Das Ende der politischen Theorie

Der letzte Mensch hat es sich gemütlich gemacht in dieser Republik. Er ist ein Wesen der Gegenwart: gleich einem Hund, der weder plant, noch weiß, woher er kommt. Er braucht keine Informationen mehr, denn er kennt bereits den Kommentar; die Einschätzung nehmen ihm andere ab. Und er fühlt sich gescheiter, je häufiger er dieselbe Meinung liest, und sich in dieser bestätigt fühlt.

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Natürlich liest er auch Bücher, besonders jene kleine Perlen, jene wunderbaren Einzelfälle unter den Bestsellern, die alle anderen auch lesen und deswegen als besonders wertvoll gelten. Den Boulevardblättern ist er natürlich kritisch gegenüber, ebenso dem Privatfernsehen. Gut, dass es da jene Qualitätsblätter und die Gebühr für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, wo wirklich „komplexe Zusammenhänge“ erzählt werden, nämlich mal auf einer ganzen Seite statt nur auf einer halben.

Natürlich hat er studiert. Lange und viel. Er weiß genau, welche Antwort er auf welche Frage geben muss; wie er auf andere Ansichten reagieren muss, die nicht die seinen sind. In völliger Gedankenfreiheit hat er kopiert und auswendig gelernt. Er ist eine wichtige Stütze der Gesellschaft. Abends erregt er sich über das Weltgeschehen. Unfassbar! Politiker streiten. Länder führen Krieg. In einer Sportart hat jemand einen Rekord aufgestellt. Das Paradoxon, dass es einerseits „immer schlimmer und schlimmer“ wird, obwohl er doch gelernt hat, dass es früher ganz schrecklich war, ist einer der alltäglichen Widersprüche, die er aushält.

Nicht die Unbildung ist der Vorwurf, der an ihn zu richten ist. Denn Unbildung bedeutet nicht zwingend mangelndes Denkvermögen. Doch letzteres ist genau der Fall: unser letzter Mensch leidet bereits daran, irgendetwas wahrnehmen zu können, was keinem pawlow’schen Reflex unterliegt. Die Vorstellung, dass irgendetwas außerhalb der Welt geschieht außer der vor seinen Augen inszenierten – ein absurder Gedanke. Jedes historischen Gedächtnisses beraubt, erlebt er jeden Tag neu. Jeder originelle Gedanke, der geäußert wird, ist ihm unbekannt. Und zugleich gefährlich: denn alles, was den gegenwärtigen Konformismus aus der Balance treibt, könnte ihn ja aufwecken. Politische Theorie, so sie nicht die gegenwärtige politische Gegenwart lobt, ist per se verdächtig. Jemand äußert Zweifel an der Demokratie? Gefährlicher Extremismus, der bekämpft werden muss! Jemand glaubt, dass das Parteienwesen ein Problem darstellt? Exponent einer neuen, gefährlichen Ideologie! Jemand merkt an, dass die Spannung zwischen Volk und Elite ihren Tribut fordert? Populist!

Seit Caffaro, der mit den Annales Ianuenses das erste nicht-geistliche Geschichtswerk des poströmischen Abendlandes niederschrieb, schwingt der Gedanke mit: ich schreibe auf, damit ihr euch daran orientieren könnt. Geschichte ist dazu da, um praktische Erkenntnisse für die Politik abzuleiten. Jedes Staatswesen wird Krisen erleiden. Hier sind einige davon. Damit ihr wisst, dass nichts von Ewigkeit ist. Stellt mein Buch in eure Bibliothek, damit ihr später darauf zurückgreifen könnt.

Aber wozu Geschichte, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass der Ist-Zustand das Ende ist?

Wir werden keine Feuerwehr brauchen, die Bücher verbrennt. Die Altvorderen waren zu gutgläubig, als sie die Zensur ihrer Tage auf unsere übertrugen. Stattdessen werden die Bücher in ihren Regalen dahinmodern, verrotten, bis selbst die Spinnen ausgezogen sind, die ihr Heim dort gefunden hatten. Das Erbe unserer Vorfahren, ihre Warnungen und ihre Ratschläge, werden dann nicht verblassen – denn es gibt nichts mehr, was verblassen könnte, weil sie bereits vergessen waren, bevor das letzte Exemplar von Machiavellis Discorsi zu Staub verfiel. Was bleiben wird: digitale Zusammenfassungen von Machiavellis Gesamtwerk, natürlich ausgewählt, natürlich kommentiert, natürlich möglichst kurz. Und vor allem: bewertet. Damit sie genau wissen, was für ein Unmensch dieser Machiavelli, was für ein Teufel dieser Hobbes, was für ein Defätist dieser Tocqueville, was für ein Nazi dieser Schmitt war.

Eines der letzten Rätsel der Wissenschaftsgeschichte bleibt der Schriftverlust in der Spätantike. Verrotteten die Bestände? Zerstörten die Christen heidnisches Erbe? Damnatio Memoriae durch spätere Herrscher? Vielleicht war es aber auch eine Änderung im Geschmack – einhergehend mit dem sinkenden Bildungsniveau.

