China: Wettlauf um die Seelen

Warum der Papst den 24. Mai zum Weltgebetstag für die Kirche in China proklamiert hat

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„Sehen Sie das?“ Lebhaft bedeutet mir Kollege Paul Badde, einen für uns ungewöhnlichen Vorgang zu beachten. Wir sitzen in der riesigen Kathedrale von Shenyang, der Metropole Nordost-Chinas, auf bevorzugten Plätzen links vom Altar, denn als Gäste aus Europa will man uns damit Ehre erweisen. Gerade haben wir den Leib Christi empfangen und aufmerksam betrachtet, wie sich die Gläubigen aus den überfüllten Bankreihen nach vorne bewegen. Doch unversehens bildet sich eine neue Schlange: Eine lange Reihe von Gottesdienstbesuchern tritt vor den Priester, neigt den Kopf und lässt sich die Hand auflegen. „Der Pfarrer gibt den Primiz-Segen“, flüstert Paul Badde, „dafür haben sich die Leute früher die Schuhsolen abgelaufen.“

Diese Deutung war plausibel, hatten wir doch den jungen Priester sozusagen mitgebracht. Gerade war er im katholischen China-Zentrum in St. Augustin bei Bonn zum Priester geweiht worden und es war tatsächlich die erste Messe, die er in seiner chinesischen Heimat zelebrierte. Wir reihen uns also abermals ein, der Priester schmunzelt und segnet. Er gibt  aber, wie sich später herausstellt, keineswegs den Primiz-Segen, sondern den Segen für die Taufbewerber! So hatten wir gleich zu Beginn unserer Reise hautnah die Dynamik der katholischen Kirche, die Dynamik des Christentums in China erfahren.

Die Kirche in China wächst rasant und sie wächst schneller als alle anderen Religionen, schneller als der traditionelle Buddhismus und Daoismus, schneller auch als viele neue Sekten und Sondergemeinschaften wie die Falun-Gong-Bewegung, die im Reich der Mitte ihre Lehren verbreiten. Die christlichen Kirchen und Gemeinschaften sind längst stärker als die Kommunistische Partei, der vielleicht noch siebzig Millionen Chinesen angehören, und immer mehr von ihnen erklären ihren Austritt. Christen könnte es heute vielleicht schon hundert Millionen geben oder mehr. Genau weiß man es nicht, da nur die staatlich registrierten Katholiken und Protestanten offiziell gezählt werden, nicht aber die weit zahlreicheren Christen in protestantischen Hauskirchen und in den nicht registrierten katholischen Gemeinden, die oft noch, etwas irreführend, als „Untergrundkirche“ bezeichnet werden.

Als wir wenig später auf einer Insel vor der früheren deutschen Kolonie Tsingtao die gleiche Schlange nach der Kommunion sehen, wird unser Interesse aufs Neue geweckt, denn es sind dort hauptsächlich junge Frauen, die sich segnen lassen. Auf unseren Wunsch hin bleiben

die jungen Damen nach der Messe noch sitzen. Sie stellen sich als Studentinnen vor, die in Peking studieren und jetzt die Semesterferien zuhause verbringen. Unter Studenten, so hören wir, sei der Anteil der Christen bereits doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung – demnach wäre bereits jeder zehnte chinesische Student ein Jünger Jesu geworden.

Wir hören derzeit in Europa viel Neues aus China, Nachrichten von Repressionen des Staates gegen seine Bürger, von rasantem Wirtschaftswachstum, von Erdbeben und Überschwemmungen. Zu wenig berücksichtigen aber unsere Medien die Erkenntnis von Papst Pius XII., „dass Schicksal und Entwicklung der Völker zuerst und zutiefst von den in ihnen lebenden geistigen Strömungen und sittlichen Anschauungen beherrscht werden“. Sie entscheiden, ob ein Staat zu Krieg oder Frieden neigt, ob sich wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Friede entfalten kann.

