Manchmal haben Juden in Deutschland die beste Nase für die Wandlungen der deutschen Seele. Die Formel „Gerade wir als Deutsche...“, die sei, so Henryk M. Broder in seiner scharfsinnigen Laudatio auf Marcel Reich-Ranicki bei der Verleihung der Börne-Medaille in der Frankfurter Paulskirche, der Ausdruck eines neuen Grundgefühls der Deutschen im Hinblick auf den Holocaust. Vorbei das Leiden an der Schuld, vorbei die Scham über das Jahrtausendverbrechen, jetzt sei man als Deutscher geradezu stolz auf seinen moralischen Vorsprung vor den anderen Nationen. „Gerade wir als Deutsche...“, heiße der einleitende Satz, mit dem Redner in der Berliner Republik nun des Holocausts gedenken würden: konnte man früher das Wort Auschwitz nicht mehr hören, so verwendet man es heute umso öfter - aber ins volkspsychologisch Positive umgewidmet. Mit selbstzufrieden erhobenem Zeigefinger.
Deutschland kann nun wieder anderen Völkern Vorschriften machen. Der moralische Vorsprung, der - angeblich - aus der deutschen Erfahrung mit Schuld und Verarbeitung resultiert und die deutsche Seele in der Tat wieder stark und selbstbewusst macht, berechtigt, meinen die Deutschen, zur Rolle eines Oberlehrers in Europa. Und wer weiß, vielleicht sogar in der ganzen Welt. Auch Helmut Schmidt fiel die schwindende Bescheidenheit der deutschen Politik in jüngster Zeit auf, wie er in einem Interview mit dem ZEITmagazin vom 27.5.2010 sagte: „Wenn zum Beispiel die gegenwärtige Bundeskanzlerin wegen der Griechenlandkrise gleichzeitig erstens den Chef des Internationalen Währungsfonds, zweitens den Chef der Internationalen Handelsorganisation, drittens den Chef der Weltbank und viertens den Chef der Europäischen Zentralbank nach Berlin bittet, dann kann man das wirklich nicht als bescheiden bezeichnen.“ Das passt zum neuen Selbstbewusstsein der Berliner Republik – gegen das niemand etwas hat. Aber gegen die neue deutsche Schulmeisterei werden einige Nachbarn doch etwas haben.
Dabei werden die ermordeten europäischen Juden mittlerweile nur noch als Vorwand benutzt, eine Solidarität mit dem jüdischen Volk und dem jüdischen Staat zu behaupten, die gar nicht mehr so uneingeschränkt existiert. Jüngstes Beispiel ist die Auseinandersetzung um die israelische Militäraktion gegen die sogenannten Friedensaktivisten auf der internationalen "Gaza-Solidaritätsflotte". Die offiziellen deutschen Verlautbarungen waren lau; schließlich fordert auch die Bundesregierung ein Ende der israelischen Gaza-Blockade „aus humanitären Gründen“. Vergessen der Grund für die Blockade: die ununterbrochenen Raketen-Angriffe der islamistischen Hamas auf Israel vom Gaza-Streifen aus, den sie gewaltsam unter ihre Kontrolle gebracht hat, nachdem Israel sich einseitig zurückgezogen hatte. Das Pendel der deutschen Sympathie ist zugunsten der Palästinenser umgeschlagen.
Das könnte ebenfalls auf einen Wandel deutscher Befindlichkeiten zurückgeführt werden. Die Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches wurde in den letzten Jahren ebenso wie der alliierte Bombenkrieg vermehrt als Verbrechen wahrgenommen. Die Deutschen fühlen sich zunehmend als Opfer im Zweiten Weltkrieg. Das hat auch zu einer neuen Beurteilung der Flucht und Vertreibung der Palästinenser aus Israel geführt, was beides sich ja nicht einfach so, sondern im Rahmen eines Vernichtungsfeldzugs der arabischen Staaten gegen den neuen Staat ereignete. Dass die Nachbarn Libanon, Syrien und Jordanien diese arabischen Flüchtlinge nie zu integrieren versuchten, sondern sie in Lagern hielten, als ständige Waffe gegen Israel – das wird in der deutschen Politik mittlerweile verdrängt. War es je ein Thema? Die Deutschen müssten es angesichts des Erfolgs dieser unmenschlichen Politik der Nachbarn Israels gegenüber ihren arabischen Brüdern bedauern, ihre 12 Millionen deutschen Flüchtlinge nicht auch entlang der Elbe und der Oder in Lagern gehalten zu haben – vielleicht bestünde jetzt nach der Wiedervereinigung auch Aussicht, die deutschen Ostgebiete zurückzubekommen. Man hätte nur lange genug durchhalten müssen.
