Alternativkonzept zur Transferunion

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Ein häufig zu lesendes Argument für die Griechenlandhilfe und die sogenannten Rettungsschirme ist, dass ohne die Rettungsschirme und die Finanztransfers in die von steigenden Zinsen betroffenen Staaten die Kernschmelze des Finanzsystems bevorstehe und der totale ökonomische Kollaps. Was ist nun von diesem Argument zu halten, und ist diese Politik wirklich alternativlos?

Es gibt im Grunde zwei miteinander verknüpfte Problemfelder: Die Staaten und die Banken. Viel öfter ist von einer Staatsinsolvenz die Rede als von einer Bankeninsolvenz. Das Argument lautet interessanterweise, dass Staaten gerettet werden müssen, um das Bankensystem zu retten. Das hat etwas vom Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Beschreiben kann man das auch mit dem alten Ostfriesenwitz: Wie viele Leute brauchen die Ostfriesen, um eine Glühbirne zu wechseln? Antwort: tausend. Einer hält die Glühbirne und der Rest dreht das Haus. Der Witz lässt sich gut übertragen: Die Glühbirne ist das Bankensystem, das Haus ist die Eurozone, das Drehen des Hauses sind die Rettungsschirme, und die Ostfriesen sind die europäischen Regierungen.

 Wenn wir von der Kernschmelze des Finanzsystems sprechen, was ist damit eigentlich gemeint? Idealtypisch kann man sich das so vorstellen: Die Bank erhält weder Kredite noch Zinsen zurück. Das frisst ihr Eigenkapital auf. Wenn nun die Sparer ihr Geld abheben wollen, dann kann sie die Ersparnisse nicht mehr auszahlen. Andere Banken könnten daraufhin Geld zur Verfügung stellen,  die Bank bliebe liquide, die Kernschmelze fände nicht statt. Wenn aber diese Banken dieselben Probleme haben, können sie diese Liquidität nicht zur Verfügung stellen. Außerdem hat die Bank möglicherweise Zahlungsverbindlichkeiten bei anderen Banken, die damit auch hinfällig werden. Da das gesamte Bankensystem auf einer Teildeckung aufbaut, können Dominoeffekte niemals ausgeschlossen werden. Nun kann man in der Tat argumentieren, dass ein totaler Kollaps des Bankensystems so schlimm wäre, dass man die Banken um jeden Preis am Leben erhalten muss, wenigstens vorübergehend, bis man eine grundsätzliche Lösung gefunden hat. So weit, so gut. Gehen wir einmal davon aus, dass die Banken gerettet werden müssen. Offen bleibt aber die Frage, auf welche Weise das geschehen soll.

 Das Problem der Banken ist in diesem konkreten Fall, dass sie Staatsanleihen besitzen, die im Falle der Zahlungsunwilligkeit der Staaten nicht mehr bedient werden. Wenn die dadurch verursachten Ausfälle sehr groß sind, könnte man mit dem geschilderten Dominoeffekt rechnen. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, die Banken liquide zu halten. Erstens: Die zahlungsfähigen Staaten geben dem Schuldner das Geld, und der Schuldner gibt das Geld der Bank. Da wird ein extrem großes Rad gedreht. Zweitens:  Die zahlungsfähigen Staaten geben ihren Banken das Geld direkt. Da werden viele kleine Räder gedreht. Der praktische Unterschied besteht darin, dass im ersten Fall das Geld an den krisengeschüttelten Staat überwiesen wird und dann vom Konto des Staates an alle Gläubiger, sowohl Banken als auch Privatpersonen. Im zweiten Fall wird das Konto des Schuldners einfach ausgelassen und nur die Banken, die gefährdet sind,  erhalten direkte Zahlungen, die die Lücke im Bankensystem schließen. In beiden Fällen ist das Bankensystem „gerettet.“ Der „Rettungsschirm“ wird also im zweiten Fall nicht über den  Euro-Staaten aufgespannt, sondern über den nationalen Banken. Oder um auf den Ostfriesenwitz zurückzukommen, anders als die Ostfriesen dreht man einfach die Glühbirne raus und setzt eine andere ein und lässt das Haus dort stehen, wo es ist. Das heißt, man schießt den gefährdeten Banken so viel Geld zu wie eben notwendig, um das Bankensystem zu stabilisieren. Auch dieser Einsatz von Steuergeldern für die Bankenrettung ist natürlich nicht gut, und dauerhaft nicht hinnehmbar,  aber darauf kommen wir später zurück. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass man nicht die Staaten „retten“ muss, um die Banken zu retten. Man kann auch einfach direkt die Banken retten, die durch Kreditausfälle in die Krise geraten. Das Ergebnis wäre mit weniger Umwegen und sehr viel zielgenauerem Einsatz der Mittel dasselbe. Denken wir dieses Szenario, in dem die Banken und nicht die Staaten mit Liquidität versorgt werden, zu Ende. Wir wechseln also die Glühbirne und drehen nicht das Haus. Was machen jetzt eigentlich die betroffenen Staaten?

 Das Problem lässt sich einfach beschreiben: Die Staaten geben mehr Geld aus, als sie einnehmen. Die Problemlösung lässt sich auch einfach beschreiben: Die Staaten dürfen nicht mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen. Und nun das Ganze noch einmal für Leser mit Vorliebe für formale Argumentation: Stellen wir uns vor, der Staat hat einen Etat von der Größe X, stellen wir uns weiterhin vor, ein Teil dieses Etats wird durch jährliche Neuverschuldung von der Größe Y finanziert. Die Einnahmen des Staates betragen also X minus Y, nennen wir diese Differenz mal Z.  Wenn der Staat keine neuen Kredite mehr erhält, dann fällt Y weg. Das heißt, die Ausgaben X stehen direkt den Einnahmen Z gegenüber. Deshalb wird jetzt auf die eine oder andere Weise  X gleich Z werden. Es geht gar nicht mehr anders. Entweder können die Einnahmen Z durch Steuererhöhungen angehoben werden, oder X kann durch Einsparungen oder Aussetzen von Ausgaben auf das Level von Z gesenkt werden, oder beides. Wie man es auch dreht und wendet, ohne die Möglichkeit, neue Kredite zu erhalten, werden die Einnahmen den Ausgaben entsprechen, also X und Z das gleiche Volumen haben. Die Leute können gegen die einzelnen Maßnahmen natürlich protestieren, Volksentscheide stattfinden lassen, Regierungen durch andere Regierungen ersetzen, aber ohne die Möglichkeit der Kreditaufnahme ist das Ergebnis immer dasselbe. Keine Kreditgeber –  keine Neuverschuldung. Der Schnitt ist hart, aber endgültig. Ein Ende mit Schrecken, kein Schrecken ohne Ende.

 Das Ganze hat noch einen weiteren heilsamen Nebeneffekt, den notwendigen Ausgleich der defizitären Leistungsbilanz der Schuldenstaaten. Viele Krisenstaaten importieren viel und exportieren wenig. Der Importüberschuss ist die Kehrseite der Verschuldungsmedaille. Dazu muss man sich einfach folgendes vergegenwärtigen: Wenn Länder mehr importieren als exportieren, dann ist das ohne Verschuldung überhaupt nicht möglich, wenn die Länder nicht aus Ersparnissen schöpfen können. Es kann nur das Geld aus einem Land hinaus fließen, das vorher hinein geflossen ist. Ein einfaches Gedankenexperiment: Versuchen Sie mal Geld auszugeben, das Sie nicht haben, ohne Schulden aufzunehmen. Diese Denksportaufgabe ist so ähnlich wie die Aufforderung, sich ein rundes Quadrat vorzustellen. Durch die Kreditaufnahme floss Kapital in diese Länder hinein und durch den Ankauf ausländischer Waren wieder hinaus. Das heißt, die Verschuldung explodierte, die Importe wurden konsumiert, durch den Kapitalzustrom wurden Löhne und Leistungen in die Höhe getrieben, die betroffenen Staaten waren nun weniger wettbewerbsfähig. Das bedeutet, dass in dem Moment, in dem keine Kredite mehr hineinfließen, auch die Produkte nicht mehr im Ausland eingekauft werden können, die Kaufkraft und damit die Reallöhne sinken, die Wettbewerbsfähigkeit mittel- und langfristig wieder ansteigt und die Exporte zunehmen. Das ist im Übrigen derselbe Ausgleichsmechanismus wie unter dem guten alten Goldstandard – einer Gemeinschaftswährung, die funktioniert hat. Dahinter steht ein logischer Zusammenhang, die hohe öffentliche und private Verschuldung ist das Spiegelbild der Importüberschüsse. Oder ganz einfach gesagt: Keine Kreditaufnahme –  kein strukturelles Leistungsbilanzdefizit.

