autoritäten. Funktionierende Gesellschaften pflegen einen fairen Austausch materieller und immaterieller Güter und achten das Eigentum. Die Bilanz von Geben und Nehmen prägt auch die Verhältnisse der intimen Atmosphäre einer Familie. Wo die Vermögensbuchhaltung durch Eingriffe von außen gestört wird, erodieren Verantwortungs- und Mitgefühl der Gruppenmitglieder. Damit wird das Ende des fruchtbaren Miteinanders eingeläutet, das Gegeneinander beginnt. Niemand betreibt das mit Absicht, im Gegenteil: jeder leidet darunter. Grausamer noch als jede Diktatur sei „die Herrschaft des Niemand, die eigentliche Staatsform der Bürokratie“, schrieb die Publizistin und Gelehrte Hannah Arendt (1906 – 1975). Das zwanghafte Handeln der Menschen in einer unglücklichen Situation der Orientierungslosigkeit als „unmoralisch“ zu bezeichnen, ist nicht nur der falsche Denkansatz, es ist auch zutiefst ungerecht und ehrverletzend. Typisch ist, daß sich die Moralisten unter den Anklägern selbst ausnehmen – sie fühlen sich als einsame „Hungeropfer“ in der unmoralischen Masse der „Würstchenfresser“.

Wenn Leistung als Auslesekriterium ausfällt

Kehren wir noch einmal zu unserem Gymnasiallehrer zurück. Ihm scheint der Gedankengang fremd zu sein, daß sich ein staatsmonopolistisches, planwirtschaftlich nach sozialistischen Denkmustern geprägtes Schulsystem gar nicht anders entwickeln kann als in die so heftig beklagte Richtung. Eltern und Schüler, die in diesem Chancenumverteilungssystem bestehen wollen, müssen sich genau der Werkzeuge bedienen, die sich in einem solchen System als erfolgreich erweisen: Tricks, Lügen, Einschüchterung, Überredung, Drohung, Bestechung, Sophistik, Verleumdung, Denunzierung und was die Waffenkiste sonst noch an Streitwerkzeugen hergibt. Wie sonst soll man sich verhalten, wenn persönliche Leistung und Könnerschaft als Kriterium für die Zulassung zu gesellschaftlichem Aufstieg außer Kraft gesetzt sind? Das Buch bietet eine schier unerschöpfliche Zahl an Fallgeschichten – Beispiele ausgemachter Bösartigkeit, bis hin zu halbkriminellen Vorfällen. Schule ist die Zentralstelle für die Verteilung von Zertifikaten, die für angesehene Berufe die Eintrittskarte darstellen. Daher muß man zugreifen und sich diese Papiere sichern wie die Würstchen vom Buffet, soll der geplante gesellschaftliche Aufstieg über die Kinder gelingen. So bedrückend und ärgerlich die Realität auch sein mag: die Ursache dafür ist nicht in einem vermuteten Anschwellen menschlicher Bosheit zu suchen, sondern in der Tatsache, daß das Gesetz der Auslese durch Leistung ersetzt wurde durch die wertende Willkür eines anonymen Verwaltungsapparats. In diesem Umfeld gewinnt eben nicht der Fleißige und in der Sache Tüchtige, sondern der seine persönlichen Anliegen dreist und rücksichtslos Erzwingende. Längst sind die haltgebenden, organisch gewachsenen, vertikalen Leistungshierarchien einer horizontalen Verwaltung gewichen, längst sind Sachkompetenz und persönliches Engagement nur noch hinderlich für die berufliche Karriere. 

Ungleichheit bringt Harmonie

Die unendliche Klageleier über die angebliche Unmoral der Angehörigen gewisser Berufsgruppen oder Bevölkerungsschichten verrät blanke Unkenntnis der tieferen psychologischen Zusammenhänge, obwohl doch jeder dies erkennen müßte, wenn er tief in sich selbst hineinfühlt und -denkt. Was fehlt, ist Harmonie. Harmonie ist Zusammenklang von Ungleichem. Ein einziger gleicher Ton, gesungen aus tausend Kehlen, ergibt keine Melodie, sondern einen eintönigen Schrei. Erzwungene Gleichheit tötet jede Lebendigkeit, zerstört jede Kreativität und zerreißt die Bande des harmonischen Miteinanders. Erst aus der fruchtbaren Zusammenarbeit von Ungleichen ergibt sich der Fortschritt, dem wir unseren Wohlstand verdanken. Wie aber sieht die Realität aus? Alle Kinder werden in eine Einheitsschule gezwungen, müssen dort dasselbe lernen; alle Erwachsenen sollen dasselbe verdienen und besitzen; alle Welt soll mit demselben Gelde bezahlen; jeder Mensch soll zugleich Inländer und Ausländer sein, zugleich Mann und Frau, zugleich Mutter und Vater, zugleich Arbeitstier und Freizeitgourmet; jede sinnstiftende Konkurrenz zwischen Ungleichen wird im Ansatz als böse dargestellt und von vornherein unterbunden: schon ist die herkömmliche Ordnung aus den Fugen geraten und erzwingt genau jenes rücksichtslose und verzweifelte Einzelkämpfertum, das zu beklagen vor allem diejenigen nicht müde werden, die tatkräftig dafür gesorgt haben – und immer noch sorgen – , daß das Überleben des Einzelnen nur noch mit Hilfe „unmoralischer“ Mittel möglich ist.