Während Zeitungen und Fernsehen bei uns erst allmählich von der geistigen Wende Chinas Notiz nehmen, ist sich der Heilige Stuhl längst ihrer Tragweite und Bedeutung bewusst. Als wir im Juni 2007 nach Peking kommen, sitzen wir mit Vertretern der „offiziellen“ und der „Untergrundkirche“ zusammen. Gerade ist dort der „Brief des Papstes an die chinesischen Katholiken“  eingetroffen – kein alltäglicher Vorgang in der katholischen Weltkirche. Es gehe darum, „die große Ernte des Glaubens“ einzubringen, heißt es darin. Geradezu beschwörend ruft der Papst Chinas Katholiken auf den Weg der Versöhnung, vom „sehnlichsten Wunsch“, von „dringendem Erfordernis“ ist die Rede. Doch unser Gespräch am runden Tisch in einem Pekinger Hotel macht deutlich, wie schwer es beiden Teilen der Kirche noch fällt, Schritte auf dem Weg zur inneren Einheit zu gehen.

 

Ein Weltgebetstag für China

 

Wie wichtig der Fortgang dieser Bemühungen in China ist, zeigt der im Papstbrief proklamierte weltweite „Gebetstag für die Kirche in China“. Der 24. Mai, der Gedenktag „Maria, Hilfe der Christen“, soll „den Katholiken auf der ganzen Welt Gelegenheit bieten, sich im Gebet mit der Kirche in China zu vereinen.“ Einen jährlichen Weltgebetstag für die Kirche eines bestimmten Landes – hat es das schon einmal gegeben? Doch was ist davon in Deutschland angekommen? Welche Pfarrei greift dieses zentrale Anliegen des Papstes auf? Können wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie christlicher Aufbruch ein Land verändern kann, wie in einer Zeit der Entscheidung das Schicksal eines Landes und im Falle Chinas der ganzen Welt auf dem Spiel stehen kann?

Wer die vollen Kirchen, die Inbrunst der Gläubigen, den Ernst der Taufbewerber, die Freude der vielen jungen Ordensfrauen erlebt, bekommt eine Ahnung davon, mit welcher Macht der Heilige Geist in dieser Zeit das ostasiatische Riesenreich durchpflügt. Überall wird von unerklärlichen Heilungen berichtet, es ist ein Massenphänomen bei katholischen wie protestantischen Christen. Vor allem auf dem Land bringen Familien ihre Kranken zum Priester, zur Ordensfrau oder auch in eine protestantische Gemeinde.

„Seht wie sie einander lieben“ hieß es über die ersten Christen. Auch im heutigen China scheint das wieder zum Kennzeichen junger Christengemeinden zu werden.  „Unsere Gesellschaft ist so kalt geworden“, sagt eine junge Chinesin in einer der neuen Gemeinden, die wir in der südwestchinesischen Provinz Sichuan besuchen, „jeder fährt nur noch die Ellbogen aus, um schnell zu Geld zu kommen. Hier bei den Christen habe ich eine Gemeinschaft gefunden, bei der es anders ist, wo man sich hilft, wo einer für den anderen da ist.“ Ein Jahr später, im Mai 2008, hat es dort ein schweres Erdbeben gegeben, in der China etwas Neues erlebt hat. Vor allem Christen aus allen Teilen Chinas reisten nach Sichuan, um die Opfer zu pflegen, ihre Häuser wiederaufzubauen. Solche freiwillige Solidarität über den eigenen Clan, das eigene Dorf hinaus, kannte man bisher kaum. „Das Christentum, sagt uns ein Wissenschaftler an der Volksuniversität Peking, bringt etwas, was China dringend braucht – die Nächsten- und die Feindesliebe, und die Entdeckung der menschlichen Person“.

