Die FAZ vom 15. Juni meldet eine Sensation in der Wissenschaft. Am Institut für Orientalistik der Universität von Chicago ist nach 90 Jahren kontinuierlicher Arbeit von Wissenschaftlern aus aller Welt das "Chicago Assyrian Dictionary", ein enzyklopädisches Lexikon der akkadischen, also der Sprache der Assyrer, fertiggestellt geworden. Es handelt sich um 21 Bände mit 10.000 Seiten, Übersetzungen aus der ältesten semitischen Sprache, "in der seit mehr als 2000 Jahren kein Wort mehr gesprochen, geschweige denn geschrieben" wurde, denn geschrieben wurde in der ebenfalls ausgestorbenen Keilschrift. Die meisten beteiligten Wissenschaftler haben das endgültige Ergebnis ihrer Arbeit nicht mehr feiern können, denn sie sind über der Arbeit an dem Wörterbuch gestorben. Das war schon 1921 abzusehen. Dennoch haben sie damals mit dieser Arbeit begonnen. Das nennt man Vertrauen in die Zukunft. Wer hat das heute noch?
Eine Ohrfeige für kurzatmige projektgebundene Antragswissenschaft, "in der die Ergebnisse am besten schon vor Beginn des eigentlichen Projekts festzustehen haben, in der ein Open-Access-Zugang sofortigen Zugriff auf jeden halbgedachten Gedanken ermöglichen soll". Ein grandioses Beispiel für echte internationale, transdisziplinäre Zusammenarbeit, "von der die Wissenschaftsmanager so gerne träumen". Ein Sieg des Buches, das "Nachdenklichkeit, Tiefgang, historische und thematische Beständigkeit" ebenso wie "materiellen Fortbestand" garantieren kann.
Man mag jetzt fragen, wen das überhaupt interessiert, welche gesellschaftliche oder ökonomische Relevanz das hat. Genau diese Frage zeigt schon eine grundsätzlich falsche Denkausrichtung. Echte Wissenschaft, schreibt der südafrikanisch-englische Biologe Lewis Wolpert, ist unnatürlich, anti-intuitiv, widerspricht dem gesunden Menschenverstand, hat vor allem nichts mit Technik zu tun, also dem, was man unmittelbar nutzbringend anwenden kann. Wissenschaft will ein immer besseres Verständnis der Welt. Sie will einfach mehr verstehen. Und Punkt. Sie fragt nicht, ob mit ihren Erkenntnissen etwas Nützliches gemacht werden kann. Natürlich ist es ihr auch egal, ob man mit ihren Erkenntnissen viel Geld verdienen kann. Das sind Fragen, die leider auch viele Liberale stellen, die alles nur aus einem ökonomischen Blickwinkel sehen können. Ohnehin skeptisch schauen Ideologen von links und rechts auf die Wissenschaft, die sie sich am liebsten dienstbar machen wollen, die sie sich nur dienstbar vorstellen können und davor zittern, dass die Gegenseite als erste aus einer Erkenntnis Nutzen ziehen könnte. Den Wissenschaftler interessiert das alles nicht. Er hat eine geistige Aufgabe.
Umso überraschender, wenn eine Gesellschaft für solche Käuze Geld zur Verfügung stellt, denn natürlich braucht auch Wissenschaft Geld. Erst recht überrascht es, wenn eine Gesellschaft über so lange Zeiträume (fast 100 Jahre!) ein Vorhaben unterstützt, das so rein wissenschaftlich ist wie das "Chicago Assyrian Dictionary". Wenn aber eine Gesellschaft dazu nicht mehr in der Lage ist, glaubt sie nicht mehr an sich. Das gilt für viele Vorhaben, nicht nur für wissenschaftliche.
"Es hat Architekten gegeben, die Werke konzipiert haben, von denen sie vom ersten Strich an wußten, daß sie diese nie fertig erleben würden, beispielsweise große Dome", sagte Karlheinz Stockhausen, als er Ende der 70er Jahre seinen Entschluss, die kommenden 25 Jahre an einem Werk (nämlich LICHT) zu komponieren, erläuterte. Tatsächlich setzte er seinen Plan bis 2003 um. In Mailand ist Stockhausen auf den Dom gegangen und hat dort "mehrere Stunden verbracht und stumm bewundert, dass ein solches Bauwerk überhaupt gewagt wurde. Was für eine unbeschreibliche Menge Mut dazu gehörte, das überhaupt in Angriff zu nehmen, zu wollen, zu entwerfen und tatsächlich irgendwann zu realisieren. Das ist ja unvorstellbar für unsere Zeit. Das war eine Kultur, die ganz weit in die Zukunft sehen konnte, ohne Angst zu haben."