Ach, all die geschwätzige Empörung! Welch vergeudete Energie!

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Gravatar: Mark St.

@Freigeist
Ach ja, die Armen und Schwachen! Mir kommen mal wieder die Tränen und ich bin dabei richtig stolz auf mich und mein Mitgefühl.

Gravatar: Ursula Prasuhn

Auch ich bin sehr angetan von Ihrem Artikel, Frau Pfeiffer- Stolz. Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich war es ein "Vergnügen", ihn zu lesen.
Komisch nur, daß ich mich hinterher ratlos und fast ein wenig deprimiert fühlte.
Ihre Schlußzeile mag verdeutlichen, warum das so war. Verbales Aufbegehren gegen unseren Zeitgeist und seine unseligen Früchte bezeichnen Sie als "geschwätzige" Empörung. Das klingt in meinen Ohren doch zu abwertend, obwohl Ihr Artikel aufzeigt, wie Sie zu diesem Urteil gelangen.
Auch wenn ich Ihre Meinung teile, daß nur der Mangel an Gelegenheit die meisten von uns vom eigenen Sündenfall abhält, so frage ich mich doch, ob jeder deswegen den Mund halten und die Hände in den Schoß legen sollte, wenn er etwas als Mißstand erachtet.
Oder konkret gefragt: Darf ich mich über den Dieb der prallgefüllten Geldbörse nur dann empören, wenn ich mich zuvor als ehrlicher Liegenlasser erwiesen habe?
Wenn das so wäre, dürfte ich fast nichts mehr verurteilen. Ich war z.B. nie Politiker, bin noch nie an einer Parkbank mit Geldbörse vorbeigegangen und habe auch noch nie in irgendeinem Wissenschaftszweig - wie etwa dem der Pädagogik - gearbeitet. Also dürfte ich mich auch nicht mehr verbal empören über politisches Handeln oder pädagogische Geisterfahrten.
Bei aller Zustimmung muss ich anscheinend doch irgendwas an Ihrem Artikel mißverstanden haben, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie das Fazit so meinten, wie ich es verstanden habe.

Gravatar: Thomas Rießler

Das Leben bestimmt also das Bewusstsein? Der Mensch ist das Opfer seiner Lebensumstände? Man kann die Sache auch so sehen, dass die korrumpierenden Lebensumstände eine Prüfung des Einzelnen im Hinblick auf seine Integrität und Wahrheitsliebe sind. Wird er sich in die Masse der Mitläufer einreihen und an dem bösen System teilhaben oder wird er sich dagegenstellen, auch wenn dies mit Nachteilen für seine Person verbunden ist? Mir persönlich ist dieser Lehrer jedenfalls sympathisch. Wie heißt er denn? Wahrscheinlich ist er in der Bonner Republik aufgewachsen und empfindet die Zustände heutzutage im Vergleich zu damals als abnormal. Etwas weniger bei den Philosophen und Psychologen und stattdessen etwas mehr in der Bibel zu lesen, kann auch dabei helfen, unbeschadet durch unsere trüben Tage zu kommen.

Gravatar: Spruance

Eigentlich ist doch seit 2500 Jahren bekannt, was eine gute Erziehung ausmacht und wie sie funktioniert. Nur sind wir heute so unendlich viel schlauer! Da kann natürlich kein Stein auf dem anderen bleiben...
Vielen Dank für den schönen Text - auch ich habe ihn, wie meine Vorkommentatorin, verschlungen.

Gravatar: Marita D.

Wieder mal ein toller Artikel!!
Ich habe ihn regelrecht verschlungen.
Danke, Frau Pfeiffer-Stolz!

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang