Das Gespür für richtig und falsch

Brief an meine türkischen Freunde

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Merhaba! Herzlich grüße ich euch, liebe Freunde. Schon oft hat mich meine Sehnsucht nach den Ursprüngen meines Glaubens in eure Heimat geführt. Im bezaubernden Kappadokien, wo ich inzwischen Freunde gefunden habe, lebten ja im 4. Jahrhundert die Kirchenväter Basilius von Cäsarea (Kayseri), Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz; nicht zuletzt ihrer Gedanken-Klarheit ist es zu verdanken, dass wir Christen gegen alle Angriffe das Zeugnis der Heiligen Schrift bewahrt haben: Jesus Christus ist nicht nur wirklicher Mensch, sondern auch wirklicher Gott.

Darf ich heute mal ein problematisches Thema ansprechen? Stellt euch vor, ausgelöst durch eine feucht-fröhliche Gartenparty kommt eine junge Mutter in den Kontakt zu einem jungen Mann aus der Nachbarschaft, die Stimmung schwappt über. In Abwesenheit ihres Ehegatten stimmt sie zu, dass der Bursche von ihrem schönen Körper Fotos macht; und leider bleibt es nicht bei Fotos. Statt, der Erlösung gewiss, offen damit umzugehen, verleugnet sie ihr Verhalten vor sich selbst.

Begangene Schuld wirkt weiter; möglicherweise durch ein ganzes Leben. Die Mechanismen der Verdrängung wirken unheilvoll: eigene Schuld wird auf andere abgewälzt, solange sie nicht wirklich vor sich selbst eingestanden ist. Wir Christen haben, wie ihr wisst, gegen solche Attacken der eigenen Psyche eine wunderbare Waffe: Wir wissen, dass es keine Schuld der Welt geben kann, die durch den Kreuzestod Jesu Christi nicht ein- für allemal beseitigt worden ist. Eben, weil es Gott selbst ist, der aus Liebe zu uns eingegriffen hat.

Was passiert nun, wenn ein ganzes Volk eine Schuld verdrängt, die aus den eigenen Reihen heraus begangen wurde? Ihr wisst natürlich, wovon ich rede. Es geht um das, was in den Jahren 1915 in Eurem Land geschehen ist. Viele von euch haben davon gehört – die meisten allerdings nur in dem Sinn, es handele sich um unwahre Anschuldigungen gegen das türkische Volk.

Täglich sehen und hören wir von den schrecklichen Untaten der IS-Terroristen in den von ihnen besetzten Gebieten des Irak und Syriens. Auch Alewiten und Schiiten werden getötet. Welche Gefühle habt ihr, wenn ihr die Bilder seht?

Wie ich weiß, neigen viele von euch dazu, auch für die Untaten der IS-Terroristen „die Amerikaner“ verantwortlich zu machen. Zwar habe ich ein gewisses Verständnis dafür; erst unlängst hat die Obama-Administration in Nigeria militärische Hilfe gegen die islamistischen Terror-Soldaten davon abhängig gemacht, dass Nigeria die verkorksten Vorstellungen der US-Regierung über die Sexualität übernimmt. Das ist schlicht „Imperialismus“ jener Ideologie, die sich „Genderismus“ nennt. Vor diesem Hintergrund lässt sich sogar verstehen, was „Boko Haram“ übersetzt bedeutet: „Westliche Bildung ist Sünde“.

Woher nehmen wir überhaupt die Quellen für das, was richtig oder falsch, gut oder böse ist? Wer einer der großen Offenbarungs-Religionen (Judentum – Christentum – Islam) angehört, kann die Weisung aus seinen heiligen Schriften nehmen. Die Bindung an die Bibel hat der „Westen“ im Zug der neuzeitlichen Geistes-Entwicklung mehr und mehr gelockert, schließlich haben sich die politischen Verantwortlichen davon ganz gelöst. Es gibt zwar noch – dem Namen nach – religiös orientierte Parteien in Deutschland, aber auf die Politik hat das schon lange keinen direkten Einfluss mehr.

Was noch kaum jemand so richtig wahrgenommen hat: Es gibt noch eine zweite Quelle für das, was „richtiges“ bzw. „falsches“ Handeln ist: Das Wesen des Menschen selbst. Muslime wie Christen oder andere Angehörige eines Schöpferglaubens vereint die Ansicht, dass es Orientierungen gibt, die sozusagen „in die Natur des Menschen eingeschrieben“ sind. Der Mensch tut gut daran, sich nach diesen zu orientieren.