 Damit wird im Übrigen deutlich, dass die Argumentation, Deutschland profitiere wegen seiner Exportüberschüsse, Widersprüche aufweist. Es ist ein Konsens auch bei den Befürwortern der Rettungsschirme, dass die Neuverschuldung der Krisenstaaten sinken soll, zugleich besteht Konsens, dass Deutschlands Exportüberschuss aufrechterhalten werden soll. Wie wir aber gesehen haben, sind diese Überschüsse der Exportländer ohne die Verschuldung der Importländer überhaupt nicht möglich. Da die Kreditfinanzierung der Importe das Spiegelbild zu Deutschlands Exportüberschuss in diese Länder ist, ist nicht ersichtlich, wie die Verschuldung dieser Länder reduziert werden kann, ohne dass ihr Importüberschuss zurückgeht. Das Ziel, die Schuldenaufnahme dieser Länder zu reduzieren, verträgt sich nicht mit der Absicht, gleichzeitig Deutschlands Exportüberschuss in diese Länder  auf dem heutigen Niveau zu halten.

Mit größerer Wettbewerbsfähigkeit dort reduziert sich der Exportüberschuss hier, und zwar durchaus zum Vorteil der deutschen Konsumenten, da diese über ein zusätzliches Angebot preiswerter Produkte und Dienstleistungen verfügen können. Ein Exportüberschuss ist an sich kein Vorteil: Ein Vorteil ist, wenn das Handelsvolumen möglichst groß ist, das heißt beide Länder sich gegenseitig viele Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Ein Abschneiden der Kreditzufuhr für die Verschuldung dieser Staaten kann dafür längerfristig die Grundlage schaffen.

 An dieser Stelle können wir die Betrachtung über die Staatsschuldenproblematik beenden und feststellen, dass durch die Staatsinsolvenz das Problem in kürzerer Zeit gelöst werden kann, weil der nationalen Politik das Instrument weiterer Verschuldung genommen wurde. Die Erfahrung der Politik- und Finanzgeschichte zeigt, dass solche Konsolidierungsanstrengungen im politischen Wettbewerb kaum durchzusetzen sind. Politische Wettbewerbssysteme sind in der Regel nicht in der Lage, sich durch selbstauferlegte Zwänge zu disziplinieren, das beweist auch die Geschichte des Maastrichter Vertrages. Allein der Zwang von außen durch den Vertrauensentzug der Märkte kann die notwendige Sanierung in kurzer Zeit auf den Weg bringen. Die Logik, durch Verschuldung Leistungen zu finanzieren, um Wählerstimmen einzuwerben, ist dann nicht mehr vorhanden. Der Haushalt wird zwangsweise ausgeglichen. Durch das Versiegen des Kapitalzuflusses in Form billiger Kredite werden auch die Arbeitsmärkte einer externen Disziplin unterworfen, die Produktion verbilligt sich mit dem Rückgang der Lohnkosten im Vergleich zum Ausland, der Export springt an, es entstehen wieder neue Arbeitsplätze. Ob diese Anpassung über eine Phase der Deflation und die Senkung der Löhne und Gehälter erfolgt oder durch den Austritt aus der Eurozone und die Abwertung der neuen nationalen Währung kann nur im Einzelfall entschieden werden. Die Alternative dazu ist, die Krisenstaaten über die Euro-Rettungsschirme oder Eurobonds  weiter mit frischen Krediten zu versorgen und die Risiken auf die Steuerzahler der anderen Eurostaaten zu verlagern. In diesem System bleibt die Logik des politischen Wettbewerbs, Mittel zu verteilen oder weniger zu kürzen, in Kraft, die Verschuldung wächst weiter, die Wettbewerbsfähigkeit wird weiterhin nicht hergestellt, wodurch die Handelsungleichgewichte intakt bleiben und die Ökonomie der Krisenstaaten sich nicht nachhaltig erholen kann.

