Das Märchen vom Patriarchat

 

„Wer hat die Macht in der türkischen Familie? Der Mann jedenfalls nicht“, so die Psychotherapeutin Deniz Baspinar in ihrem „Zeit“-Artikel.

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Die Journalistin Isabella Kroth hat in ihrem Buch „Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland“ die soziokulturelle Determiniertheit und das Leid der in Deutschland lebenden türkischen Männer geschildert:

www.freiewelt.net/blog-2444/vom-leid-der-t%FCrkischen-m%E4nner.html

Die Psychotherapeutin Deniz Baspinar bestätigt in ihrem „Zeit“-Artikel „Der Mythos vom türkischen Macho“ die Beobachtungen von Isabella Kroth. In der Integrationsdebatte – und auch im Feminismus – sieht man meistens die Oberfläche. Die dahinter liegende psychosoziale Realität wird in der Regel ausgeblendet. So wird völlig unreflektiert und unkritisch die Vorstellung vom ungebrochenen Patriarchat in türkischen Familien verbreitet. Dabei werden Jungen und Männer immer als die Täter, Mädchen und Frauen immer als die Opfer dargestellt.

In der psychotherapeutischen Arbeit mit türkischstämmigen Frauen und Männern begegnet die Psychotherapeutin einer Wirklichkeit, die der Vorstellung vom ungebrochenen Patriarchat völlig widerspricht: „Die türkische Familie ist alles Mögliche. Sie kann für alle Mitglieder ein Ort von Einheit, Zusammenhalt, Wärme, Herzlichkeit und Liebe sein; aber auch von einzwängendem Liebesdruck, unrealistischen Erwartungen und Vorschriften. Eines ist sie ganz sicher nicht: Sie ist nicht der Ort, an dem die Männer das Sagen haben.“

Deniz Baspinar verweist auf die Kluft zwischen dem traditionellen Rollenbild der türkischen Männer und der von ihnen real erlebten Ohnmacht. Das Rollenbild besagt, dass der Mann immer stark sein muss und die Familie ernähren soll. Der familiäre und gesellschaftliche Druck auf den Mann ist sehr groß. Doch die Realität sieht ganz anders aus. Das Missverhältnis zwischen dem Rollenbild und der Realität verursacht psychische Krankheiten, am häufigsten Angst- und Panikstörungen, genauer: die Angst zu versagen, Bestrafungsängste und die Angst zu sterben.

„Viele türkische Frauen nutzen das traditionelle Männer für ihre Zwecke: Ihr Mann soll ihre Vorstellungen durchsetzen, die Familie versorgen, stark und unantastbar - ´männlich` - sein. Gleichzeitig aber wird der Mann in einer Kind-Position gehalten – von der eigenen Mutter und von der Partnerin. Es gibt Männer, die nicht entscheiden dürfen, was sie anziehen. Es gibt Männer, die niemals ihrer Mutter widersprechen würden. Es gibt Männer, die mit ihren Eltern zusammnleben und ihren ganzen Arbeitslohn aushändigen. Es gibt Männer, denen die Ehefrau eine Szene macht, wenn sie sich eigenhändig etwas in der Küche zu essen zubereiten. Und nicht zu vergessen: Zu jeder zwangsverheirateten Frau gehört ein zwangsverheirateter Mann.“

Um die Männer zu verstehen, muss das Verhältnis zu ihren Müttern analysiert werden. Die familiäre Sozialisation der Jungen sollte im Mittelpunkt stehen. Deniz Baspinar betont in diesem Zusammenhang, dass die Dominanz der Mütter in den türkischen Familien nicht zu übersehen ist. Der Vater wird oft von der Erziehung der Kinder ausgeschlossen. Die notwendige Nähe zu seinen Kindern kann gar nicht entstehen. Die Mutter nutzt die Hoheit über die Kinder aus (das gilt natürlich nicht nur für türkische Familien).

