Auf der Strasse für das Leben

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Mit drei Söhnen verliess ich kurz vor zwei Uhr den Bahnhof Enge. Fröhlich wollten sie sich einer kleinen Gruppe anschliessen, die in die gleiche Richtung zog. Ich forderte sie auf, sich mal die Kleider, die Gesichter und die Wortwahl der jungen Leute genau anzusehen bzw. anzuhören. Erschreckt blickten sie mich an. Richtig, wir zogen in die gleiche Richtung, doch nicht zur gleichen Demo.

2540 Menschen fanden sich im Hafen Enge zum 5. „Marsch fürs Läbe“ ein. Er stand unter dem Motto „One for us“. Zahlreiche Ungeborene mit einem Down-Syndrom werden abgetrieben. Eine Schande. Eine 26-jährige junge Frau mit Down-Syndrom und eine Mutter einer 22-jährigen berichteten in einem kurzen, klaren Zeugnis über ihr reiches Leben. Ich glaube, ich war nicht der Einzige, dem die Tränen in den Augen standen. Welche Bereicherung sind solche Menschen! Welche Freude und welchen Eifer legen sie an den Tag! Es wurde beim Namen genannt, was in unserer perfektionistischen, aufs Äussere getrimmten Gesellschaft vor dem Ja zu einem behinderten Kind zurückschrecken lässt: Angst, Unsicherheit und schlicht Desinformation.

Der Marsch dauerte gut eine Stunde länger als geplant. Inmitten von Kindern, jungen Erwachsenen, Paaren, Familien und zahlreichen älteren Menschen zogen wir durch die Strassen der Innenstadt. Mehrmals mussten wir warten, damit die hervorragend organisierte Polizei uns das Feld räumen konnte. Für mich als war es schon ein einzigartiges Gefühl als ehemaliger Bankangestellter vor Gebäuden meines früheren Arbeitgebers vorbeizuziehen – im Chor von Hunderten anderer Menschen ein Loblied singend.

Klar, wir sind eine Randerscheinung. Tausende von Samstagsshoppern blieben stehen. Viele von ihnen lasen den Flyer, der verteilt wurde. Manche zückten das Handy, um den Aufmarsch zu knipsen. Zuerst Reihen von Polizisten in Kampfmontur, dahinter eine singende, ihre Plakate hoch haltende Menge. Die einen tippten sich an die Schläfen, um damit ihr Unverständnis „für diese Fundamentalisten“ zum Ausdruck zu bringen. Ich beobachtete Menschengruppen, die dem Aufzug mit dem Cüpli in der Hand angewidert zusahen. Ich blickte aber auch in manche offenen Gesichter. Besonders Ausländer klatschten uns zu, schien es mir.

Pfarrer Schaltegger zitierte im anschliessenden Gottesdienst aus dem Buch Exodus, Kapitel 1. Mich begeistert die Geschichte von den zwei hebräischen Hebammen. Zuerst nehmen sie den Auftrag vom ägyptischen Staatsoberhaupt entgegen, sämtliche männlichen Neugeborenen zu töten. Doch sie legten die Arbeit nicht nieder, nein. Sie ignorieren das Verbot. Von den Behörden zur Rede gestellt, präsentieren sie eine Notlüge. „Immer wenn wir kommen, haben diese kräftigen Hebräerinnen schon geboren! Nichts zu machen.“ Fast überliest man den kurzen Satz, der folgt: Gott versorgte sie.

„Haut ab!“ Natürlich begleiteten uns die Trillerpfeifen, die ereifernden Rufe und das Geschrei derjenigen, die uns am liebsten irgendwohin gewünscht hätten. Für ihre Stinkfinger gab es nur eine passende Antwort: Segnende Hände. Das Kindergebet des Tages: „Jesus, hilf, dass einige von ihnen nächstes Jahr auch mit uns mitziehen.“ Wie oft hat Gott Menschen schon komplett umgekrempelt. „Faschisten.“ Nun, wer tötet wen? Ich beugte mich zu meinem Fünfjährigen: „Gucke mal in dieses Gesicht. Wie sieht es aus?“ „Ganz böse.“ Wer kein Moralgesetz über sich akzeptiert, wird am Schluss sich selbst überlassen. Keine angenehme Begegnung.

Zurück bleiben bei mir zwei Eindrücke: Erstens das gemeinsam ausgesprochene Bekenntnis, in dem wir vor unseren allmächtigen Schöpfer traten. Wir haben zu lange geschwiegen und uns geschämt. Zweitens die Betroffenheit über den gesellschaftlichen Zustand. Wir zucken mit der Schulter, wenn es um die Tötung von Tausenden Ungeborener geht. Francis Schaeffer schrieb 1971 (in „Zurück zu Freiheit und Würde“):

Christen haben zwei Grenzen: 1. was die Menschen tun können und 2. was die Menschen tun sollten. Der moderne Mensch hat jene letztere Grenze nicht. Lediglich die Technologie begrenzt ihn. Der moderne Mensch tut, was er tun kann. Doch der moderne Mensch, der nur eine Grenze kennt, wird vom Entsetzen gepackt, wenn er tut, was er tun kann; denn es gibt nichts, was die Entwicklungen, die er vor sich sieht, verhindern könnte.

„Möchten Sie diese Marienbrosche. Sie ist gesegnet.“ Mit einem freundlichen Lachen bietet mir meine Sitznachbarin im Gottesdienst ihren Schatz an. Sie ist über 80 Jahre alt und läuft seit Anfang mit. Unvergesslich. Ich freue mich auf 2015.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Freigeist

… Doch der moderne Mensch, der nur eine Grenze kennt, wird vom Entsetzen gepackt, wenn er tut, was er tun kann; denn es gibt nichts, was die Entwicklungen, die er vor sich sieht, verhindern könnte...
Der moderne Mensch ist alles andere als von Entsetzen gepackt. Er versucht, gegen die Klerikalen, die Überbevölkerung zu stoppen.

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