 Nachdem wir jetzt festgestellt haben, dass eine Konsolidierung und ein Schuldenabkommen auf der Ebene der betreffenden Staaten eine schnelle Anpassung erzwingen, die nach einem schmerzhaften Übergang einen Neuanfang ermöglicht, kommen wir jetzt auf die Bankenproblematik zurück. Die Schuldenstaaten haben sich also in unserem Szenario durch einen Schuldenschnitt gerettet, auf Kosten der Besitzer von Staatsanleihen. Da durch die Regulierungsvorschriften von Basel II Staatsanleihen als risikolose Anlage galten, haben viele Banken in diese Anleihen Kapital investiert. Wenn die Anleihen ausfallen, löst sich die Kapitalanlage in Luft auf. Nun würde also das eintreten, was als Schreckbild an die Wand gemalt wird, wir haben dann eine zweite Bankenkrise. Wie oben beschrieben, und wie bei der ersten Bankenkrise 2007, müsste man wohl viel Geld in die Hand nehmen, um sie zu kitten.  Denken wir aber an unsere Anfangsbemerkung, dass das Geld durch die Hilfspakete lediglich umgeleitet wird. Wenn die Hilfspakete nicht geschnürt werden, sind die Mittel vorhanden, um sie direkt zur Stabilisierung des Finanzsystems einzusetzen. Oberflächlich ist das einfach nur ein Unterschied in der Reihenfolge der Buchungen, durch die das Geld zum Bankensystem gelangt. Da wir die Staaten auf europäischer Ebene nicht „gerettet“ haben, „retten“ wir nun die Banken auf nationaler Ebene. Diesen Vorgang wollen wir genauer und grundsätzlicher betrachten.

 Banken verleihen Geld, von den verliehenen Krediten fällt immer eine gewisse Größenordnung aus. Eine gewisse Größenordnung von Kreditausfällen kann eine Bank verkraften, was darüber hinausgeht, kann die Existenz einer Bank gefährden. Um die Bank am Laufen zu halten, muss ihr also genau die Summe zugeschossen werden, ohne die sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann. Woher diese Summe kommt, ist für den Bankbetrieb im Grunde egal. Es geht dabei immer um Summen und Kapitalströme. Ob der Kreditausfall durch einen Staat oder ein Unternehmen verursacht wird, ist deshalb letztlich nicht ausschlaggebend. Man muss also nicht den Staat oder das Unternehmen retten, dem die Bank Kredite gegeben hat, sondern lediglich die ausgefallene Summe ersetzen. Wenn man diese Summe ersetzt, sei es durch Steuermittel oder Kredite der Zentralbank, kann man den insolventen Kreditnehmern der Bank, seien es Staaten oder Unternehmen, die die Kredite ursprünglich aufgenommen haben, die Verantwortung für sich selbst überlassen. Zur Krisenbewältigung stopft man das Leck dort, wo es auftritt, indem genau die Summe vorgeschossen wird, die ausfällt. Auf diese Weise kann man Krisenherde in Europa isolieren, so wie man einen Seuchenherd durch Quarantäne isolieren kann.

