Morgen wird Hamburg dicht sein. Stillstand auf vielen Straßen. Durch die Freie und Hansestadt wird eine große Leiche getragen. So hieß es dereinst (keineswegs despektierlich, wie man in Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ von 1888 nachlesen kann), wenn ein Gemeinwesen einem Würdigen die letzte Huldigung erweist. Ganz egal, ob große Teile des gemeinen Wesens dem Gewürdigten die Trägerschaft verweigert hatten, als dieser sie dringend benötigte.
Die Verklärung des Helmut Schmidt zur höchsten Instanz aller Welt- und Seinsfragen war aufhaltsam. Nachdem ihn der andere Helmut mit Hilfe der elenden Pünktchenpartei 1982 aus dem Kanzleramt geschossen hatte, schien er politisch erledigt.
Vor allem seine Außen- und Sicherheitspolitik (Schmidt war einer der frühen Väter des Nato-Doppelbeschlusses) hatte er gegen schärfsten Widerstand aus der eigenen Partei durchgezogen. Ein Jahr nach dem Ende seiner Kanzlerschaft stimmten auf dem SPD-Parteitag von 400 Delegierten ganze 14 für die so genannte Nachrüstung, die später maßgeblich zum Kollaps der Sowjetunion führte.
Im Gegensatz zu „Willy“ besaß Schmidt immer ein offenes Ohr für die Nachrichtendienste. Natürlich wusste er, was es mit der „Friedensbewegung“ auf sich hatte. Dass diese schon seit den ersten Ostermärschen teilweise von der DDR finanziert und zu großen Teilen von westdeutschen Kommunisten und ihren Vorfeldorganisationen orchestriert war. Dass er dem Druck der für Moskau nützlichen Idiotenmassen, die sich im Bonner Hofgarten und anderswo sammelten, nicht nachgab, verziehen ihm die Appeaser in seiner Partei nie.
Viele Genossen hatten auch nicht vergessen, mit welcher Härte der ehemalige Wehrmachtsoffizier die RAF zerschlagen ließ. „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ hatte Heinrich Böll 1972 in einem bemerkenswert verblendeten „Spiegel“-Aufsatz gefragt („Haben alle, die einmal verfolgt waren, von denen einige im Parlament sitzen (...), haben sie alle vergessen, was es bedeutet, verfolgt und gehetzt zu sein?“).
Unter der Regentschaft des Schmidt-Vorgängers Brandt galt so etwas als diskutabel. Mit Schmidt war auch in dieser Frage kein Deal zu machen. Das Geschwätz von Linksintellektuellen und Salon-Guerilleros verachtete er. Verbrecher waren für ihn Verbrecher. Nicht „verzweifelte Theoretiker“, wie für Böll.
Viele, die wegen Brandt in die Es-Pe-De eingetreten waren, kreideten Schmidt außerdem an, dass er in konservativen Kreisen hohe Akzeptanz genoss. Für deren Lob („guter Mann, leider in der falschen Partei“) konnte er nichts. Es stimmte so auch nie. Die CDU, in der er nach dieser Spruchweisheit besser aufgehoben gewesen wäre, war damals noch eine regelrecht konservative, in Teilen eine erzkonservative Partei, dazu mit einer reaktionären Strauß-CSU an der Backe. Schmidt hingegen war in seinem politischen Zenit ein zwar etwas aus dem herrschenden Parteizeitgeist gerutschter Sozialdemokrat, dennoch ein Sozialdemokrat.
Für Atomkraft und gegen einen übermächtigen Einfluss der Gewerkschaften zu sein, Träume von einer multikulturellen Gesellschaft nicht zu träumen, Law & Order für eine prinzipiell richtige Gangart zu halten und im Zweifel auf das transatlantische Bündnis zu setzen - das alles waren früher keine Positionen, für die sich ein deutscher Sozi zu schämen brauchte. Noch heute soll es, hört man, hier und da Genossen geben, die so denken.
Das Comeback auf einer anderen Bühne hatte er sich hart erarbeitet. Er wurde 1983 Mitherausgeber der „Zeit“, schrieb Leitartikel und Bücher, hielt Vorträge, schuf Netzwerke. Zum Elder Statesman und Erklärer dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, zum Orakel von Hamburg-Langenhorn, an dessen rauchumkränzten Lippen das halbe Land hing, wurde er aber so richtig erst in den letzten fünfzehn Jahren.
