Das neue jüdische Leben in Kischinau

Wenn Stella Harmelina, die Direktorin des Jüdischen Kulturzentrums in Kischinau in der Welt unterwegs ist und sagt, dass sie aus Moldawien kommt, weiss kaum einer ihrer Gesprächspartner, dass dieses Land existiert, geschweige denn, wo es liegt. Anders ist es, wenn sie Kischinau erwähnt.

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Wenn Stella Harmelina, die Direktorin des Jüdischen Kulturzentrums in Kischinau in der Welt unterwegs ist und sagt, dass sie aus Moldawien kommt, weiss kaum einer ihrer Gesprächspartner, dass dieses Land existiert, geschweige denn, wo es liegt. Anders ist es, wenn sie Kischinau erwähnt. Die Hauptstadt Moldawiens hat eine gewisse traurige Berühmtheit erlangt, als Ort des ersten Pogroms gegen Juden in Osteuropa im 20. Jahrhundert. Dabei war das Pogrom von Kischinau nicht einmal das grösste oder blutigste. Es war aber ein Pogrom, das mit Billigung des Zaren stattfand.
Damals war die Hälfte der Bevölkerung der Stadt jüdisch. Es gab kein jüdisches Viertel, sondern man lebte mit den anderen Nationalitäten zusammen. Es gab 78 Synagogen in Kischinau. Jede Handwerkergilde hatte ihre eigene. Die grösste Synagoge war die der Holzhändler. Sie stand in der Nähe des Holzmarktes, in einer Straße, die heute die schönste Fussgängerzone der Stadt ist. So wie damals die Synagoge die Strassenfront beherrschte, so prägt heute das Jüdische Kulturzentrum, das auf dem Gewölbekeller der Synagoge errichtet wurde,das Bild. Von hier ging 1903 am zweiten Tag des Pogroms der Widerstand aus. Jüdische Männer bewaffneten sich und wehrten sich gegen den Mob. Dabei machten sie die Erfahrung, dass die Polizei die Mörder und Brandstifter unterstützte. Am Ende gab es 600 Tote und 2000 zerstörte Häuser. Dass die Zahl nicht noch grösser war,ist nicht nur dem jüdischen Widerstand zu verdanken, sondern auch der Hilfe, die von ihren Mitbürgern gewährt wurde. Da ist vor allem der Bürgermeister von Kischinau Karl Schmidt zu nennen, der nicht nur im Vorfeld versucht hat, die wachsende antisemitische Stimmung zu dämpfen und sich dafür die Hilfe der zaristischen Regierung erbat, sondern der sein Haus während des Pogroms für alle Verfolgten offen hielt und half, wo er konnte. Nach dem Pogrom trat Schmidt, der die Stadt seit 1877, also über 25 Jahren regiert hatte, aus Scham von seinem Amt zurück. Er machte sich bis zu seinem Ende Vorwürfe, das Pogrom nicht verhindert zu haben. Heute führt jede Stadtführung über die jüdische Geschichte an seinem Haus vorbei. Die jüdische Gemeinde bewahrt ihm ein ehrendes Angedenken.
Kischinau, man sieht es heute noch an den wenigen Resten, war eine wohlhabende Stadt. Das war vor allem den jüdischen Handwerkern und Händlern zu verdanken. Die Juden waren aber auch prägend allen anderen Bereichen. Das jüdische Krankenhaus war das beste der Stadt. Hier wurden auch Goim behandelt. Nach dem Pogrom sorgte die ausgezeichnete medizinische Betreuung dafür, dass mehrere schwer misshandelte Menschen überleben konnten. Dabei wurden die jüdischen Ärzte von vielen ihrer Kollegen unterstützt, die ins Krankenhaus kamen, um Hilfe zu leisten. Das jüdische Altersheim mit seinen Marmortreppen war nicht nur eines der schönsten Gebäude der Stadt, was man der Ruine heute noch ansieht, sondern eine Einrichtung, die heutigen Standards mühelos genügen würde. Den alten Menschen wurde nicht nur Unterkunft und Verpflegung geboten, sondern ein ein Kultur- und Beschäftigungsprogramm, das kaum Wünsche offen gelassen haben dürfte. 
Juden prägten das kulturelle und wissenschaftliche Leben der Stadt. Die erste moldawische Oper und das erste Ballet wurden von Juden gegründet, ein Drittel der Stadt wurde von jüdischen Architekten gebaut. An der Universität wurde der erste Lehrstuhl für Anatomie von Juden ins Leben gerufen. Die Aufzählung liesse sich fortsetzen. Welche Ausstrahlung das jüdische Leben von Kischinau hatte, zeigt sich auch daran, wie stark die russische kulturelle Elite auf das Pogrom reagierte. Leo Tolstoi, Maxim Gorki, Wladimir Korolenko haben darüber geschrieben, um nur die bekanntesten zu nennen. Als Alexander Puschkin wegen einiger Spottgedichte nach 1820 nach Kischinau verbannt wurde, war die Stadt ein verschlafenes, langweiliges Nest, das nicht mal über eine ordentliche Strasse verfügte. Nur 80 Jahre später war sie ein Zentrum, das Menschen aus ganz Europa anzog.