 Um die Risse in der Kapitaldeckung des Bankensektors zu kitten, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Erstens: man kann das Geld direkt aus dem Haushalt bezahlen, dann bezahlt der Steuerzahler die Rettung der Banken. Zweitens: die Zentralbank kann Geld drucken, dann zahlen die Sparer die Rettung der Banken durch steigende Inflation. Beides ist ebenso unerträglich wie die Dauerfinanzierung des finanzpolitischen Unvermögens in anderen EU-Staaten. Der Unterschied besteht aber darin: Bei der direkten Lösung des Bankenproblems wird überhaupt erst einmal transparent gemacht, welche Dimension das Problem hat. Es wird sichtbar, welche Institution in welchem Umfang betroffen ist. Man kann die Mittel auf die neuralgischen Punkte konzentrieren, statt sie durch Bürgschaften für die gesamte Eurozone mit der Gießkanne zu verteilen und alle Anleihebesitzer zu erfreuen. Man kann also sicherstellen, dass man nur soviel Aufwand wie nötig betreibt, nämlich so viel Geld nachschießt, wie zur Aufrechterhaltung der Kapitalströme unbedingt notwendig ist.  Dabei kann man darauf achten, dass man dabei nicht auch noch die Rendite für die Bankaktionäre und Anleihenbesitzer mitfinanziert. Man verhindert außerdem, dass sich das Problem durch Fortsetzung der Ausweitung der Staatsverschuldung der Krisenstaaten nicht noch weiter vergrößert. Das ist zwar besser als die Transferunion, allerdings angesichts der Kosten für die öffentlichen Haushalte immer noch unbefriedigend.  Der nächste Schritt muss sein, das Problem auch im Finanzsektor grundsätzlicher anzupacken. Doch betrachten wir zuvor die Ausgangssituation in dieser Phase unseres Szenarios.

 Wir fassen zusammen: Die Staatsschuldenkrise wurde in dieser Phase unseres Alternativszenarios dadurch gelöst, dass die Krisenstaaten einen Schuldenschnitt durchgeführt haben, erst einmal keine billigen Kredite mehr erhalten und dadurch ein Haushaltsausgleich erzwungen worden ist. Das Ziel jahrzehntelanger Konsolidierungsbemühungen ist durch den Anpassungsdruck der Kapitalmärkte erreicht worden. Proteste und Gejammer nützen nichts, nicht einmal populistische Parteien können daran rütteln, Einnahmen und Ausgaben müssen einander entsprechen, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, billige Kredite aufzunehmen. Der ausgeglichene Haushalt wurde durch diesen Umstand erzwungen – ohne Schuldenbremse, ohne politische Auflagen. Das Bankensystem ist nicht zusammengebrochen, weil die Steuerzahler und die Zentralbank in den übrigen Euroländern die Banken direkt „gerettet“ haben, indem sie sie mit soviel Liquidität versorgen, wie nötig ist, um das Bankensystem zu stabilisieren. Dieses Vorgehen ist nicht teurer und dabei weniger aufwendig als die Transferunion, weil die Liquidität lediglich eine andere Strecke zurückgelegt und nicht den Umweg über die Pleitestaaten genommen hat.  Der Unterschied ist aber, dass man sich ausschließlich auf die Stabilisierung konzentriert und dass man nun den Hebel in der Hand hat, das Problem im Bankensektor grundsätzlich zu lösen.

 Wir sind also durch diese dezentrale Konsolidierung mit einem blauen Auge und vielen Schürfungen und Prellungen davongekommen. Aus diesen Erfahrungen kann man eine Forderung ableiten, und die lautet: Nie wieder! Nie wieder sollen die Sparer und Steuerzahler für das Bankensystem in Haftung genommen werden. Jetzt ist die Phase gekommen, das Banken- und Finanzsystem  neu zu ordnen. Die Vollmacht für die Neuordnung und den Eingriff in den privaten und öffentlichen Bankensektor ergibt sich daraus, dass in diesem Prozess deutlich geworden ist, dass es sich bei dem Bankensektor nicht wirklich um einen privaten Sektor handelt, und dass der Finanzmarkt im heutigen Zustand kein Markt im ordnungspolitischen Sinne ist. Jede funktionierende Marktwirtschaft beruht auf zwei Grundprinzipien: Erstens: Gewinne sind privat, zweitens: Verluste sind es auch. Wenn eines der beiden Prinzipien außer Kraft gesetzt ist, dann handelt es sich nicht um eine Marktwirtschaft. Im Finanzsektor gibt es diesen Kriterien entsprechend keine Marktwirtschaft, weil die vorhandenen Geschäftsmodelle explizit oder implizit davon ausgehen, dass im Zweifel der Steuerzahler oder die Notenbank die Verluste übernimmt. Ohne die Möglichkeit der privaten Insolvenz ist ein Wirtschaftssektor aber nichts anderes als ein Selbstbedienungsladen für Besserverdienende.

