Adonisröschen und Schukow-Bunker: eine Oderbruchwanderung

Heutzutage gibt es kaum eine stillere, friedlichere und doch von der Geschichte gezeichnetere Landschaft in Deutschland als das Oderbruch. Geschaffen wurde es in seiner heutigen Gestalt durch die Begradigung der Oder auf Befehl von Friedrich II und die darauf folgende Trockenlegung. Das entstandene Kulturland wurde systematisch besiedelt in neu angelegten Straßendörfern.

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Heutzutage gibt es kaum eine stillere, friedlichere und doch von der Geschichte gezeichnetere Landschaft in Deutschland als das Oderbruch.
Geschaffen wurde es in seiner heutigen Gestalt durch die Begradigung der Oder auf Befehl von Friedrich II und die darauf folgende Trockenlegung. Das entstandene Kulturland wurde systematisch besiedelt in neu angelegten Straßendörfern. Die Neusiedler wurden durch Vergünstigungen gelockt, einen der besten, aber schwieristen Ackerböden zu bearbeiten. Wer das wagte, gewann bald beachtlichen Wohlstand.
Das Dörfchen Reitwein gilt als die anerkannte „Perle des Oderbruchs“. Keine acht Kilometer von der ehemaligen Festungsstadt Küstrin entfernt, ist seine Lage durch die „Reitweiner Nase“ geprägt, ein Bergsporn, der die tischebene Landschaft überragt.
So klein das Dörfchen ist, in der Geschichte hat es zweimal eine entscheidenden Rolle gespielt.
Zu Beginn des Jahres 1762 hatte die Russische Armee die Stadt Kolberg genommen und der preußischen Militärmaschine Friedrichs des Großen tödlichen Schaden zugefügt. Die Vortrupps der Russen hatten Reitwein erreicht. Die Straße nach Berlin stand offen.
Nur noch ein Wunder konnte Preußen retten. Und dieses Wunder geschah. In Rußland starb Zarin Elisabeth. Ihr Thronfolger Peter III, ein bekennender Preußenliebhaber, bot dem überraschten Friedrich Friedensverhandlungen an und wollte nicht mal Ostpreußen haben, das Friedrich ihm zu überlassen bereit war.
Fast zweihundert Jahre später hoffte der Gröfaz auf ein ähnliches Wunder nach dem Tod Roosevelts. Vergebens.  Diesmal wurde Reitwein Ausgangspunkt der größten Schlacht des II. Weltkrieges auf deutschem Boden. Auf dem Reitweiner Sporn ließ Generalfeldmarschall Schukow den Bunker errichten, von dem aus er die Schlacht auf den Seelower Höhen befehligte.
Wenn man heute in dieser Gegend wandert, besonders im Frühling, könnte man sich im Paradies wähnen, ob der üppigen Blütenpracht der lieblichen Hänge. Einen regelrechte Touristenattraktion sind die Adonisröschen, die hier noch in Massenbeständen vorkommen und wie tausende kleine Sonnen leuchten, dass es dem Auge fast weh tut.
Erst auf den zweiten Blick realisiert man, was es mit den zahllosen Vertiefungen auf sich hat, die wie Pocken den Höhenzug befallen haben: es sind die Schützenlöcher und Laufgräben. Unter der Frühlingsblütenpracht liegt eines der blutigsten Kapitel der Geschichte. Noch heute werden jährlich bis zu hundert Skelette geborgen und bestattet, entweder auf einem der zahlreichen sowjetischen oder deutschen Soldatenfriedhöfe der Gegend.
Auf dem Weg zum Befehlsbunker der Roten Armee kommt man an der Stühler- Kirche vorbei, eine romantische Ruine, wie aus einem Bild von Caspar-David-Friedrich. Ihr Turm war, als die Sowjets an der Oder standen, wie alle anderen Kirchtürme gesprengt worden, um ihrer Artillerie keine Anhaltspunkte zu bieten.
Das Schloss des Dorfes, der Familiensitz der Finck von Finckensteins, wurde dagegen erst 1962 dem Erdboden gleich gemacht, obwohl es noch bewohnt war. Heute zeinet eine Buchenhecke die Umrisse nach.
Der letzte Nachfahre des Geschlechts hat sich wieder im Dorf niedergelassen. Er hat die Villa seiner Eltern, die, so lange die alte Gräfin noch lebte, nicht im Schloß wohnen konnten, wieder aufgebaut. Er erzählt, dass im Winter 1945 Reitwein drei mal von den Sowjets erobert und wieder zurück gewonnen wurde, ehe es endgültig in den Händen der Roten Armee blieb. Am 30. Januar 1945 waren die Rotarmisten bis zur Umzäunung des Schlossparks vorgerückt, dann aber stehen geblieben. Am nächsten Tag verließen die Schlossbesitzer und ihr Gesinde per Treck den Ort Richtung Westen.
Sie nahmen fast nichts mit. Sie glaubten immer noch an den Endsieg.
Anfang April begann Schukows 1. Weißrussische Front mit den Vorbereitungen auf die Entscheidungsschlacht. Der Oberbefehlshaber weilte noch in Moskau, um Stalins Instruktionen entgegen zu nehmen. Am ersten Mai, so wollte es der Generalissimus, sollte die Rote Fahne auf dem Reichstag wehen. Den gleichen Befehl erteilte er Marschall Konew von der 1. Ukrainischen Front und löste damit einen rivalisierenden Wettlauf zwischen den Befehlshabern aus, der mit aller Rücksichtslosigkeit durchgeführt wurde und viele Soldaten das Leben kostete.
Schukowas Bunker liegt etwas unterhalb des Aussichtspunktes mit dem besten Blick auf die Seelower Höhen. Am 16. April um 5.00 Moskauer Zeit sollte es losgehen. Vorher servierte im Bunker ein Mädchen mit dem deutschen Namen Margot den Generalitäten Tee, dann stiegen sie die heute noch vorhandene Holztreppe hinauf.
Unten standen sich eine Millionen sowjetische Soldaten und 100 000 deutsche Ersatz-Truppen gegenüber: eilig aus den Armeebüros herbei Georderte, Volkssturm, leicht Verwundete. Das letzte Aufgebot.
Als Shukow eine Viertelstunde später per Telefon den Beginn der Offensive befehligte, begann das wohl größte Trommelfeuer der Geschichte. Es wirbelte ungeheuere Mengen Staub auf, was den Vormarsch behinderte, traf aber leere Stellungen, die von den Deutschen in Erwartung des Angriffs geräumt worden waren.
Zusätzlich erschwert wurde der Angriff , weil das Gelände von tausenden an Flugzeuge montierte Scheinwerfern ausgeleuchtet wurde, was die Rotarmisten zu Schießscheiben machte.
Am Ende des Tages endete der Angriff im Desaster. Schukow musste Stalin melden, dass er das Ziel nicht erreicht hatte.
Da die Verluste noch höher, als bei der Sowjetarmee ohnehin üblich, gewesen waren, ließ Schukow Nachschub von jenseits der Oder kommen, obwohl die dortigen Truppen noch nicht gefechtsbereit waren. Am nächsten Tag behinderten sich die Truppenteile auf den engen Oderstraßen gegenseitig. Erst am dritten Tag gelang der Durchbruch. Die Verluste auf Seiten der Roten Armee mit ihrer überlegenen Waffenstärke waren dreimal so hoch, wie bei den Deutschen. Erst am 2. Mai wehte die Rote Fahne auf dem Berliner Reichstag.

