Der Szientismus-Skeptiker

Wahrheit, Vernunft, Norm - Jürgen Habermas zum 83. Geburtstag. Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren, etwa zwei Jahre nach Joseph Ratzinger, der, wie den meisten Lesern bekannt sein dürfte, am 16. April 1927 in Marktl (Oberbayern) das Licht der Welt erblickte. Man kann also mit gewissem Recht behaupten, Habermas und Ratzinger entstammen der gleichen Generation.

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Auch dürfte kaum jemand bezweifeln, dass beide zu den herausragenden Intellektuellen Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen. Was man hingegen nicht so ohne weiteres sagen kann, dass ist, beide stünden für die gleiche weltanschauliche Position. Im Gegenteil: der katholische Theologe und Kirchenmann Ratzinger scheint mit dem säkularen Philosophen Habermas nur in sehr grundlegenden Fragen zu Gemeinsamkeiten gelangen zu können, sicherlich nicht in der Bewertung der Religion.

Für große Überraschung sorgte dann auch ein Gespräch, das Ratzinger und Habermas Anfang 2004 in der Katholischen Akademie München führten. In dessen Verlauf zeigte sich, dass beide die Ablehnung einer dezidiert areligiösen, tendenziell anti-religiösen Gesellschaft eint. Das Gespräch sollte insbesondere die Notwendigkeit möglicher „vorpolitischer moralischer Grundlagen“ der Demokratie aus dem Geist der Religion thematisieren. Frage: Lebt der moderne Rechtsstaat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann (Böckenförde-Diktum) und liefert die Religion dazu die nötige vorpolitische Kontrollinstanz (Ratzinger) oder gelingt es dem demokratischen Staat, allein mit säkularer Vernunft seine Normativität aus sich selbst heraus diskursiv zu begründen (Habermas)? Die Argumentation im Verlauf der Diskussion geht weit über die Frage hinaus und betrifft allgemein das Verhältnis von Glaube und Vernunft bzw. Religion und Wissenschaft. Die Stellungnahmen sind nachzulesen in der Zeitschrift der Akademie zur debatte (Nr. 1/2004) sowie in: Jürgen Habermas, Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg i. Br. 2005.

Während der Theologe Ratzinger wie kein zweiter den christlichen Glauben im weiteren und die Römisch-Katholische Kirche im engeren Sinne vertritt, so steht der Philosoph und Soziologe Habermas für die nachmetaphysische Vernunft in der Tradition der europäischen Aufklärung. Das Gespräch offenbarte jedoch eine erstaunliche Nähe der Positionen, tatsächlich fanden sich zwischen dem „Glaubenshüter“ Ratzinger und dem „religiös unmusikalischen“ Habermas nennenswerte Übereinstimmungen, die auch den medialen Rezipienten nicht verborgen blieben. So stellt Thomas Assheuer zwar den Unterschied deutlich heraus („Habermas betrachtet die Religion wohlmeinend aus der Perspektive einer irrtumsanfälligen Freiheit; Ratzinger blickt vom Himmel einer katholischen Gesamtwahrheit skeptisch auf das Treiben der säkularen Vernunft.“); muss aber gleichwohl anerkennen, dass der Dialog durchaus konsensuale Züge trug. Der etwas ironisch anmutende Titel seiner Analyse („Auf dem Gipfel der Freundlichkeiten“, Die Zeit, Nr. 5/2004) trifft – ironischerweise – genau dort ins Schwarze, wo es nicht um Fragen von Glaube und Konfession (hier ist Konsens nicht zu erwarten); sondern wo es um das Verhältnis von Religion, Wissenschaft und Gesellschaft bei der vernünftigen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit geht, nach einer verbindlichen Wert- und Rechtsordnung.

Das entscheidende ist, dass auch Habermas der Religion Sinngehalte zuspricht, für die eine „ethisch enthaltsame“ Wissenschaft keine Sprache hat: das Gespür für Verfehlung und Erlösung, Scheitern und Gelingen. Dort wo sonst alles nur noch in Geldwerten bemessen wird, kann Religion Werte setzen, die dem Auftrag des Menschen zur Bewahrung der Schöpfung über den Tag hinaus gerecht werden. Dabei ist insbesondere das Christentum wertsetzend, wie Habermas schon lange vor dem Treffen mit Ratzinger feststellte: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“ (Habermas im Gespräch mit Eduardo Mendieta, veröffentlicht in: Jürgen Manemann (Hg.): Jahrbuch politische Theologie (Bd. 3: Befristete Zeit). Münster 1999, S. 191).

Wie weit die normative Funktion der Religion reicht, ist dabei freilich wieder umstritten. Während der Theologe Ratzinger den Vorrang der Religion betont, ist die „Kontrollinstanz Kirche“ für einen liberalen Denker wie Habermas unannehmbar. Das Schreckgespenst eines totalitären Absolutismus, das hier auftaucht, ist für ihn undenkbar in einer liberalen Demokratie, in der alles nur relativ sein kann. Dabei übersieht Habermas, dass Religion, soweit damit das Christentum gemeint ist, auch etwas Relatives meint, nämlich die Einordnung des Menschen in einen Ordo, welcher nur in der Beziehung zu Gott (der religio) erfahrbar wird, freilich mit dem Unterschied, dass hier aus der Relation feste Werte entstehen (und zwar weniger durch göttliche Vorgaben als vielmehr durch Einsicht in deren Notwendigkeit); während Werte im säkularen Modell selbst Gegenstand von Relationen, Abwägungen und Aushandlungsprozessen sein sollen, wobei die Diskursgerechtigkeit (bei Habermas gilt das Ideal der „herrschaftsfreien Kommunikation“) die einzige absolute Metanorm darstellt. Es steht also ein System innerweltlicher, menschlicher Beziehungen gegen ein System, in dem vorrangig die Gottesbeziehung des Menschen normativ wirkt. Unsere Grundgesetz nimmt beide Traditionen auf, indem es uns an die Verantwortung „vor Gott und den Menschen“ erinnert.

