Denkmalpflege mit Rotlichtfaktor

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Alexander Wallasch lebt im ständigen Déjà-vu. Anrufen sollten Sie ihn nicht, sein neues Buch aber profitiert davon.

Lassen Sie sich nicht täuschen, „Pferdefleisch und Plastikblumen“ ist kein Buch über Braunschweig, sondern ein Buch über Menschen. Liebevoll und herzlich und komisch und immer mit einem Hauch Nostalgie auf den Verlust der glanzvollen Zeiten, sollte es diese in Braunschweig jemals gegeben haben. Aber man ahnt sie jedenfalls zwischen den Zeilen. Die Menschen, die in diesem Buch beschrieben werden, scheinen bereits seit Jahrhunderten auf demselben Fleck, hinter derselben Theke und demselben Ladentisch zu stehen, sie gehören zum Inventar. Und damit sind sie die Antihelden in einer Welt modernen Nomadentums, in dem alle gehetzt zur nächsten glückverheißenden Oase weiterziehen, sich entwurzeln lassen für das Versprechen auf einen besseren Job, mehr Geld, mehr modernes Großstadtleben.

Es ist ein Buch gegen all die Verblendeten, die Globalisierten, die auf der ganzen Welt zu Hause sind, aber keine Heimat mehr haben.

Der Elefant im Porzellanladen

Doch am meisten sagt dies Buch über den Autor selbst. Alexander Wallasch, dies wortgewaltige, schreibwütige Ungetüm aus Braunschweig mit seinem besonderen Blick auf die Unzulänglichkeiten menschlichen Daseins – seine eigenen mit eingeschlossen. Dieser Alexander Wallasch, der sich bei The European austobt, weil er die Dinge, die ihn aufregen, aussprechen muss, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Elefant im Porzellanladen. Ein Mann, der niemals ruht, der immer beschäftigt ist – und wenn nur gedanklich. Immer schon bei der nächsten Revolution, der nächsten Ungerechtigkeit, politischen Verschwörung und dem Herbeischreiben einer idealen Welt. Der förmlich platzt vor Geschichten.

Rufen Sie ihn niemals an. Er würde einfach nur „Axel!?!?“ in den Hörer brüllen und Ihnen ohne Punkt und Komma Geschichten erzählen, die ihn gerade beschäftigen, seinen tagesaktuellen Krankenstand durchgeben oder von dem Film von gestern Abend schwärmen, dessen Namen und Schauspieler Sie nicht kennen werden, der sich aber in der Regel als abgefahrener Geheimtipp entpuppt. Aber rufen Sie ihn nicht an, Sie würden sowieso nicht zu Wort kommen.

Ein Schwall von Geschichten, wie dieses Buch, nur ist er hier leiser. Rücksichtsvoller. Rührend. Ja, voller Respekt vor all diesen Menschen, die ihre Liebe zu der „geilsten Stadt der Welt“ mit ihm teilen – trotz oder gerade wegen ihrer Unzulänglichkeiten. Wäre er Musiker, dann wäre dies Buch ein Adagio, ein Herbst aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, mit Ausbrüchen ins Allegro der kleinen Freuden, ein letztes Aufbäumen vor dem Erstarren des Winters oder wahlweise der drohenden Insolvenz. Hinter jeder Geschichte spürt man die Neugierde auf den Menschen, der dahintersteckt. Neugierde auf die Lebensgeschichten, die hinter bröckelnden Fassaden leben, hinter dunklen Tresen, in kleinen Ecken und hinter dem aufrechten Stolz all dieser Händler, Gewerbetreibenden, Rotlichtgestalten und Wirte in seiner Geburtsstadt Braunschweig.

Der ultimative Braunschweig-Führer

Und nach der Lektüre muss man jetzt hinfahren, um zu schauen, ob sie wirklich noch alle da sind. Die Bärbel im „Göttinger Eck“ mit seinem 50er-Jahre-Charme. Vielleicht ist „Pullover-Hans“ auch schon da und sitzt vor dem ersten Wolters-Bier für 1,20. Sich die Haare schneiden lassen bei „Maxe“ Bender, einem der drei „Haartenöre“ Braunschweigs, das gestandene Mannsbild mit Boxvergangenheit und gepflegten Haaren. Mittags bei „Fisch Ilgner“ am Hagenring einen der berühmt-berüchtigten hausgemachten marinierten Heringe probieren oder bei „Geppi“ in der AOK-Kantine unter dem gleißenden Licht „überdimensionaler Lampenschrecklichkeiten“ einen Blick über die Stadt genießen. Einmal mit der Hand über die edlen Stoffe streichen im „Bekleidungshaus Pfeiffer“ und ein Erinnerungsfoto schießen vor dem „Fell-Shop“ von Herrn Redzovic mit dem lebensgroßen Kragenbären, dem heimlichen Wappentier der Stadt. Danach ein Kaffee bei Manzi im „Lottocafé“, dem gutherzigen Konfuzius mit Roy-Black-Optik, der in seinem Lädchen nicht nur Zigaretten und Süßigkeiten, sondern auch Lebensweisheiten an den Mann und die Frau bringt. In der Dämmerung eintauchen in die Atmosphäre der romantisch verklärten Zwiegestalten, die sich im „Pferdestall“, dem Moulin-Rouge von Braunschweig, tummeln.

