1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Sechsundzwanzigster November 1989

Schriftsteller, Künstler, SED-Mitglieder, die Reformer sein wollen, und leider auch einige Bürgerrechtler veröffentlichen einen Aufruf zur Rettung der DDR. In „Für unser Land“ werben sie für einen reformierten Sozialismus und eine eigenständige DDR. Der Schriftsteller Stefan Heym, der später für eine Legislaturperiode für die SED-PDS im Bundestag sitzt, verliest den Aufruf im Fernsehen. Gleichzeitig wird eine Unterschriftensammlung organisiert. Der Text wird zu Recht als Versuch verstanden, den politischen Forderungen auf der Straße entgegenzuwirken. Aber außerhalb von Intellektuellen- und Künstlerkreisen findet er kaum Resonanz. Im Gegenteil: Er bewirkt eine umgehende Polarisierung der politischen Kräfte, auch der Opposition. Es kommt zu harten Gegenäußerungen. Sogar ein Gegenaufruf wird gestartet: „Für die Menschen in unserem Land.“ Insgesamt macht die Diskussion klar, dass die Anhänger einer sozialistischen Reform in der DDR in der Minderheit sind.

 

Auch in der Tschechoslowakei geht es mit dem Sozialismus zu Ende. Die Demonstrationen erreichen ihren Höhepunkt. Über eine Million Menschen versammeln sich auf dem Wenzelsplatz in Prag. Sie fordern den Rücktritt der Spitzen von Regierung und Partei. Der Sprecher der Charta 77 und Untergrundpriester Václav Malý betet mit der Menge das Vaterunser. Das Staatliche Fernsehen überträgt die gesamte Veranstaltung.

Premier Adamec trifft mit Václav Havel und anderen Mitgliedern des Bürgerforums zusammen. Es ist der Beginn des Dialogs mit der bisherigen Opposition.

 

Siebenundzwanzigster November 1989

Staatschef Egon Krenz versucht vergeblich, sich bei den Leipzigern lieb Kind zu machen. „Von dieser Stadt gingen Signale zur Erneuerung des Sozialismus aus!“, verkündet er in Neuen Deutschland.

Dagegen machen die Leipziger am Abend auf der Montagsdemonstration mit 150.000 Teilnehmern klar, wohin die Reise gehen soll. Erstmals ist der Ruf „Deutschland einig Vaterland!“ zu hören. Es ist eine Zeile aus dem verbotenen Text der DDR-Nationalhymne. Man kann das auch als Antwort der Demonstranten auf den Aufruf „Für unser Land“ verstehen.

 

Im Spiegel wendet sich der DDR-Schriftsteller Rolf Schneider, gegen die Opposition die aus „höheren Angestellten, Künstlern und freischwebenden Intellektuellen“ bestünde. Die Arbeiterschaft ströme seit dem 10. November über die Westgrenzen. „Ihr Volonté générale ist gesamtdeutsch“. Mit seiner Prognose „Die deutsche Einheit wird kommen, früher, als alle vermuten“ sollte Schneider ja bekanntlich recht behalten.

Die Montagsdemonstrationen bestätigen dies schon jetzt. In Leipzig, Halle und Schwerin heißt es: „Einigkeit und Recht und Freiheit“ und „Wir sind ein Volk“.

 

Die DDR-Regierung hebt den Zwangsumtausch auf. Besucher aus dem Westen können das Land ohne Visum bereisen.

Die Auflösung der Staatsjagdgebiete führt zu einer umgehenden Inbesitznahme durch die Bürger, die erstmals die seit Jahrzehnten den SED-Bonzen vorbehaltenen Wälder wieder betreten können.

 

In der Sowjetunion wird der Beschluss über die ökonomische Unabhängigkeit der baltischen Republiken gefasst.

In der Tschechoslowakei findet ein Generalstreik statt, weil die Spitzen von Partei und Regierung nicht schnell genug auf die Forderungen nach Rücktritt reagieren.

 

Achtundzwanzigster November 1989

Die Medien der DDR laufen zu großer Form auf und versuchen, sich mit Enthüllungen zu übertreffen. Sie haben sich die Politbürosiedlung Wandlitz vorgenommen und nicht nur jede Menge Konsumgüter westlicher Herkunft in der dortigen Kaufhalle entdeckt, darunter auch seltene Luxusgüter.

Die öffentliche Empörung ist umso größer, als der Verwalter der Wandlitz-Kaufhalle kurz zuvor beteuert hatte, es hätte dort nur ein „normales Angebot“ gegeben.

 

Das Landwirtschaftsministerium muss „Gerüchte“ dementieren, dass die Staatsjagdgebiete an Devisenbringer aus dem Westen verpachtet werden sollen.

Bundeskanzler Kohl legt dem Bundestag seinen am Wochenende erarbeiteten und von seiner Frau Hannelore abgetippten Zehn-Punkte-Plan zur schrittweisen Überwindung der Teilung Deutschlands vor. Damit gibt es erstmals eine Leitlinie für eine Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten im Rahmen der bestehenden Verträge. Eine künftige Wiedervereinigung soll so möglich gemacht werden. Der letzte Punkt lautet: „Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europas hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann.“ Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, mit Ausnahme der Grünen, stimmen diesem Plan zu.

 

In Ostberlin nimmt die Nationale Front der DDR-Altparteien auf ihrer letzten Sitzung das Angebot an, mit den Oppositionsgruppen am „Runden Tisch“ zu verhandeln. Allerdings versuchen sie, das Kräfteverhältnis durch die Einbeziehung von Massenorganisationen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

 

In der Tschechoslowakei zeigt der Generalstreik Wirkung. Die Kommunistische Partei verzichtet nach Verhandlungen mit der Opposition auf ihren in der Verfassung verankerten Führungsanspruch. Die Regierung tritt zurück. Es wird eine Koalition unter Beteiligung der Opposition gebildet.

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