Dennoch, so Habermas, müssten die Kriterien der Einordnung der Menschen in eine Wert- und Rechtsordnung vernünftig vermittelbar sein, ein theologischer Dogmatismus könne hingegen nur scheitern. Aus katholischer Sicht ist das gewährleistet, da göttliche Gebote vom Menschen nicht befolgt werden sollen, weil sie Gebote Gottes sind, sondern weil sie sich in ihrem Regelungsgehalt einer von Gott und Mensch geteilten Vernunft als gut zu erkennen geben. Umgekehrt, so Habermas weiter, sei auch ein wissenschaftlicher Dogmatismus fehl am Platz. Habermas betont, dass das säkulare Bewusstsein der Wissenschaft lernen müsse, der Religion nicht von vornherein den Wahrheitsgehalt abzusprechen, denn – so der Philosoph mit Blick auf die boomenden Neurowissenschaften – „naturalistische Weltbilder genießen keineswegs prima facie Vorrang vor religiösen Auffassungen.“ (Habermas in zur debatte, Nr. 1/2004).

Das meint auch Ratzinger. Er hatte schon früher betont, dass die Wahrheit jenseits der Natur liegt und dass es dem Christentum um Abgrenzung sowohl zur einengenden Rationalität bloßer Wissenschaftlichkeit als auch zur Unvernünftigkeit des Heidentums geht, d. h. um ein erweitertes Verständnis von Vernunft, wie sie sich in der sittlich-geschichtlichen Entfaltung des Christentums manifestiert: „Die beiden immer auseinanderfallenden Seiten der Religion, die ewig waltende Natur und die Heilsbedürftigkeit des leidenden und ringenden Menschen sind ineinander verbunden. Die Aufklärung kann Religion werden, weil der Gott der Aufklärung selbst in die Religion eingetreten ist. Das eigentlich Glauben heischende Element, das geschichtliche Reden Gottes, ist doch die Voraussetzung dafür, daß die Religion sich nun dem philosophischen Gott zuwenden kann, der kein bloß philosophischer Gott mehr ist und doch die Erkenntnis der Philosophie nicht abstößt, sondern aufnimmt. Hier zeigt sich etwas Erstaunliches: Die beiden scheinbar konträren Grundprinzipien des Christentums: Bindung an die Metaphysik und Bindung an die Geschichte bedingen sich gegenseitig und gehören zusammen; sie bilden zusammen die Apologie des Christentums als religio vera. Wenn man demgemäß sagen darf, daß der Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen nicht zuletzt durch den Anspruch seiner Vernünftigkeit ermöglicht wurde, so ist dem hinzuzufügen, daß ein zweites Motiv gleichbedeutend damit verbunden ist. Es besteht zunächst, ganz allgemein gesagt, im moralischen Ernst des Christentums.“ (Ratzinger in der Rede „Die Christenheit, die Entmythologisierung und der Sieg der Wahrheit über die Religionen“ am 27. November 1999 in der Pariser Sorbonne).

Wir können also festhalten: Das Christentum ist eine wesentliche kulturelle Wurzel von Moral und Recht (Habermas) und daher für unsere Gesellschaft unverzichtbar (Ratzinger). Religion und Wissenschaft spielen als Ausdruck der Vernunft sowohl bei Ratzinger als auch bei Habermas eine berechtigte Rolle beim Versuch des Menschen, zu einer Selbstvergewisserung (Anthropologie) und einer Orientierung in der Welt (Ethik) zu gelangen. Der Szientist – man könnte ihn auch „Wissenschaftsfundamentalist“ nennen – sieht das anders: Die Wissenschaft allein (gemeint ist die Naturwissenschaft) versorgt den Menschen mit vernünftigen Normen. Die einzige Rolle der Religion sei es, die Wissenschaft dabei zu stören, eine bessere Welt mit einer gerechten und friedlichen sozialen Ordnung aufzubauen.

Gegen einen solchen Szientismus spricht sich der Theologieprofessor Ratzinger auch als Papst Benedikt XVI. aus, der in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2011 betonte: „Mit der gleichen Entschiedenheit, mit der alle Formen von Fanatismus und religiösem Fundamentalismus verurteilt werden, muß auch allen Formen von Religionsfeindlichkeit, die die öffentliche Rolle der Gläubigen im zivilen und politischen Leben begrenzen, entgegengetreten werden.“ Begründung: „Die Welt braucht Gott. Sie braucht ethische und geistliche Werte, die allgemein geteilt werden. Und die Religion kann bei dieser Suche einen wertvollen Beitrag für den Aufbau einer gerechten und friedlichen sozialen Ordnung auf nationaler und internationaler Ebene leisten.“ Dass sich auch Habermas gegen Wissenschaft in Ideologieform ausspricht und vor einem Szientismus warnt, der die „Folgelasten der Toleranz“ nicht zu tragen gewillt ist, gibt Hoffnung, dass es jenseits des Fanatismus zu einem fruchtbaren Dialog zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen kommen kann. Ratzinger und Habermas sind mit gutem Beispiel vorangegangen.

Beitrag erschien zuerst auf jobo72.wordpress.com

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