 

Vorbild ist der Westen

 

Chinas Kommunistische Regierung hat schon vor Jahren an einigen Hochschulen Institute zur Erforschung des Christentums gegründet. In der chinesischen Kultur ist man gewohnt, großen Lehrern zu folgen, Vorbildliches zu kopieren. So hat sich die Staatsführung nach Maos Tod gefragt, wie es der Westen geschafft hat, ein solches Maß an Wohlstand, Sicherheit und Lebensqualität zu erreichen und die alte chinesische Kultur so weit abzuhängen. Die Leiterin eines solchen Instituts teilt uns ihre Forschungsergebnisse mit, die viele Intellektuelle im Westen erstaunen würden: Nicht überlegene Waffen oder ein besseres Wirtschaftssystem hätten den Westen vorangebracht. Motor des Fortschritts sei das Christentum gewesen. Über die rein geistige Beschäftigung mit diesen Fragen sind so viele Intellektuelle ohne Bindung an christliche Gemeinden zum Glauben gekommen, dass man in China selbst vom Phänomen des „Kulturchristentums“ spricht.

Ein Mann, den es offiziell gar nicht gibt – er ist im Auftrag des Vatikans in China – bringt die Stimmung vieler chinesischer Jugendlicher auf den Punkt: „Es ist hip, westlich zu sein, es ist modern, Christ zu sein“, stellt er fest. „Gerade in den prosperierenden Küstengebieten fühlen sie, dass etwas fehlt. Sie sehen die Korruption, den Machtmissbrauch, sie vermissen ethische Leitlinien. Viele Studenten sind beeindruckt von christlichen Priestern oder Laien. Sie setzen Christentum mit westlichen Werten gleich. Sie kopieren alles, also auch die Religion.“ So bekennen sich mittlerweile auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zum Christentum, darunter Fernsehmoderatoren und Unternehmer, allein sieben Fußballerinnen aus der chinesischen Frauen-Nationalmannschaft.

Neben den genannten Gründen, und vielleicht zuallererst, hat der christliche Aufbruch in China noch eine ganz andere Wurzel. In Taiyuan, südwestlich von Peking, treffen wir den 84-jährigen Priester Petrus Han, der zwanzig Jahre in Straflagern gelitten hat. Stundenlang berichtet der stille, freundliche, humorvolle alte Herr von den Grausamkeiten unter Mao Tse-tung, von seiner Zeit in der Einzelhaft, als man ihm sagte: „Priester sein, ist ein Verbrechen“; als man seine Verwandten, Nachbarn und Pfarrkinder zwang, ihn zu bespucken, zu schlagen und mit einem Schandhut durchs Dorf zu treiben; als er in einer Zelle vegetieren musste, in der man nicht sitzen, nicht stehen und nicht liegen konnte; als man ihn prügelte, wenn er nur die Augen schloss oder den Kopf senkte. „Du betest“ wurde er dann beschimpft, „das ist hier keine Kirche“. Gebetet hat er trotzdem, überlebt hat er auch. Ein Jahr später durfte er erleben, wie ihm auf dem Kongress „Treffpunkt Weltkirche“ des Hilfswerks KIRCHE IN NOT die ganze Augsburger Kongresshalle stehend applaudiert, viele mit Tränen in den Augen. Letztes Jahr ist er zu Gott gegangen, dem er die Treue gehalten hat.

Dass die Verfolgungszeit unter Mao wesentlichen Anteil am christlichen Aufbruch hat, zeigt der Blick über die Taiwan-Straße auf jene Insel, die Tschiang Kaishek dem Zugriff Maos entziehen konnte. Obwohl die Kirche dort weitgehend frei war und über Hunderte vom Festland geflohener Priester, Ordensfrauen und Bischöfe verfügte, ist die große Mehrheit der Menschen dort den traditionellen Religionen treu geblieben. Immerhin konnten wir uns beim Besuch der 150-Jahrfeier der taiwanischen Katholiken Ende November davon überzeugen, dass sich Taiwans Katholiken große Mühe geben, als „Brückenkirche“ der Kirche auf dem Festland tatkräftig zu helfen und dass der missionarische Elan auch auf der Insel neu erwacht ist.  

