Der atheistische Papst

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Auch mit 90 Jahren hat Wolf Schneider die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht vergessen: „Wenn ich in ein heißes Vollbad sinke oder mir die Butter dick aufstreiche, habe ich ein lebendiges Gefühl von Luxus, von Rache für erlittene Not – seit fast siebzig Jahren.“

Schneiders Erinnerungen haben vor allem einen Zweck: Sie singen ein lautes Loblied auf den großen „Sprachpapst“ und Journalistenausbilder, wobei Schneider, der sich selbst als Atheisten bezeichnet, wenig von diesem Ehrentitel hält.

Als er bei der „Neuen Zeitung“ kündigte, erhielt er ein „Zeugnis mit einem Lob, das deutlich über das hinausging, was das deutsche Arbeitsrecht heute verlangt“. Der Autor bekennt sich zu seiner Selbstsicherheit und Arroganz. Er hält sie für keinen Makel. Doch ist jemand wirklich so stabil, wenn er so viel Wert auf Anerkennung und (Selbst-)Lob legt?

Unzweifelhaft ist der in Erfurt geborene Sprachkritiker ein Leistungsfanatiker. Er hat für die großen oder ehemals großen Blätter („Süddeutsche Zeitung“, „Stern“, „Die Welt“) als Angestellter zur Feder gegriffen. Bis zu siebenmal im Monat durfte der herausragende Stilist in den Jahren 1960 bis 1964 das „Streiflicht“ für die „Süddeutsche Zeitung“ verfassen. 35 Stunden in der Woche verbrachte er in der Münchener Redaktion, 45 Stunden arbeitete er an seinen jeweiligen Büchern.

Am 5. Februar 1966 versuchte sich der kühle Pragmatiker in seinem Leitartikel „Tod dem Verbrennungsmotor“ als Hellseher:

„Die Zukunft kann nur dem Elektro-Auto gehören! Für die erste deutsche Firma, die ein gutes und ansprechendes Elektromobil auf den Markt bringe, sollte der Bundestag eine Prämie aussetzen. Schluss. ‚Der Verbrennungsmotor ist vermeidbar. Nach der Vernunft wie nach unseren technischen Möglichkeiten gebührt ihm der Tod.‘“ Manche Totgesagte leben eben länger!

Schneider, der sich auf knapp 440 Seiten vor allem für Schneider interessiert, gelingen einige interessante Porträts. Den mächtigen „Stern“-Mogul Henri Nannen beschreibt er wie folgt. „Ja: Nannen war ein zu großer Mann, um auch noch ein angenehmer Mensch zu sein.“

Tapfer und politisch unkorrekt kämpfte der rechtsliberale Schneider gegen die linken Meinungsführer in der Redaktion der Hamburger Illustrierten. Schon vor Jahrzehnten setzten sich Erich Kuby und der zwischenzeitlich übergeschnappte Sebastian Haffner nach Angaben des Autors dafür ein, dass das Geschlecht eine bloße soziale Zuschreibung sei und die beiden Geschlechter absolut austauschbar seien. Schneider konterte trocken: „Meinen Sie nicht, dass, wenn zwei Menschen ein Kind haben wollen, es alles in allem kein Nachteil wäre, wenn eine von ihnen eine Frau ist.“ Ein cooler Konter gegen das Gender-Gaga.

Der Neunzigjährige hat allen Grund, zufrieden Bilanz zu ziehen. Sein Leben scheint ihm, anders als das seiner Eltern und Geschwister (sein Bruder verübte als Jugendlicher Selbstmord), geglückt zu sein. Er ist stolz auf seine Artikel, seine Sachbücher über die deutsche Sprache, Sieger und Verlierer der Weltgeschichte, den Soldaten etc. 16 Jahre leitete er die Hamburger Journalistenschule und war keinen Tag krank. Nur der Tod galt ihm als akzeptable Entschuldigung für das Fernbleiben seiner Schüler. Möge dieser den immer noch produktiven Schneider, der so gar nichts Greisenhaftes hat, noch ein paar Jahre verschonen.

Wolf Schneider: Hottentottenstottertrottel. Mein langes, wunderliches Leben. Rowohlt Verlag: Reinbek bei Hamburg 2015, 448 Seiten, 19.95 Euro.

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