Man muss schon lange nachdenken, bis man in der Wirtschaft oder der Politik ein Beispiel für einen solchen langen Atem findet. Vorstände denken nur in der kurzen Zeitspanne ihrer Amtszeit, nach ihnen die Sintflut. Ebenso die allermeisten Politiker. Leider dürften auch viele Bürger kurzsichtig sein: Wenn schon ein Langzeitprojekt wie der Stuttgarter Bahnhof keine Unterstützung mehr findet, dürften größere Generationenprojekte erst recht keine Chance haben. Ist der ökologische Umbau der deutschen Wirtschaft wirklich beschlossen worden? Egal ob sinnvoll oder nicht, zu einem solchen langfristigen Plan scheint Deutschland gar nicht mehr fähig zu sein: Es wird nur gewurstelt. Historisch scheint dies erklärbar. Deutschland hatte mal hochfliegende, weit ausholende Pläne, die aber alle verbrecherisch waren. Leider hat dieses Land aus dieser Erfahrung bis in die individuelle Ebene hinunter den falschen Schluß gezogen, dass es überhaupt keine großen Projekte mehr gibt, für die es sich langfristig einzusetzen lohnt. Auch Stockhausens Langzeitwerk wurde nicht etwa als vorbildlich empfunden, sondern als größenwahnsinnig verunglimpft.
Es ist möglicherweise kein Zufall, dass das genannte Lexikon in den USA entstanden ist. Das Vorhaben, innerhalb eines Jahrzehnts auf dem Mond zu landen, war ebenfalls ein US-amerikanisches. Die Amerikaner glauben an sich, manchmal leider auch zuviel, manchmal halbherzig: Die kriegerischen Versuche, die Demokratie zu exportieren, wurden erst gar nicht als die Langzeitprojekte angekündigt, als die sie von vornherein anzusehen waren, sonst wären sie nicht getragen worden. (Ob der "arabische Frühling" von 2011 als eine direkte Folge des irakischen Engagements der USA zu sehen ist, wird die Geschichtswissenschaft noch untersuchen müssen.)
Die Sagrada Família in Barcelona scheint mir der letzte Bau zu sein, der von einem Generationen übergreifenden Willen getragen ist: 1882 begonnen, könnte die Basilika im Jahre 2026 fertig sein. Ich schrieb, Gesellschaften, die solches unterstützen, glauben an sich. Aber das wäre zu wenig. Es geht nicht um Chauvinismus. Es geht um eine überzeitliche Perspektive. Sie glauben auch an Gott. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Amerika eine gläubige Nation ist, kein Zufall, dass die Dombaumeister des Mittelalters und der Neuzeit demütig und voll Gottvertrauen das Problem, die Fertigstellung des begonnenen Werks nicht erleben zu können, lediglich als ein biologisches, nicht aber als ein prinzipielles Problem ansahen. Die allgegenwärtige Profanisierung nicht nur alles Kulturellen hat wenigstens Europa in eine geistige Krise versetzt. Geistige Werke zu ermöglichen und weit in die Zukunft hinein zu schaffen, das muss wiederkommen. Courage und Vertrauen in die Zukunft: Vielleicht gehört ein gewisses Maß an Gottglaube zu solchen langfristigen Plänen, die mit "Vernunft" und "gesundem Menschenverstand" gar nicht erst geschmiedet würden.
Literatur und Links: www.faz.net/artikel/C31399/keilschriften-zehntausend-freunde-mesopotamiens-30439723.html
Lewis Wolpert: Unglaubliche Wissenschaft, Eichborn, Frankfurt am Main, 2004
Kommentare zum Artikel
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@liberal oder was?
Der Beitrag nimmt zunächst explizit nur zu Wissenschaft und Kultur Stellung. Ob in der Wirtschaft, unter deren Gesichtspunkt allein Sie offenbar die Welt nur noch betrachten können, so weitblickend gedacht werden kann, wage ich nicht zu beurteilen. Aber die liberalen Urväter der Französischen Revolution 1789 und der Deutschen Revolution 1848 würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, würden sie sehen, was heute so reduziert und dürftig unter Liberalismus verstanden wird.
wie jetzt? Planwirtschaft als Mittel gegen Verrohung? ich dachte immer, hier seien nur ultra-Liberale zu Hause. Aber scheinbar ist dies doch eher Sozialismus, aber natürlich nur Sozialismus für Klientel (Ärzte etc.)
.....Das war eine Kultur, die ganz weit in die Zukunft sehen konnte, ohne Angst zu haben." .....
Tja, das waren noch Zeiten gewesen!!