Der lange Arm Napoleons

Die litauische Sprache ist zwar eine der ältesten in der indoeuropäischen Sprachfamilie, doch viele Jahrhunderte lang war es eine Bauernsprache. Die Oberschicht hatte sich im polnisch-litauischen Reich weitgehend polonisiert. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten sich Sprachwissenschaftler an die harte Arbeit, den Schatz der litauischen Sprache zu dokumentieren.

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Deutschland hat Bismarck, Litauen Basanavičius. In so gut wie jedem Städtchen ist eine Straße nach dem Kopf der Nationalbewegung um 1900 benannt. Jonas Basanavičius (1851–1927) war Arzt, Wissenschaftler, Journalist und Autor. Er leitete auch den 20-köpfigen Litauischen Rat, der am 16. Februar 1918 die Unabhängigkeit des Landes ausrief – auf dem Gruppenbild der Unterzeichner sitzt Landespatriarch Basanavičius mit Rauschebart natürlich in der Mitte.

Basanavičius gehörte zu den Redakteuren und Autoren der ersten litauischen Zeitschrift „Auszra“ (heutige Schreibweise Aušra, zu Deutsch Morgenröte oder -dämmerung). Vierzig Ausgaben erschienen in den Jahren 1883 bis 1885. Dem litauischen Nationalbewusstsein gab ab 1889 ein weiteres Journal wichtige Impulse: „Varpas“ (die Glocke), gedruckt im ostpreußischen Tilsit und Ragnit. Als Redakteur  wirkte Vincas Kudirka (1858–1899). Aus der Feder des Dichters stammt die litauische Nationalhymne (Tautiška giesmė) aus dem Jahr 1898. Kudirka verstarb jung an Tuberkulose. Auch nach ihm sind zahllose Straßen und Schulen benannt. Auf dem Platz vor dem Regierungssitz in Vilnius steht seit einigen Jahren ein Denkmal zu Ehren von Kudirka und der Hymne.

Die genannten Zeitschriften konnten damals im russischen Reich nicht legal vertrieben werden.  Von 1864 bis 1904 galt auf dem Gebiet Litauens ein Verbot der lateinischen Schrift: Litauisch musste mit dem kyrillischen Alphabet geschrieben werden. Dies war eine von zahlreichen Maßnahmen der zaristischen Herrschaft, um das Litauische und damit nationales Bewusstsein zurückzudrängen bzw. im Keim zu ersticken. Ende des 19. Jahrhunderts stand daher die Bewahrung der eigenen Sprache im Mittelpunkt des Ringens um Identität als Volksgruppe.

Die litauische Sprache ist zwar eine der ältesten in der indoeuropäischen Sprachfamilie, doch viele Jahrhunderte lang war es eine Bauernsprache. Die Oberschicht hatte sich im polnisch-litauischen Reich weitgehend polonisiert. So war auch in der reformierten Kirche Litauens das Polnische lange offizielle Kirchen- und Synodensprache. Eine normierte litauische Hochsprache war also lange schlicht und einfach nicht vorhanden. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten sich Sprachwissenschaftler an die harte Arbeit, den Schatz der litauischen Sprache zu dokumentieren und eine Systematik für eine einheitliche Schriftsprache zu entwickeln (in Deutschland begann dieser Prozess ja schon während der Reformation, angestoßen nicht zuletzt durch Luthers Bibelausgaben).

Der wichtigste dieser Sprachschöpfer war zweifellos Jonas Jablonskis (1860–1930). Wie so viele Intellektuelle damals konnte er jahrelang nicht in der Heimat wirken, arbeiten im kurländischen Mitau (Jelgava) und schrieb Beiträge für „Auszra“ und „Varpas“. Erst 1903 konnte er nach Litauen zurückkehren. Mit Werken wie Grammatik der litauischen Sprache (1901, 1922), Syntax der litauischen Sprache (1911) und Lehrbuch der litauischen Sprache (1925) prägte er entscheidend die moderne litauische Sprache.