Besonders die Türkei, ein Staat, der nach wie vor gewaltsam eine Hälfte eines fremden Staates militärisch besetzt hält und keine Skrupel hat, gegen die kurdische PKK jederzeit auch auf irakischem Territorium Krieg zu führen, hat zunehmend Druck auf Israel ausgeübt, die Blockade Gazas zu beenden und droht jetzt mit diplomatischen Konsequenzen gegen Israel wegen der Verletzung internationaler Gewässer. Die „Mavi Marmara“ fuhr unter türkischer Flagge. Viele Aktivisten waren Türken, nicht wenige Islamisten. Offenbar gibt es mittlerweile auch in der Türkei eine neue Einschätzung des Verhältnisses zu Israel. Unter dem Motto „Gleiches Recht für alle“ fordert die Türkei eine härtere Behandlung Israels durch die internationale Gemeinschaft. Natürlich gilt das Motto nicht für die Türkei selbst, die – wie gesagt – Sonderrechte für sich in Anspruch nimmt. Auch im Hinblick auf den Iran und sein Atomprogramm gibt sich die Türkei verständnisvoll und fordert eine strengere Kontrolle Israels, was Atomwaffen angeht. Die Annäherung der Türkei an den Iran wird nicht lange auf sich warten lassen, hält Erdogan dessen Präsidenten doch für einen Freund; der massenmörderische und mit internationalem Haftbefehl gesuchte sudanesische Staatschef al-Baschir wurde ebenfalls von Erdogan mit dem schlagenden Argument verteidigt: „"Ein Muslim kann keinen Völkermord begehen". Das neue türkische Selbstbewusstsein trifft sich hier mit dem deutschen, und für beide ist Israel der Dumme. Die Türkei ist ein Land wie geschaffen für den Eintritt in die Europäische Union, kein Zweifel. Man nennt das Pragmatismus. Israel ist ein kleines Land und ausserdem hat es kein Öl. Kann sich das wiedervereinigte, machtpolitisch bewußte Deutschland keine moralische Verpflichtung mehr leisten?
Zur Haltung der Türkei, einem Staat mit einer kemalistisch-chauvinistischen Gründungsideologie, der ständigen Gefahr eines Militärputsches und einem immer stärkeren Abdriften in den Islamismus kann von hier aus wenig gesagt werden, aber zur deutschen Haltung schon. Die Bundeskanzlerin hat bei ihrem letzten Israel-Besuch in der Knesset die unbedingte Solidarität Deutschlands zugesichert, aufgrund der Schuld der Vergangenheit und aus Verantwortung für die Zukunft. Wie wäre es, wenn Deutschland diese mittlerweile nicht mehr ehrliche Begründung, die Schuld an der Massenvernichtung der europäischen Juden verpflichte es zur Unterstützung Israels, durch eine weitere, hoffentlich ehrlichere ergänzen würde? Wie wäre es, wenn Deutschland aus einem ganz anderen Grund an der Seite Israels stünde? Denn selbst wenn Israel nicht von Juden bewohnt wäre, hätte Deutschland die verdammte Pflicht, es zu unterstützen. Israel ist nämlich das einzige Land im Nahen Osten, das wirklich demokratisch ist. Die Berliner Republik, die sich so viel auf ihre demokratische Verfassung einbildet, könnte dadurch zeigen, dass sie nicht nur Real- und Machtpolitik reinsten Wassers betreibt, wie sich das neuerdings ankündigt, sondern dass sie auch noch edlere Prinzipien hat.
Kommentare zum Artikel
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Viele gute Punkte, gerade in bezug auf das Verhältnis zu Israel.
Der Stolz, von dem Sie reden, beschränkt sich allerdings auf den Schuldstolz unserer "Eliten". Alles andere ist VERBOTEN.
Machtpolitik wird ebenfalls nicht betrieben. Natürlich wird auf sehr peinliche Weise zur Selbstbefriedigung unserer "Eliten" der Zeigefinger nun auch international geschwungen. Nur ist damit in keinster Weise beabsichtigt, deutschen Interessen zu dienen. Unsere "Elite" kümmert sich um ihre eigenen Interessen, sonst nichts.
Ein sehr guter Beitrag. Leider zu selten wird hier Solidarität mit Israel erkennbar.
Am Israel Chai!