Die Entwicklung brach mit der Sowjetisierung ab. Schon in der ersten moldawischen sozialistischen Republik wurden jüdische Grundstücke enteignet. Das Altersheim wurde aufgelöst, für die sowjetische Verwaltung genutzt und bis zur Unbrauchbarkeit heruntergewirtschaftet. Aus Synagogen wurden Lagerräume.
Im Zweiten Weltkrieg wurden viele jüdische Familien evakuiert. Vor allem diejenigen, deren Männer sich freiwillig zur Roten Armee meldeten. Die Evakuierung erfolgte nach sowjetischer Art, Männer getrennt von Frauen und Kindern. Sie kamen nach Kasachstan oder Usbekistan in weit voneinander entfernte Orte. Die Juden, die in Kischinau geblieben waren, wurden von der rumänischen Polizei abgeholt und in ein extra eingerichtetes Ghetto gesteckt. Dieses Ghetto existierte nur wenige Monate. Es war ein Durchgangslager nach Auschwitz. Erschiessungen wurden in kleinen Gruppen ausserhalb der Stadt durchgeführt, woran heute ein Monument erinnert. Es gibt aber auch eine Stelle in der Stadt, die heute mit einem trostlosen Neubau bebaut ist, in dem sich ein Spielsalon und ein heruntergekommene Pizzeria befinden, wo im Keller des Vorgängerbaus Erschiessungen stattgefunden haben- vom NKWD, der Gestapo, dann wieder dem NKWD, aber darüber wird nicht gesprochen.
Nach Ende des Krieges kehrten tausende Juden nach Kischinau zurück. Sie machten zwar nicht mehr die Hälfte, aber immerhin noch 30 Prozent der Bevölkerung aus. Allerdings entstand kein jüdisches Leben mehr, wie es die Stadt gekannt hatte. Von der Deportationswelle 1949, die sich gegen die Wirtschaft richtete, waren auch viele jüdische Unternehmen betroffen. Viele traditionelle Berufe wurden ausgelöscht. In den siebziger Jahren begann eine Auswanderungswelle nach Israel, die bis zum Ende der Sowjetunion anhielt. Der jüdische Bevölkerungsanteil sank auf 3 Prozent, eine Zahl, die heute noch zutrifft.
Im Unterschied zu den Sowjetzeiten hat sich in den letzten zehn Jahren wieder ein jüdisches Leben entwickelt, was grosse Ausstrahlung auf die Stadt hat. Das ist dem Jüdischen Kulturzentrum Kedem zu verdanken. Mit den Mitteln amerikanischer Sponsoren wurde eine beeindruckende Einrichtung geschaffen, die nicht nur ein architektonisches Highlight ist, sondern mit ihren Angeboten ein stetig wachsendes Publikum anzieht. Im Gewölbekeller befindet sich eine Ausstellung über das jüdische Leben in Kischinau, in den Räumen darüber wird aktiv an seiner Revitalisierung gearbeitet. Mit Erfolg! Das wurde während der Feier des zehnjährigen Bestehens von Kedem, das inzwischen auch über einen eigenen Fernsehsender verfügt, deutlich. Statt langweiliger Festreden, begleitet von getragender Musik, wurde ein mitreissendes Feuerwerk von Darbietungen präsentiert, die mehrheitlich von den Kursteilnehmern bestritten wurden. Ballett, Gesang, Tanz, Musik- immer mit Bezug auf früheres jüdisches Leben. Tango auf jiddisch, wie er in den Goldenen Zwanzigen in den Sälen von Kischinau getanzt wurde. Langsamer und sinnlicher als sein argentinisches Vorbild. Jüdische Schlager von vor hundert Jahren bis heute. Am besten hat mit die Akkordeon- Nummer gefallen. Ich habe Akkordeons nie gemocht, weil ich keine Ahnung hatte, was das für ein sexy Instrument sein kann, wenn die Richtigen es spielen. Das alles vor einem Publikum, das lebhaft Anteil nahm und die Darbietenden zu Höchstleistungen anfeuerte.
Das älteste Mitglied des Kedem- Teams brachte es in einer Kurzen Rede auf den Punkt: “Wir waren hier, wir sind wieder hier und wir werden hier bleiben!” Und weil das so ist, wird Kischinau bald wieder aus dem Schatten der Geschichte heraustreten.

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