Was haben diese drei Männer gemein? Sie stammen alle aus der gleichen Gegend, der Suvalkija. Das Gebiet südlich und westlich des Nemunas (der Memel) zwischen Kaunas und Ostpreußen, dem heutigen Kaliningrader Gebiet, bildete um 1900 einen einzigartigen Nährboden für die Intellektuellen. Und dies ist letztlich Preußen – und dann Napoleon – zu verdanken.

Der ältere Name für das Gebiet ist Sudauen, litauisch Sūduva, denn in der Gegend siedelte vor eintausend Jahren der westbaltische Stamm der Jatwingen oder Sudauer.  Später etablierte sich der Name „Užnemunė“, jenseits, d.h. am anderen, westlichen Ufer des Nemunas. Bei der dritten polnischen Teilung 1795 und damit dem Untergang des Polnisch-litauischen Staates fiel  das Gebiet von Užnemunė an Preußen.  Das gesamte Gebiet östlich und südlich von Ostpreußen wurde in der neuen Provinz Neu-Ostpreußen zusammengefasst.

In Woher wir stammen – Der Ursprung der Litauischen  Volkes (Vilnius: MELI, 2005) heißt es dazu:  „Die herkömmliche Ordnung wurde verändert: strenge deutsche Gesetze eingeführt, die Disziplin verstärkt. Die Rechte des Adels wurden beschnitten, es blieben nur die, welche auch in Preußen galten.  Das Leben der Bauern hingegen besserte sich, sie wurden den preußischen Bauern gleichgestellt, und dort hatte man bereits die Leibeigenschaft aufgehoben.“

Hier zeigt sich wieder einmal, dass eine in moralischer Hinsicht eher verwerfliche Maßnahme, die kaltblütige Zerstückelung Polen-Litauens durch die benachbarten Großmächte, eher unbeabsichtigte positive Folgen hatte. Ähnliches gilt ja auch für die gewaltsame Beendung der deutschen Kleinstaaterei durch Napoleon, die letztlich erst die Einigung Deutschlands möglich machte.

Und auch im Osten Europas hinterließ der Franzose Spuren. In Woher wir stammen: „1807 wurde Preußen von der napoleonischen Armee besiegt. Im Vertrag von Tilsit schuf man das Herzogtum  Warschau, in welche auch das von Litauern bewohnte Užnemunė einging. Nach dem Wiener Kongress (1815) wurde das Herzogtum in das Königreich Polen verwandelt und fiel an Russland (als Oberhaupt wurde der Zar anerkannt), allerdings als autonome Einheit, mit eigener Verfassung und Gesetzgebender Versammlung. Hier galten auch weiterhin napoleonische Gesetze, selbst dann noch, als das Königreich aufgehört hatte zu existieren und als Warschauer Generalgouvernement zu einer gewöhnlichen russischen Provinz degradiert wurde.  Užnemunė gehörte danach zur Woiwodschaft Augustow (lit. Augustavas), seit 1867 ging es in das neugeschaffene Gouvernement Suwalki (lit. Suvalkai) ein. Die Lage der Bauern blieb hier die ganze Zeit über unverändert. Die Lebensbedingungen waren besser als anderswo in Litauen. Hier formierte sich früher als in anderen Landesteilen eine aus dem Bauerstand hervorgehende neue litauische Intelligenz. Man hielt die Idee der staatlichen Unabhängigkeit aufrecht, die das Land dann am 16. Februar 1918 einlöste. Diese lange Zeit unter anderen Bedingungen lebenden Litauer der Region Suduva-Užnemunė-Suvalkija brachten markante Persönlichkeiten hervor, formten ein Gebiet eigentümlicher ethnischer Kultur.“

Markante Persönlichkeiten –  das waren eben Basanavičius, Kudirka, Jablonskis und noch andere, die in der Gegend von Vilkaviškis, Marijampole und Naumiestis (heute Kudirkos Naumiestis) aufwuchsen.  In einer Gegend, die schon etwas freier war als der Rest des autokratischen Zarenreiches.

Zuerst erschienen auf lahayne.lt

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