Mit dem Aufkommen des sog. „Genderismus“ (der das „Geschlecht“ eines Menschen als etwas Verfügbares ansieht) hat sich etwas Entscheidendes verändert. Ausgegangen wird davon, dass es für den Menschen keinerlei Vorgegebenheiten gibt, die er zu beachten hätte. Für das, was „richtig“ und „falsch“ ist, brauche er sich einzig und allein an der sogenannten „Freiheit“ des Anderen orientieren. Dabei wird Freiheit ausschließlich negativ definiert – als „Freisein“ von Bindungen. Und jeder hat sein eigenes „Werte-System“…

Beispiel: Wenn es Menschen mit homosexueller Orientierung gibt, dann müssen diese auch die „Freiheit“ haben, ihre Neigung zu leben, heißt es; niemand darf sie daran hindern zu tun, was sie wollen. Das wird seit einiger Zeit in den Schulen Deutschlands verkündet; im Ergebnis weiß kaum noch einer, dass homosexuelle Handlungen nicht nur die in den Heiligen Schriften geoffenbarten (vgl. dazu Röm 1,27f), sondern auch die in die menschliche Natur eingeschriebenen Weisungen Gottes verletzen. Junge Menschen wachsen desorientiert auf. Wie es sich auf die Psyche auswirkt, wenn der Mensch den inneren Sinn für gut/böse verliert, haben wir an dem einleitenden Beispiel gesehen.

Das ist nun die Stelle, liebe Freunde, an der wir über die schrecklichen Taten reden können, die damals im Osmanischen Reich an den Armeniern begangen worden sind. Wir reden von mehr als 1 Million getöteten Menschen. Die meisten von ihnen sind gezielt hingerichtet worden; wie heute die Jesiden, Alewiten oder Schiiten (durch den IS-Terrorismus); auch die Armenier wurden umgebracht, weil sie Christen waren.

Wichtig ist: Es geht nicht darum, die heute Lebenden für das, was damals geschehen ist, in irgendeiner Form verantwortlich zu machen (nicht, wie jener Sohn einer befreundeten Familie, der in Paris zur Schule ging und dort von Mitschülern als „Hitler-Nazi“ tituliert wurde…). Verantwortlich ist der Mensch nur für das, was in seinen eigenen Möglichkeiten liegt.

Im aktuellen Buch von Michael Hesemann (Herbig-Verlag, München) wird eine Vielzahl von bisher unveröffentlichten Originaldokumenten ausgewertet. Es zeigt die Vorgeschichte der Katastrophe und informiert genau, was sich in den Dörfern und Städten der Osttürkei, in den Steppen des Hochlandes und in der syrischen Wüste zugetragen hat.

Zu der Frage, ob der Genozid überhaupt stattgefunden hat, ist – neben der Vielzahl der unabhängigen Belege – auch relevant, dass der damalige Großwesir Damad Ferid Pascha am 11. Juni 1919 sich zu dem Unrecht öffentlich bekannt hat. Das Buch offenbart auch das Versagen der Politik; aus deutscher Sicht erscheint besonders bemerkenswert, wie verblüffend parallel sich die damalige wie die heutige Regierung Deutschlands in dieser Angelegenheit verhalten haben.

Warum, meine türkischen Freunde, erscheint mir diese in der Türkei Erdogans heute verleugnete Frage des Völkermords an den Armeniern so wichtig? Nun, wir brauchen ja bloß genauer hinzusehen. Schon im Sommer 2013 offenbarten die Proteste gegen Bauvorhaben der Regierung am Gezi-Park die Unzufriedenheit junger wie intellektueller Kreise. Am 17. Dezember 2013 begannen strafrechtliche Ermittlungen gegen Politiker und Geschäftsleute aus dem Umfeld von Tayyip Erdogan.

Die Reaktion der Regierung? Von heute auf morgen wurden sämtliche Berichte über die Verfahren unter Strafe gestellt. Staatsanwälte und Polizisten, welche die Korruption aufgedeckt hatten, wurden strafverordnet und an ihre Stelle Beamte eingesetzt, die Erdogan gegenüber loyal waren. Die Freiheit der Berichterstattung ist seither entscheidend beschnitten, Internetseiten gesperrt, die Benutzung von Facebook und Twitter eingeschränkt. Im Dezember 2014 sind 20 Journalisten der Mediengruppe Zaman verhaftet worden. Zuletzt hat die Bankenaufsicht die Bank Asya, bis dahin das drittgrößte Finanzinstitut der Türkei, einfach geschluckt. Hat das „System Erdogan“ jetzt sein wahres Gesicht gezeigt?

Wir wissen, wie Erdogan bisher mit dem Armenien-Thema umgegangen ist. Dieser selbsternannte „Führer der Türken“ hat im Jahr 2011 ein Denkmal, das Mehmet Aksoy in der osttürkischen Stadt Kars errichtet hatte, kurzerhand abreißen lassen. Erdogan will das Thema „Völkermord an den Armeniern“ komplett tabuisieren. Wollt ihr verdrängte Schuld zum Mittel machen, Euer Land zu befreien?

 

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