Sechzig Jahre danach ist das alles längst nicht vergessen, aber es herrscht sichtbar ein neuer Geist: In der geschickt konservierten Kirchenruine von Mallnow findet man auf zwei Tafeln die Geschichten zweier in der Schlacht Gefallener, eines deutschen und eines sowjetischen Soldaten. Ihre Kinder erzählen, wie sehr sie ihre Väter immer vermisst haben. Das ist eindrücklicher als jede Heldenrhetorik. Die heute gefundenen Toten werden in gemeinsamen Zeremonien zur letzen Ruhe gebettet. Manchmal kommen auch Angehörige aus den ehemaligen Sowjetsaaten, um ihren lange verschollen gewesenen Lieben die letzte Ehre zu erweisen. Nicht selten entstehen Freundschaften aus solchen Begegnungen.
Damals waren auch polnische Soldaten in Seelow dabei. Heute kommen die Polen zum „Deutsch-polnischen Heiratsmarkt“ nach Reitwein. (Der nächste ist am 24. Mai !) Wenn hier etwas knallt, dann sind es Sektkorken.
Auf der anderen Seite der Oder hat im ehemaligen Küstrin ein spannendes Vorhaben begonnen. Die nach dem Zeiten Weltkrieg bis auf die Grundmauern niedergerissene Stadt, die Steine wurden nach Warschau für den Wiederaufbau geschickt, ist weitgehend wieder frei gelegt worden. Die alten Straßen, deren Originalbelag samt Straßenbahnschienen noch da ist, wurden mit neuen Straßenschildern versehen. Tafeln informieren über die Lage von Festungen, Schloß, Kirche, Stadttoren. Der Wall, auf dem der Freund des Kronprinzen Friedrich, Katte, enthauptet wurde, ist bereits restauriert. Am Schloß finden Ausgrabungen statt. Es heißt, die Polen hätten vor, die Altstadt wieder aufzubauen, wie die Dresdener die Frauenkirche.
Das wäre ein gutes Zeichen, wenn auf einem der schlimmsten Schlachtfelder der Geschichte Krieg und Gewalt nicht das letzte Wort haben.

 

Der Beitrag erschien ebenso auf achgut.com

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Klimax

@ Freigeist, mehr Logik! Was in Mode ist, muß deswegen noch lange nicht erlaubt sein. Und Gottesfürchtige können sehr wohl gottverlassen sein. Kein Widerspruch.

Dennoch, da gebe ich Ihnen recht, benötigt man zur Begründung der Ethik den Gottesglauben nicht zwingend.

Gravatar: Freigeist

"Ohne Gott wäre alles erlaubt". Massenvernichtung ist anscheinend gerade bei Gottesfürchtigen seit 2.000 Jahren ziemlich in Mode. Führt gar Gotteswahn häufig zum Krieg?

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