Zum Schluss dann erschöpft das Haupt im „Hotel Simoné“ auf das saubere Bettchen legen, wo Lutz Häring über dem Schlüsselbrett wacht und unter dem Duft von Kernseife und Heizöl friedlich wegschlummern. Ein perfekter Braunschweig-Tag.

„Pferdefleisch und Plastikblumen“ könnte der ultimative Braunschweig-Führer werden, den der Marco-Polo-Verlag nie in seine Städte-Reihe aufgenommen hat. Weil die Stadt nicht mit so viel Lametta daherkommt wie Berlin, München oder Düsseldorf. Weil sie nicht viel hergibt an Sehenswürdigkeiten, die den Maßstäben der Hochglanzfotos genügen müssen, die immer ehrwürdige Bauten und Historie darstellen und nicht Kneipen mit maximalem Rotlichtfaktor oder Porno-Bars, in denen Jünglinge ihre Initiationsriten abfeiern oder gar die Menschen, ohne die diese Stadt doch nichts wäre.

Am stärksten aber wird dies Buch in der Selbstreflexion des Autors. Es ist ja kein Buch über Braunschweig. Sondern ein Buch über Alexander Wallasch in Braunschweig. Es möge Psychologen überlassen bleiben, wie das zu deuten ist. Eine Liebeserklärung? Ein Nachruf? Ein Denkmal? Ein Nicht-loslassen-Wollen? Oder gar eine Zeitreise, die unsereins nur alljährlich bei den Weihnachtsbesuchen bei Mutti ereilt, oder bei Klassentreffen alle zehn Jahre, wenn wir durch die Straßen unserer Jugend streifen, um zu sehen, ob das alte Stammcafé und das Kino mit den unbequemen Sitzen noch existieren. Wallasch lebt im ständigen Déjà-vu.

Eine Liebeserklärung an den täglichen Familienwahnsinn

Man muss ihn lieben für die Ehrlichkeit und die herrliche Komik, mit der er alle seine persönlichen Unzulänglichkeiten nicht nur zugibt, sondern sogar noch ausführlich umschreibt. Er lässt die Hose runter, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern mehrfach ganz. Die nackte Wahrheit vornübergebeugt beim Urologen, zum Brüllen komisch. Hose runter auch als Klaustrophobiker in der CT-Röhre, im schlagartigen Bewusstsein der eigenen körperlichen Vergänglichkeit beim Lesen des Fernsehprogramms mit der Kinder-Insekten-Lupe.

Als Hypochonder wahlweise mit Fast-Erstickungstod am Rosinenbrötchen, mit „Rücken“ im Harz, Schilddrüse im Überlebenskampf an der Supermarktkasse, Stechen im Oberbauch in der Bahn. Eigentlich müsste er längst tot sein, wie er gemeinsam mit dem 92-jährigen Kameraden im ehemaligen Luftwaffenlazarett liegt samt persönlicher Marienerscheinung in Form von sanften Händen einer türkischstämmigen Ärztin, die nicht nur sein Herz rettet, sondern es auch für die Integration gewinnt. Völkerverständigung unter kaltem Neonlicht.

Eine Liebeserklärung ist das Buch auch an den täglichen Familienwahnsinn zu Hause, als Vater von vier Kindern in einem Haushalt, der von der „Queen“ regiert wird. Er würde sie wohl auf Händen tragen, hätte er nicht ständig „Rücken“, diese Frau, die ihn mit schallendem Gelächter und stoischer Ruhe so nimmt, wie er ist, oder muss man fast sagen aushält? Ein bisschen Kishon in Braunschweig. Ganz nach Honoré de Balzac, wonach ein Mann stark ist, wenn er sich seine Schwächen eingesteht, wird er dabei niemals schwach als Mann, auch wenn manchmal ein Blick der Frau aus den graublauen, nordischen Augen reicht, um ihn zum Einlenken zu bringen, oder zum Urlaub an nordischen Gewässern.

Gut, manchmal wird es hart, wenn sie mit gepackten Koffern droht, sollte die entlaufene Python des Sohnemanns nicht wieder eingefangen werden. Und dann steht er Wache. Erfüllt seine Pflicht als Hüter des Heims, als Beschützer der Brut und man kann sich bildlich vorstellen, wie er verschwitzt im Keller ausharrt, der mit Mehl ausgestreut wurde, um die Spur der Schlange zu verfolgen. Er trauert um die sterbende Familienkutsche und angelt stundenlang nach der Hochzeitsbibel seiner Eltern im Altpapiercontainer. Er ist ein Held. Und irgendwann wird ihn hoffentlich ein anderer Bürger der Stadt würdigen als Braunschweiger Urgestein, wenigstens eine Medaille als Botschafter der Stadt, als Ehrenbürger mit Denkmal. Am besten vor „Eckis Kneipe“. Dann werde ich kommen, und einen Strauß Plastikblumen davorstellen.

Beitrag erschien zuerst auf:  theeuropean.de

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