Beobachtung 12

Widrige Wahrheiten über eine Welt des Wahnsinns

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Berlin ist immer noch die grünste Stadt der Welt, jedenfalls im Frühjahr. Dies gilt zumindest subjektiv auch dann, wenn jüngste Statistiken das Gegenteil beweisen wollen. Berlin ist aber nicht nur deshalb ein Ort zum Genießen - jedenfalls wenn man die Hornhaut an den richtigen Stellen hat. Konrad Kustos hat nun bloß das Problem, dass ihm diese Hornhaut immer dann abhanden kommt, wenn er sich mehrmals im Jahr mehrere Monate fernab der Heimat an einem ähnlich schönen Ort aufhält. Und dann entwickelt sich die Rückkehr mehr und mehr zu einem Spießrutenlauf.‚Das ist nicht mehr mein Land‘, möchte er ausrufen, wenn die bürgerliche Enddreißigerin ihr Rad genau an der Stelle vor der Post anschließt, wo der Treppenaufgang den Bürgersteig ohnehin zur schwer passierbaren Engstelle macht. Sprachlos ist er, wenn der Verkäufer der Obdachlosenzeitung auf besagtem Treppenaufgang diesen Vorgang mit dem Angebot einer kostenfreien, aber spendenobligatorischen Dienstleistung auch noch begeistert kommentiert: „Prima, hier haben Sie gleich einen bewachten Parkplatz.“ Der zivilisiert unzivilisierte Berliner alter Prägung hätte stattdessen ungefähr gesagt, „Ey, Olle, versperr mal meinen Kunden nicht den Zugang“, und womöglich bei der Dame einen Erkenntnisprozess freigesetzt. Stattdessen gibt es eine devote Anbiederung an sozialschädliches Verhalten.Asoziale Seilschaften gibt es inzwischen überall. Es ist nämlich nicht nur ein individuelles Fehlverhalten, wenn vor der Bank-Filiale in einer Hauptstraße der Stadt seit Monaten ein Obdachloser wohnt. Immerhin kann oder will der Staat ihm keine alternative Unterkunft oder gar Perspektive bieten. Seit dem 1. April sind die meisten für den Winter eingerichteten Notquartiere geschlossen, und die Betroffenen dadurch in wahrsten Sinne auf die Straße gesetzt. 10.000 Wohnungslose gibt es inzwischen in der Hauptstadt, darunter geschätzte bis zu 6000 Obdachlose. Flüchtling müsste man sein.Gleichzeitig duldet der Staat die vor der Bank und anderswo generierte Verwahrlosung des öffentlichen Raums. Vor Schwimmbädern, in Parkanlagen und in den Hauseingängen wird diese neue Wohnkultur in rasantem Tempo hoffähig, und das natürlich mit allen Begleitumständen von der Vermüllung, über die Verängstigung der Anwohner bis zum Urinieren an Hauswände.Doch weiter im neuen Kustosschen Berlin-Frust: Wenige 100 Meter vom Penner-Elend entfernt läuft ihm gemessenen Schritts eine junge Frau auf der Fahrbahn vor das Auto und zwingt ihn zur Vollbremsung. Das geschieht, ohne Blickkontakt und die Miene zu verziehen, schließlich ist er als Autofahrer ja der Feind und sie darf als unbeschränkt freies Individuum des Niedergangs eben tun, was sie will. ‚Hoppla, hier komme ich‘ als Massenphänomen. Wahrscheinlich hat die RowdyIn auch noch nie erlebt, dass sich jemand beschwert hätte. Mit ähnlicher Geisteshaltung wurde kurz darauf der friedlich-hilflose Taxifahrer konfrontiert, der eine komplette Grünphase versäumte, weil immer neue Fußgänger bei Rot über die Kreuzung liefen.Die höchstentwickelte Schöpfung dieses neuen Devolutionsprozesses ist natürlich der Radfahrer. Als öffentlich verbriefte Speerspitze gegen den Klimawandel und Symbol für den Triumph menschlicher Arbeitskraft über den technischen Fortschritt ist er automatisch gerecht und im Recht. Den Exzess dieses Prinzips erlebt Konrad Kustos an der Glienicker Brücke, wo früher Ost und West friedlich zum Austauschen von Spionen zusammentrafen. Geschätzte zwei Meter bleiben hier für den Fußgänger zwischen Fahrradspur und Geländer, zwischen Straße und dem Sturz in die Fluten der Havel. Weil aber die Fahrradspur an diesem Sonntag derart befahren ist, dass der zweirädrige Gegenverkehr dort keinen Platz hat, auch den Weg auf die andere Seite der Straße scheut und sowieso der Weg das Ziel ist, beschließt dieser kurzerhand, den schmalen Fußgängerstreifen für sich in Anspruch zu nehmen. Wie selbstverständlich erwarten die in Sekundenabstand passierenden Fahrradkolonnen, Fußgänger müssten sich irgendwie zwischen zwei gegenläufigen Fahrradströmen auf dem Bordstein balancierend schadlos halten. Weil aber Fahrradwege inzwischen überall dort sind, wo Fahrradfahrer sich aufhalten, brüllt der vorausfahrende Familienvater auf eine verzweifelte Beschwerde des Verfassers dieser Leidensschrift hin im Brustton des Gerechten die zeitgemäße Antwort: „Das hier ist ein Fahrradweg!“.

Sind all diese Beispiele noch bekannte Phänomene, die nur in Zahl und Vortrag in neue Dimensionen geraten, so gibt es auch noch eine völlig neue Spielform des Asozialen. Beim Bäcker wartet neben Konrad Kustos eine farbenfreudig gekleidete mittelalte Frau vermutlich indischer Herkunft und ein ziemlich heruntergekommener Deutscher. Als die Frau ihren Kuchen entgegennimmt, bietet der ihr tatsächlich an, ihre Rechnung zu begleichen. Im Windschatten der Political Correctness versucht er, sich in Kenntnis seines sozialen Status‘ sich als Ausländerfreund in den neuen sozialen Hierarchien Aufwertung zu verschaffen. Irritiert lehnt die Frau freundlich ab. Ein Frühjahr mit Fremdschämen. Deutschland im Herbst.

Zuerst erschienen auf http://chaosmitsystem.blogspot.de/2016/06/beobachtung-12.html#more

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Molot

"10.000 Wohnungslose gibt es inzwischen in der Hauptstadt, darunter geschätzte bis zu 6000 Obdachlose. Flüchtling müsste man sein".
"Wohnunglose", Herr Kustos, sind in diesem unseren Land wohnungslos, weil sie das so wollen. Nicht weil der Staat ihnen keine Wohnung finanzieren würde. Das würde der nämlich tun. Unbedingt, in jedem Falle. Egal ob In-oder Ausländer.

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