Wer es in diesen Olymp der Lichtbildnerei geschafft hatte, verfügte über Privilegien, Honorare und Spesenrahmen, von denen damalige Fotografen – von den heutigen zu schweigen – nur träumen konnten. Zum erlesenen Magnum-Zirkel gehörte auch Thomas Höpker, renommiert durch seine „Stern“-Reportagen aus vielen Jahren und ungezählten Ländern.
Er hatte, wie es schien, am Folgetag Berufspech. Was zynisch klingen mag. Wirkliches, und zwar tödliches, Pech hatten am 11.9. 2001 ungefähr 3000 Berufstätige, die sich in den Twin-Towers aufhielten. Doch dem Reporter, der vom Ausmaß der Menschenvernichtung zu diesem Zeitpunkt nichts wissen konnte, muss es vorgekommen sein, als sei er es, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Höpker befand sich in seinem Haus auf Long Island, während die Magnum-Kollegen im East Village wohnten - nicht weit von der „Unglücksstelle“, wie Höpker den Ort des Massenmords mal höchst unglücklich benannte.
„Als 9/11 passierte, sind wir alle (die Magnum-Fotografen, Red.) individuell losgefahren und ich kam nicht mehr an die eigentliche Unglückstelle“, erinnerte er sich Jahre später. Viele Straßen waren verstopft. Der Subway-Verkehr eingestellt. Er fuhr mit dem Auto nach dem Süden von Manhattan und konnte von dort nicht viel mehr fotografieren als die Rauchschwaden über den noch nicht eingestürzten Türmen.
Höpker war es, der tags darauf entschied, aus den Bildern seiner Kollegen sofort ein Buch zu machen. Er editierte das Material und stellte auf Long Island in professioneller Eile auch das Layout zusammen. Was ebenfalls zynisch klingt. Aber gute Reporter müssen so sein. Gute Reporter machen ihren Job.
Gute Reporter haben auch den Blick für das scheinbar Nebensächliche, selbst in Extremsituationen. Höpker war bei seiner Fahrt in die Stadt an einer Uferpromenade von Williamsburg, Brooklyn, vorbeigekommen. Da hockte eine fünfköpfige Truppe jüngerer Weißer um ein Fahrrad. Ganz entspannt, gut gelaunt, offensichtlich in eine fröhliche Diskussion verstrickt.
Keiner aus der Gruppe wirft einen Blick auf das Drama, das sich vor seinen Augen (dazwischen liegt nur der East River) abspielt. Sie scheinen weder besorgt noch erregt, diese Twentysomethings. Eher, als quatschten sie über Sport- oder Unterhaltungsevents oder die letzte heiße Partynacht.
Hinter ihnen eine riesige Qualmwolke.
Höpker stoppte. Schoss, wie er sagte, nur drei Fotos und fuhr weiter.
Im Magnum-Buch wurde keines davon gedruckt. Es erschien ihm, sagte er, „einfach zu läppisch“. Angesichts der Wucht der Bilder seiner Kollegen, die am Ort des Geschehens entstanden waren.
Jahre später hob ein deutscher Kurator, der eine Ausstellung von Höpker-Fotos in München organisierte, das Juwel. Der Snapshot gilt seither als eine Ikone des Fotografen, der viele zum Niederknien gute Bilder gemacht hat.
Warum wurde gerade diese Ansicht so wichtig? Das Bild zeichnet so etwas wie zwei Zeitschienen zugleich auf. Mehr noch, zwei Bewusstseinszustände. Auf der einen Seite des Flusses geschieht etwas Ungeheures. Doch auf der anderen Seite scheint man das Drama nicht bemerken zu wollen.
Looking the other way.
Dennoch wirkt das Foto keineswegs denunziatorisch. Bloß verstörend. Irgendwie anachronistisch. Es enthält eine Allegorie, dieses Foto. Ja, der Schuss war gefallen. Aber sein Echo wurde längst nicht von allen vernommen. Manche blieben einfach bei ihrer Tagesordnung.
Seit Wochen befindet sich dieses unglaubliche Bild in meinem Gesichtsfeld. Es ist das Cover eines großen, dicken, schweren Foto-Bandes, mit dem ich meine haarenden Katzen daran hindere, sich in einer Sofaecke breit zu machen, welche für meine Frau reserviert ist.
Während ich Zeitungen lese, fernsehe oder im Internet surfe, ist mir Höpkers Bild immer präsent. Die Medien berichten manchmal noch über die Massaker von Paris. Oder streifen gelegentlich die Tatsache, dass seit Anfang September eine Million oder noch mehr Menschen, welche der Einfachheit halber pauschal Flüchtlinge oder Schutzsuchende genannt werden, mehr oder weniger illegal nach Deutschland eingereist sind. Hundertausende sind abgetaucht. Wer sind die? Wo sind die? Wovon leben die? Bei dem Thema herrscht weithin Funkstille.
Manchmal gibt es Terrorwarnungen, die aber meist vage bleiben. Demnächst mehr in diesem Theater! Viel wichtiger momentan, dass sich in Paris – schon wieder Paris – ganz viele Menschen aufhalten, welche dem Klima verbieten wollen, sich über eine bestimmte Marke hinaus zu erwärmen. Dazwischen platzt die Schreckensmeldung: die elenden Japaner wollen wieder Wale killen!
Der neue Pirelli-Kalender kommt ohne nackte Mädels aus – tolle Idee. Ferner „spaltet“ der Edeka-Weihnachtsspot Deutschland. Helene Fischer „knutscht“ mit Florian Silbereisen – na ja, angeblich. Fakt hingegen: „Endlich“ steht nun der Termin für das Dschungelcamp 2016 fest.
Für den Stern bin ich mit Thomas Höcker durch Indien gereist. Es war eine Freude, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Eine noch größere Freude hat er mir mit seinem 9/11-Bild bereitet. Es beweist mir täglich: In aberwitzigen Parallelwelten zu leben, ist völlig normal.
Klicken Sie für Höpkers 9/11-Foto hier:
https://iconicphotos.wordpress.com/2010/06/17/911-thomas-hoepker/
Beitrag zuerst erschienen auf achgut.com
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