„Der erstickenden Liebesumarmung der Mütter können sich insbesondere die Söhne kaum entziehen. Die Söhne werden häufig sehr verwöhnt und damit emotional gebunden. Sie werden zu einer Art ´Ersatzmann` herangezogen und damit sowohl narzisstisch aufgewertet, als auch emotional überfordert. Den Jungen wird das Gefühl gegeben, wichtig und stark zu sein.“ Doch dieses Gefühl der Stärke und Macht gerät in einen Widerspruch zur Realität, und zwar im Kindergarten, in der Schule, in der Ehe und im Berufsleben.

„Zudem erstickt das ewig besorgte, beschützende, verwöhnende Verhalten türkischer Mütter die Bemühungen des Sohnes, selbständig zu werden. Später sind viele türkische junge Männer nicht in der Lage, einfachste Alltagsverrichtungen zu bewältigen.“ (Auch das kennen wir nicht nur von türkischen Familien.) Die Folge davon ist eine immense Abhängigkeit von der Mutter und der Familie. Junge Männer fühlen sich ohnmächtig gegenüber der Mutter und der Familie. Ihr Streben nach Autonomie wird als eine Gefahr für den Zasammenhalt der Familie betrachtet.

„Das machtvolle Wirken der Frauen bleibt hingegen im Geheimen. Ein Grund dafür ist, dass die türkischen Frauen sich oft davor fürchten, schuldig zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Aber wenn wir handeln, werden wir schuldig. Hier überschneidet sich das Interesse der türkischen Familie, das Bild der Frau, vor allem der Mutter, unschuldig zu halten, mit dem westlichen Bild von der Frau als Opfer männlicher Dominanzansprüche.“

Mit dem „westlichen Bild“ ist offensichtlich die feministische Sicht gemeint. Für den Feminismus gilt: nur Frauen sind Opfer der Sozialisation beziehungsweise der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie haben ihre Probleme nicht selbst verschuldet. Das bedeutet aber, dass sie die Verantwortung für ihre Taten nicht übernehmen können. Das klingt paradox, denn der Feminismus möchte doch, dass Frauen frei, selbständig werden und Verantwortung übernehmen.

Doch hinter der Vorstellung, dass nur Frauen Opfer der Gesellschaft sind, steckt ein politisch-ökonomisches Kalkül: Nur Frauen sollten in den Genuss der Gleichstellungspolitik kommen. Hilfs- und Förderprogramme sollten nur ihnen vorbehalten sein.

Die Psychotherapeutin Deniz Baspinar zeigt hingegen, dass Jungen und Männer ebenfalls Produkte und Opfer der Sozialisation sind und dass auch ihnen geholfen werden muss. Wir brauchen nicht nur eine Debatte, die das Bild vom ungebrochenen Patriarchat in Frage stellt, sondern auch eine Gleichstellungspolitik, die beide Geschlechter berücksichtigt.

Der Artikel von Deniz Baspinar in der „Zeit“:

www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-11/integration-tuerkische-macho

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Meier

Schöner Beitrag, Herr Dr. Ulfig.

Die analytische Sicht von Frau Baspinar (klasse!) deckt die emotionale Motivation der Matchos auf, ihre verzweifelt anmutenden und entsetzlich dummen Gewaltausbrüche (und ihre "Mama"/"Sohn"-Idealisierung).
Hinter allen Übertreibungen stehen eben treibende Emotionen, die auf ein erhebliches Defizit an ausgeglichenem Gefühl oder Bewußtsein hinweisen.
Verantwortung für sich oder die Seinen zu tragen gelingt mit entwickelter Rationalität leichter und grenzt diejenigen in ihrer Halbheit aus, die sich in Schuldzuweisungen emotional ergehen. Darum ist, meiner Ansicht nach, weder von Matchos noch von Feministinnen anderes als übertriebenes Getrommel bzw. Gefeixe zu erwarten.

Gravatar: ohmannohjens

Toller Artikel....endlich wird auch bei den türkischen Männer das gesellschaftlich schiefe Bild ihres angeblichen Matcho- Gehabes versucht in Richtung Wahrheit zurecht zurück......

Meine Frage, darf ich diesen Beitrag in meinem Blog übernehmen- natürlich mit dem passenden Link dazu.....

beste Grüße

Jens

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