Sieht man von Ammianus Marcellinus ab, dann ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die sich eher für Anekdoten, Skandale und Kurzfassungen interessiert, denn für echte Geschichtswerke. Livius schreibt unter Augustus ein mehrbändiges Werk von der Gründung Roms bis in seine eigene Zeit; im 4. Jahrhundert dagegen zirkuliert die Historia Augusta, eine Sammlung und Zusammenfassung anderer Werke, die mit ihren vielen Passagen voll Klatsch und Tratsch als boulevardeske Pervertierung antiker Geschichtsschreibung daherkommt. Die Leserschicht will lieber unterhalten werden, als etwas zu lernen. Und wenn ein Geschichtswerk, dann doch vor allem eine Zusammenfassung älterer Autoren, statt diese im Original zu lesen. Man muss beim Niedergang des Buchmarktes nicht immer davon ausgehen, dass die Autoren schlechter werden oder die Zensur mitspielt – häufig wird nur ein gewisses Publikum bedient, das statt der echten Klassiker ein Buch namens „Klassiker for Dummies“ bevorzugt. Bildung ist auch heute keine Sache, die man ihrer selbst willen tut oder aus der man praktischen Nutzen bezieht, als vielmehr Ausweis dafür, einer bestimmten sozialen Gruppe anzugehören. Sie können nicht mehr Cicero zitieren; aber ihr Halbwissen reicht dazu aus, nicht als Volltrottel dazustehen und zwei Sätze zu Cicero zu äußern, bevor die Diskussion ein anderes Thema schneidet, das genauso belanglos ist wie der Diskurs davor.

Die Parallelen drängen sich also selbst in diesen Details auf. Mit dem Unterschied, dass die Klostermönche unserer Zeit vielleicht nicht mehr das retten, was ihnen relevant erscheint. Es steht zu befürchten, dass dieses Mal weniger Thukydides und Polybios tradiert werden, als vielmehr jene Zauberbücher, pornographischen Schriften und Triviallektüren, die zum Glanzpunkt unserer Zeit zählen, und von den ach so tumben Mönchen zugunsten eines Livius vernachlässigt wurden. Die Zahl jener, die den Besitz eines Jünger-Buches zum Nazi-Code stilisieren, werden Ihnen im nächsten Satz ohne Mühe ein Harry-Potter-Zitat um die Ohren klopfen, zum Ausweis ihrer höheren Intellektualität. Die Ochlokratie ist auch immer eine Idiokratie.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Unmensch

Der letzte Mensch - die aber mehr sind - ist ein Schauspieler, der sich an die Textvorgaben und Regieanweisungen hält, dafür aber in der emotionalen Umsetzung dieser umso überzeugender ist.
Es gibt tatsächlich Wissenschaftler die meinen, dass sich Menschen von Affen nicht unterscheiden, weil auch Affen alle Emotionen haben wie die Menschen. Ja, wenn man sich nur dafür interessiert, dann ist es so.
Vielleicht erkennen die guten Menschen deshalb in den neuen Menschen einen so grossen Reichtum, weil die eine grössere Vielfalt und Buntheit an Emotionen zeigen. All jene, die hierzulande ehemals verpönt waren.

Gravatar: Ulrich Walz

Bravo, Herr Gallina, erstklassiger Beitrag! Tut richtig wohl, wenigstens zwischendurch mal noch so etwas zu lesen zu bekommen! Schade eigentlich, dass ich Sie nicht persönlich kenne!

Gruß U.W.

Gravatar: karlheinz gampe

Klassische Bildung wird nicht mehr gelehrt, denn sowas wäre zu gefährlich für eine rote kriminelle Herrscherkaste. Denn was die Leute nicht wissen, dass werden sie auch nicht vermissen. So kann selbst ein Sklave sich frei fühlen, wenn er nicht weiß, dass er Sklave ist.

Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

... „Der letzte Mensch hat es sich gemütlich gemacht in dieser Republik. Er ist ein Wesen der Gegenwart: gleich einem Hund, der weder plant, noch weiß, woher er kommt. Er braucht keine Informationen mehr, denn
er kennt bereits den Kommentar; die Einschätzung nehmen ihm andere ab. Und er fühlt sich gescheiter,
je häufiger er dieselbe Meinung liest, und sich in dieser bestätigt fühlt.“ ...

Wird das Renteneintrittsalter etwa deshalb nun auf 70 erhöht - wobei dies erst der Anfang ist https://www.focus.de/finanzen/altersvorsorge/rente/brisante-studie-rente-mit-70-kommt-und-das-ist-erst-der-anfang_id_10452196.html,
damit die Betroffenen vor ihrem im Weltvergleich so frühen Tod
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_L%C3%A4ndern_nach_durchschnittlicher_Lebenserwartung
nicht merkeln, dass sie im Vergleich mit Westeuropa die geringste Lebenserwartung haben
https://www.tagesspiegel.de/politik/who-studie-deutsche-haben-niedrigste-lebenserwartung-in-westeuropa/23622458.html
und warum?
https://www.tagesspiegel.de/politik/europaweiter-vergleich-warum-haben-deutsche-so-eine-geringe-lebenserwartung/23665136.html

Soll mit der nun kommenden Erhöhung des Renteneintrittsalters den Deutschen etwa klar gemacht werden, dass die endlich noch viel sozialverträglicher zu sterben haben
https://www.welt.de/debatte/kolumnen/zippert_zappt/article150446808/Die-Deutschen-sterben-nicht-sozialvertraeglich.html
und – „gleich einem Hund“ schon deshalb nicht drum herum kommen dürfen, weil deren Renteneinzahlungen fürs Überleben unserer Göttin(?) Plagen sehr viel dringender benötigt werden???

Auch ich bin mir sicher:

„Es steht zu befürchten, dass dieses Mal weniger Thukydides und Polybios tradiert werden, als vielmehr jene Zauberbücher, pornographischen Schriften und Triviallektüren, die zum Glanzpunkt unserer Zeit zählen, und von den ach so tumben Mönchen zugunsten eines Livius vernachlässigt wurden. Die Zahl jener, die den Besitz eines Jünger-Buches zum Nazi-Code stilisieren, werden Ihnen im nächsten Satz ohne Mühe ein Harry-Potter-Zitat um die Ohren klopfen, zum Ausweis ihrer höheren Intellektualität. Die Ochlokratie ist auch immer eine Idiokratie“!!!.

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