Ein kluger Mensch, dessen Namen ich leider vergessen habe, schrieb vor Jahren sinngemäß, die wundersame Ergebenheit der Deutschen in die Weisheiten ihres Ex-Vorstehers müsse man als Misstrauensvotum begreifen. Schmidt habe es vor allem der Jämmerlichkeit der gegenwärtigen politischen Kaste und ihres erratischen Gemurkses zu verdanken, dass er zur einsamen Lichtgestalt aufsteigen konnte. Wie wahr. Wohl jeder wird beim Begräbnis am Montag den Staatsmann, unter dem Figuren wie das Küsten-Barbie Schwesig oder der Wahlkrepierer Maas niemals hätten dienen dürfen, mit der Staatsversagerin Merkel vergleichen.
Sicher, man darf den Alten nicht überhöhen. Manchmal hat er auch kräftigen Quark vertellt. Die Euro-Einführung etwa hielt er unerschütterbar für eine gute Idee.
Eine Frage geht einem nicht aus dem Sinn, denkt man an Schmidts zweite Karriere. Wie hat es ein (fast) immer gradlinig denkender Kopf, Schöpfer des unsterblichen Ratschlags, dass Leute mit Visionen sich zum Arzt begeben sollten, wie also hat ein allem Geschwurbel und Getue und sämtlicher Bedenkenträgerkasperei Abholder es bloß 22 Jahre in einem Blatt wie der Zeit ausgehalten?
In einem Boot mit Gestalten wie dem ahnungslosen Theo Sommer, der noch wenige Monate vor dem Zusammenbruch der DDR nach einer Reise durch das marode Land dem Honecker-Regime attestierte, es sei von der Bevölkerung weithin akzeptiert (“Wer heute das Gerippe der deutschen Einheit aus dem Schrank holt, kann alle anderen nur in Angst und Schrecken versetzen.”).
Sicher, es mochte Schmidts Ego streicheln, wenn er für die Werbespots seines Blattes durch die Redaktionsgänge geführt wurde, als sei der Weltgeist am Hamburger Speersort niedergekommen. Umscharwenzelt vom Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der dabei eine figura machte wie ein altgedienter Redaktionspraktikant, dem die miese Entlohnung Kummerfalten ins Antlitz getrieben hatte.
Aber musste Schmidt dafür nicht einen verdammt hohen Preis zahlen? Unter Klarnamen in ein und derselben Publikation zu schreiben, in der sich die Crème der Moralkeulenschwinger, der Gesinnungsethikmischpoke, der Soziologenmafia, der Kotz- und Kacktheaterenthusiasten ausmären darf? Mit den Missionaren der Church of Global Warming an ein und demselben Konferenztisch zu sitzen? Schmidt nannte die Klimadiskussion mal „hysterisch überhitzt, auch und vor allem durch die Medien“. Sein eigenes, in dieser Sache federführendes Presswerk allerdings unerwähnt lassend.
An meiner Pinnwand hängt ein vergilbtes Pressefoto, das Schmidt 1974 beim Stopfen einer Pfeife auf dem sperrmüllreifen Sofa seiner Ferienhütte am Brahmsee zeigt. Die mit Eternitplatten verkleidete Bude bescheiden zu nennen, wäre untertrieben. Doch genau dort entspannten sich „Helmut“ und „Loki“. Der Medienschickeria, die der bramarbasierende Günter Grass damals gern in sein historisches Fachwerkhaus lud, musste ein Helmut Schmidt nichts beweisen.
Herr Schmidt! Bitte geben Sie uns einen letzten Hinweis von ganz oben! Existieren noch unveröffentlichte Tagebücher, in denen Sie über Ihre Zeit bei der Zeit auspacken?
(Von oben kommt leider grad nix).
Man kann nur hoffen: Der beste Kapitän, der den Dampfer Deutschland durch schwere See steuerte, tat es sich selten an, an den Speersort zu kommen. Oder in „seiner“ Wochenschrift viel mehr zu lesen als die eigenen Artikel.
Anderenfalls wäre er, herzkrank angeblich schon seit 1981, bestimmt nicht so alt geworden. RIP.
Zuerst erschienen auf achgut.com
Kommentare zum Artikel
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Helmut Schmidt war der letzte, wenn auch nicht der höchste, Berggipfel, in der politisch-historischen Entwicklung Deutschlands, die danach in kohlbewachsene Hügellandschaft überging, dann zu schröderischem Flachland abfiel und aktuell in merkelschem Sumpf untergeht.
Dass ein SPD-Kanzler damals weit konservativer war als eine CDU-Kanzlerin heute, mag sicher auch von der Persönlichkeit abhängen. Aber es gibt mir dennoch sehr zu denken
Helmut Schmidt war der grösste Staatsschauspieler aller Regierungschefs. Selbst die eigene Trauerfeier hat er bestens geplant und am eigenen Image gearbeitet- ein wahrer Künstler.
Chapeau, Herr Roehl!! Sie haben es getroffen. Ich habe nichts hinzuzufuegen! Hoffe, bald wieder etwas von Ihnen zu lesen.