1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Neunundzwanzigster November 1989

Während die Bild-Zeitung jubelt: „Wiedervereinigung! Der Anfang ist gemacht“, sieht das Neue Deutschland nach dem Aufruf „Für unser Land“ Perspektiven für die DDR. „Noch haben wir die Chance einer sozialistischen Alternative zur BRD“, titelt das SED-Blatt. Darunter wird der volle Wortlaut des Aufrufs veröffentlicht. Dass Staatschef Krenz seine Unterschrift unter diesen Aufruf setzt, ist der Todeskuss für das Unternehmen. Viele Unterzeichner ziehen ihre Unterschrift zurück.

Um die Künstler zu beruhigen und wieder auf SED-Linie zu bringen, versichert Kulturminister Dietmar Keller, dass die Kunst- und Antiquitäten GmbH, ein Subunternehmen des KoKo-Imperiums von DDR-Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, ihre Tätigkeit eingestellt habe. Dieses Unternehmen war in den letzten Jahren damit beschäftigt gewesen, Kunst- und Kulturgüter aus staatlichem und Privatbesitz an den Westen zu verkaufen. Dabei wurden die Depots der Museen ebenso geplündert wie die Archive und Sammlungen von Menschen, die in den Westen ausreisen wollten.

Letztlich wurden wir nur mit den in die BRD verhökerten Werten wiedervereinigt. Was in andere westliche Länder, in die USA oder nach Japan ging, ist für immer verloren.

Als in der Nähe Berlins eine riesige Verkaufsfläche für Devisenbringer eröffnet wurde, sprach sich das bald in Künstlerkreisen herum. Selbst staatsnahe Kulturschaffende protestierten, öffentlich oder in Privatbriefen an Politbüromitglieder.

 

Während man in der DDR immer noch darüber diskutiert, wird die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei einfach aus der Verfassung gestrichen.

 

Der Vatikan kündigt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion an.

 

Dreißigster November 1989

Die tschechoslowakische Regierung gibt den sofortigen Abbau aller Sperranlagen an ihrer Westgrenze bekannt.

 

Die DDR-Regierung kann sich freuen: „Frankreich will für die DDR ein richtiger Partner sein“. Mit diesem Versprechen zeigt der französische Staatschef François Mitterand, was er von einer möglichen Vereinigung hält: Nichts.

 

Die neue Wirtschaftsministerin Christa Luft informiert erstmals über die wahren Verhältnisse in der Wirtschaft und im Außenhandel. Die zehn Milliarden Nettoschulden, die sie einräumt, erscheinen heute lächerlich gering. Damals waren sie so bedrohlich, dass Luft sich bemühte zu versichern, dass die Spareinlagen der Bevölkerung trotzdem nicht gefährdet seien.

Gegen sechs ehemalige Spitzenpolitiker, darunter Erich Honecker und Willi Stoph, leitet die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein: wegen Amtsmissbrauch und Vergeudung von Volkseigentum.

Alexander Schalck-Golodkowski lässt die Öffentlichkeit wissen, dass er von Erich Honecker persönlich angewiesen worden war, jährlich 6 Millionen Valutamark für die Bedürfnisse der Bewohner der Wandlitzer Waldsiedlung zur Verfügung zu stellen.

In Erfurt gehen am Abend mehr als 10.000 Menschen gegen die Privilegien des Politbüros auf die Straße.

 

 

 

Dezember

 

Erster Dezember 1989

Die Volkskammer der DDR entschuldigt sich beim Volk der Tschechoslowakei für die Beteiligung der NVA am Einmarsch in das Land im Jahre 1968. Diese Entschuldigung ist insofern besonders interessant, weil die umbenannte SED nach der Vereinigung immer bestritten hat, an der gewaltsamen Beendigung des Prager Frühlings beteiligt gewesen zu sein.

Das Parlament, das so eifrig tagt, als gelte es, alle Versäumnisse der letzten Jahre nachzuholen, zeigt noch mehr Initiative: Die Abgeordneten streichen mit Artikel 1, Absatz 1 den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung. Damit erledigen sich die kontroversen Diskussionen in der Opposition, ob man diesen Führungsanspruch infrage stellen dürfe oder nicht. Wie unentschlossen und wenig führungsfähig die Opposition ist, zeigt sich deutlich an einer anderen Diskussion: Angespornt durch den Erfolg der Tschechoslowaken, die mit einem Generalstreik innerhalb von einem Tag alle ihre Forderungen durchgesetzt haben, rufen Teile des Karl-Marx-Städter Neuen Forums zu einem Generalstreik am 6. Dezember auf. Dieser Streik sollte die Forderung nach Auflösung der Kampfgruppen in den Betrieben, des Amtes für Nationale Sicherheit und die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft durchsetzen. Das ist inhaltlich ein willkürlicher Mix, und das Entscheidende, die Ablösung der SED-Regierung, ist ausgelassen. Trotzdem wird am Abend im DDR-Fernsehen von dem Aufruf berichtet. Sofort gibt es Widerspruch vom Neuen Forum in Berlin, obwohl viele Betriebsbelegschaften durchaus streikbereit sind und es immer wieder wilde politische Streiks gegeben hatte. Diese Zögerlichkeit bringt der Opposition einen neuen Vertrauensverlust ein.

Die ungeduldigen Bürger beginnen von selbst, in ihren Betrieben die Betriebsparteiorganisationen der SED aufzulösen und ihre Betriebskampfgruppen zu entwaffnen. Sie treffen dabei auf keinerlei Widerstand.

 

Auch die politischen Gefangenen der DDR möchten nicht mehr darauf warten, dass sich die Opposition draußen für sie starkmacht und ihre Entlassung fordert. Sie werden selbst aktiv. Gefangene mehrerer Haftanstalten verlangen die Überprüfung ihrer Urteile. Außerdem fordern sie eine menschenwürdige Behandlung in den Gefängnissen.

 

In Leipzig steht Wolf Biermann das erste Mal seit 25 Jahren wieder auf einer öffentlichen ostdeutschen Bühne. Es sind 6.000 Fans gekommen. Sie hören ihr Idol sagen, dass es „nicht froh über diese ‚Deutschland, Deutschland über alles-Stimmung‘“ sei. „Wir wären schön dumm – ihr wärt schön dumm – wenn ihr rückwärts laufen würdet ins alte Reich á la Kohl.“ Es spricht für Biermann, dass er diese Haltung später korrigiert. In diesem Moment illustriert er aber, wie wenig die Einschätzungen eines Teils der Opposition mit der Realität zu tun haben.

 

Die Bundesrepublik ist erschüttert über den Mord am Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen, zu dem sich die RAF bekennt. Dabei war Herrhausen keineswegs ein kalter Kapitalist, sondern eher ein Gutmensch, der Schuldenerlass für die Entwicklungsländer vorschlug, sich für die Umstrukturierung des Ruhrgebiets starkmachte und Ungarn behilflich sein wollte, trotz seiner hohen Auslandsschulden Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Er gehörte zu den Beratern von Bundeskanzler Helmut Kohl, was ihm anscheinend seinen Platz auf der Todesliste der RAF sicherte. Mit dem Anschlag wollten die Terroristen wohl klar machen, dass es sie auch noch gab. In einer guten Verfassung dürften sie sich nicht befunden haben. Mit der DDR drohten ihre Geldgeber und ihr Rückzugsraum zu verschwinden.

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