 Das Ziel einer Banken- und Finanzreform besteht in der Schaffung einer echten Marktwirtschaft im Finanz- und Bankensektor. Diese ist dann erreicht, wenn man an jede x-beliebige Bank ein Insolvenzschild hängen kann, ohne dass der Steuerzahler belastet wird oder die Welt untergeht. Das ist ein großes Ziel, dass in verschiedenen Einzelschritten und auf verschiedenen Wegen erreichbar ist. Von den vielen Konzepten, die dafür vorliegen – 100-Prozent-Deckung, Vollgeldsystem, Rückkehr zu einem Edelmetallstandard, Währungswettbewerb – soll hier nur ein Verfahren vorgestellt werden, dass unmittelbar im Verlauf der Bankenkrise ergriffen werden kann und einen großen Schritt in Richtung Schaffung einer marktwirtschaftlichen Ordnung darstellt. Die öffentlichen Kosten sind in dieser Phase zwar immer noch hoch, aber die Logik der Rettung privater Anleger wird durchbrochen.  Die Rede ist von der Anwendung eines Konkursverfahrens für Banken. Die Möglichkeit eines Konkurses ist der Lackmustest für das Vorhandsein einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Unternehmen, die falsch investiert haben, gehen pleite, das ist der Gang der Dinge in einer funktionierenden Marktwirtschaft. Ist aber eine Bankeninsolvenz überhaupt zu vereinbaren mit dem Ziel, das Bankensystem insgesamt zu stabilisieren? 

 Das ist möglich, und um diese Möglichkeit zu beschreiben, müssen wir  die Mystik, die das Bankensystem umweht, hinter uns lassen und uns vergegenwärtigen, was eine Bank eigentlich ist: Banken bestehen –  einfach gesagt – aus Gebäuden mit Menschen drin. Die Menschen haben eine bestimmte Ausbildung, die sie dafür nutzen, Konten zu führen, Kredite zu vergeben, Finanzberatung zu betreiben und Überweisungen zu tätigen. Die Gewinne der Bank werden an die Eigentümer abgeführt, die Aktionäre. Für die Stabilität des Bankensystems insgesamt ist nicht die Bank im Ganzen wichtig und nicht das Wohl und Wehe der Aktionäre. Jeder Anleger muss sein Anlagerisiko selbst tragen, und wer sein Geld in ein Unternehmen investiert hat, das pleitegeht, verliert nun einmal seine Anlage ganz oder teilweise. Für die Systemstabilität ist nicht wichtig,  dass Herr Müller weiter seine Dividende bekommt, es ist wichtig, dass die Sparguthaben gesichert und der Zahlungsverkehr aufrecht erhalten wird. Also setzt die „Rettung“ eben an diesen neuralgischen Punkten an. Wenn Sparguthaben abgerufen werden, werden sie ausgezahlt, wenn Überweisungen angewiesen werden, dann wird überwiesen, wenn Zahlungen für die Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs dringend notwendig sind, dann werden sie durchgeführt. Vergleichen kann man das mit einem kaputten Roboter, dessen Systeme ausgefallen sind, aber bei dem man die Arme noch per Fernsteuerung betätigen kann, damit er noch eine letzte wichtige Aufgabe erfüllt, bevor er den Geist aufgibt. Was passiert aber nun mit dem Rest der Bank, die die Insolvenz getroffen hat?

 Wenn eine Bank insolvent ist, dann heißt das nicht, dass das Gebäude aufhört zu stehen und die Filialen dichtmachen. Ebenso wenig wie bei der Insolvenz einer Warenhauskette zwangsläufig das Warenhaus schließt und die Versorgung mit Lebensmitteln knapp wird. Es ändern sich lediglich die Eigentumsverhältnisse. Von außen könnte man gar nicht erkennen, dass es sich um ein bankrottes Unternehmen handelt. Der Unterschied besteht darin, dass jetzt der Insolvenzverwalter dort das Sagen hat. Da es sich um ein bankrottes Unternehmen handelt, das nur noch mit anderer Leute Geld aufrechterhalten wird, gibt es keine Ausschüttungen mehr an die Aktionäre der Bank, die Manager haben keinen Anspruch mehr auf Boni, denn sie sind Gläubiger eines bankrotten Unternehmens. Da die Insolvenz rechtsgültig festgestellt wird, müssen die Aktionäre auch nicht rechtswidrig enteignet oder auf Kosten des Steuerzahlers entschädigt werden. Ein Unternehmen, das nur mit Steuerzahlergeld überleben kann, ist der Definition nach pleite. Der Insolvenzverwalter übernimmt in der Zwischenzeit die Aufsicht und führt die Bank in die Privatisierung zurück.