 

Regierung fürchtet die Katholiken

 

Die Kommunistische Führung sieht den Zulauf zum Christentum mit gespanntem Argwohn. Es gibt gewaltige soziale Probleme, deren größte die enorme Überalterung und der Frauenmangel durch Ein-Kind-Politik und Abtreibung sind. Weit über hunderttausend Demonstrationen unzufriedener Bürger gegen Korruption, Zwangsumsiedlungen und andere Misstände gibt die Regierung selbst zu. Angesichts dessen schätzt sie neuerdings ganz offiziell den Beitrag der Kirchen für den Aufbau einer „harmonischen Gesellschaft“, wobei die „Harmonie“ selbstverständlich von der Regierung hergestellt wird. Die religiösen Gemeinschaften sollen helfen, soziale Spannungen abzubauen.

Aber die Regierung fürchtet die Christen, vor allem die Katholiken, die nicht so zersplittert sind wie die zahllosen protestantischen Gemeinschaften und die auf ein Oberhaupt hören, das nicht unter Kontrolle Pekings steht. Wenn in Hongkong Kardinal Joseph Zen, der eigentliche Führer der chinesischen Katholiken, einer Demonstration von einer halben Million Menschen vorangeht, ist das ein Alptraum für die Funktionäre. Sie fürchten, dass ihnen Ähnliches blüht wie dem Diktator Marcos auf den Philippinen, den eine Kundgebung aus dem Amt gejagt hat, die Menschen mit Kerzen in den Händen und Kardinal Jaime Sin an der Spitze. So lässt man die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften meist gewähren, schlägt aber erbarmungslos zu, wenn die Versammlungen zu groß werden, wenn ein Priester zum Volkstribun zu werden droht, wenn Pfarreien oder Hauskirchen überregional zusammenarbeiten. Alles soll unter der Kontrolle des Staates vor sich gehen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Bemühungen als erfolglos erweisen.

Die Zeit ist auch für Papst Benedikt XVI. ein wichtiger Faktor. Neben dem neu erwachten Interesse vieler Chinesen am Glauben gibt es auch eine andere starke Bewegung aus dem Westen, die in China wirksam ist: Man spürt, schreibt der Papst an Chinas Katholiken, auf der anderen Seite „den Trend zum Materialismus und Hedonismus, die dabei sind, sich von den großen Städten auf das ganze Land auszubreiten“. In der von Jahrzehnten des Elends gezeichneten Bevölkerung findet sich auch dafür ein fruchtbarer Nährboden.

So ist jetzt ein Wettlauf um die Seelen im Gang, für den Papst Benedikt die Fürsprache Mariens erbittet, die im chinesischen Nationalheiligtum von Sheshan als „Hilfe der Christen“ angerufen wird, und für die er die Gebete der ganzen Weltkirche zu Hilfe ruft, unsere Gebete. Noch in unserer Generation kann China die größte christliche Nation der Welt werden.

 

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Weitere Informationen über den Gebetstag für die Kirche in China gibt es beim katholischen

China-Zentrum, Arnold-Janssen-Str. 22, 53757 Sankt Augustin; Telefon: 0 22 41 / 23 74 32, Fax: 0 22 41 / 20 58 41; www.china-zentrum.de. Das China-Zentrum ist ein Zusammenschluss katholischer Hilfswerke, Orden und Diözesen, darunter des Hilfswerks KIRCHE IN NOT. Neben anderen Aufgaben koordiniert es die China-Hilfe der deutschen Katholiken. Direktor ist der Steyler Missionar Pater Anton Weber SVD.

Michael Ragg bietet Bildvorträge über den christlichen Aufbruch in China an. Pfarreien oder andere Veranstalter können Kontakt aufnehmen unter: Ragg’s Domspatz – Agentur für christliche Kultur, Hohenbrunner Weg 2, 82024 Taufkirchen, Telefon: 0 89 / 44 45 45 05, buero@raggs-domspatz.de

Radio Vatikan hat Michael Ragg aus Anlass der EXPO-Erföffnung über die Lage der Kirche in China interviewt. Den Beitrag hören Sie hier

 

 

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