 Die Erklärung der Insolvenz ist deshalb ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Banken- und Finanzreform, weil mit ihm einer der wesentlichen Defekte beseitigt wird, das Moral-Hazard-Problem. Ein Unternehmern, das nur Gewinne machen kann, dessen Verluste aber durch den Steuerzahler garantiert werden, wird jede Chance auf Gewinnmaximierung nutzen und die Risiken nicht beachten. Privatwirtschaft ohne Konkurs ist das Pendant zur Staatswirtschaft ohne Gewinn. Beides führt zwangsläufig zu schweren Systemkrisen. Seit den achtziger Jahren ist der Finanz- und Bankensektor immer wieder durch den Steuerzahler gerettet worden, angefangen bei der Schuldenkrise in den Entwicklungsländern bis zur Immobilienkrise 2007. Die Erfahrung, dass Banken vom Staat mit Netz und doppeltem Boden ausgestattet wurden, hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder bestätigt und ist in die Kalkulation aller Akteure eingeflossen. Durch das vorgeschlagene Verfahren wird der Teufelskreis von Risiko, Pleite, Rettung, noch höherem Risiko, schlimmerer Pleite, noch aufwendigerer Rettung, verlassen und der Weg zurück zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen geebnet. Allein die Erfahrung der Aktionäre und Anleihebesitzer, dass sie nicht mehr gerettet werden, wird für die Zukunft disziplinierende Wirkung ausüben. Die Rückkehr des Risikobewusstseins ist gleichbedeutend mit der Rückkehr zur ökonomischen Vernunft. Banken und Anleger müssen wissen, dass sie allein für ihre Anlage haften. Das zwingt sie, mit geöffneten Augen durch die Welt zu gehen. Furcht kann auch ein guter Ratgeber sein. Die Angst vor der Staatsinsolvenz lässt Zinsen steigen, steigende Zinsen zwingen Staaten zur Sanierung. Ein marktwirtschaftlich verfasster Kapitalmarkt mit selbst haftenden Anlegern ist die beste Schuldenbremse.

 Die Grundprinzipien der hier dargelegten alternativen Krisenbewältigung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Gerettet wird das Bankensystem, nicht die Eurostaaten. Im Bankensystem werden die Sparer und der Zahlungsverkehr geschützt, nicht die Banken als unabhängige Unternehmen und ihre Eigentümer. Der erste Schritt auf dem Weg zur notwendigen Finanz- und Bankenreform ist dabei die Etablierung eines geordneten Konkursverfahrens für Banken im existierenden System. Der nächste Schritt dieser Reform ist die Schaffung einer Deckung für Spareinlagen und Kapital, die nicht auf Kreditschöpfung aufgebaut und deshalb durch Kreditkrisen auch nicht gefährdet ist. Durch eine solche Bankenreform würden solche Krisen in der Zukunft der Vergangenheit angehören. Das Deckungsverfahren genauer zu untersuchen, geht aber über die Zielsetzung dieses Aufsatzes hinaus und wird deshalb an dieser Stelle nicht näher ausgeführt. Der bisherige Gang der Argumentation genügt, um zu belegen, dass für die Verhinderung  einer „Kernschmelze“ im Bankensektor und die Überwindung der Schuldenkrise in der Eurozone die Politik der Rettungsschirme nicht alternativlos ist. Die Alternative, die zielgerichteter und nachhaltiger wirkt, ist ein Konzept dezentraler Konsolidierung, das hier grob umrissen wurde.

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