1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Achtzehnter November 1989

Wieder beginnt ein Besuchswochenende. Bis zu 3 Millionen Menschen sind von Ost nach West unterwegs. Die Züge der Reichsbahn sind bis „zu vierhundert Prozent ausgelastet“. Auf den Bahnsteigen kommt es zu tumultartigen Szenen. Der ADAC registriert insgesamt über tausend Kilometer Stau. Der Westberliner Kudamm ist dicht. Die Polizei verteilt Schokolade statt Strafzettel.

Aber nicht alle verreisen. In Plauen versammeln sich über 10.000 Menschen vor dem Rathaus, in Suhl sind 5.000 Anhänger des Neuen Forums auf der Straße, in Eberswalde-Finow sind es sogar 7.000. In Dresden protestieren 50.000 Einwohner gegen den Ausverkauf von Kultur- und Kunstgütern und für den Erhalt der Baudenkmäler der Elbmetropole.

Das Neue Forum hält zum ersten Mal eine genehmigte Kundgebung in Leipzig ab.

Immer wieder versuchen SED-Anhänger, manchmal mit Erfolg, auf die Rednerlisten der Kundgebungen zu gelangen. Das sorgt für Missstimmung.

Walter Kempowski notiert, dass man die Westdeutschen auf einer Demo als „Monopolkapitalisten“ bezeichnet hat, und ist traurig über solche Töne, die er mit Recht als konterrevolutionär empfindet.

 

In Prag gibt es wieder eine Demonstration auf dem Wenzelsplatz. Diesmal wird gegen die Polizeiwillkür vom Vortag mobilgemacht. Der Schriftsteller Václav Havel und der Reformer von 1968, Alexander Dubček, sprechen zu den hunderttausenden Versammelten. Die Studenten bilden erste Streikkomitees und rufen zum Streik auf. Viele Schauspieler und Künstler solidarisieren sich mit ihnen.

In Sofia findet die erste große genehmigte Demonstration der Opposition statt. Es versammeln sich 150.000 Menschen, die radikale Reformen verlangen.

Auch in Riga ist man auf den Beinen. Am 71. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der Republik Lettland demonstrieren 550.000 Menschen für die Unabhängigkeit von der Sowjetunion.

In vielen weiteren Landesteilen halten die Unruhen an, darunter auch in Kischinau und in der Gulag-Stadt Workuta. In Workuta gedenken die Protestierenden des einzigen Gulag-Aufstands, der am 2. August 1953 gewaltsam niedergeschlagen wurde.

 

Ministerpräsident Modrow kündigt Wirtschaftsreformen an.

Die Volkskammer bildet einen Untersuchungsausschuss zur Überprüfung von Amtsmissbrauch und Korruption.

 

Neunzehnter November 1989

Während eines Bürgerforums in Leipzig wird bekannt gegeben, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Leipziger infolge der städtischen Umweltbelastung erheblich niedriger sei als in den weniger belasteten Gebieten der DDR.

 

Aufgrund des regen Reiseverkehrs von Ost nach West und von West nach Ost an diesem Wochenende waren sich die Deutschen so nahe wie noch nie. Gleichzeitig ist in den Medien viel vom Sozialismus, der gerade von den DDR-Bürgern verabschiedet wird, die Rede. Die DDR-Regierung scheint ihre eigenen Beschwörungen zu glauben. Sie eröffnet Auffanglager für rückkehrwillige DDR-Bürger. Im Fernsehen werden die Feldbetten gezeigt, mit gefalteten Decken darauf und Kantinen, in denen Eintopf gekocht werden kann. Bis zu 2000 Menschen könnten untergebracht werden. Als sich nicht mehr als sieben Flüchtlinge einfinden, werden die Lager wieder geschlossen.

 

Die Bürgerbewegung Demokratie jetzt fordert einen Volksentscheid über die Abschaffung des Artikel 1 der Verfassung, der die Vorherrschaft der SED festschreibt.

Das Neue Forum fordert den Rücktritt von SED-Parteichef Egon Krenz. Um den ungeliebten Staatschef zu stützen, präsentiert das DDR-Fernsehen Krenz am Abend von seiner privaten Seite und zeigt sein neues Wohnhaus im Pankower Majakowski-Ring. Was deutlich machen soll, dass sich Krenz auch privat von seinen ehemaligen Nachbarn in der Politbürosiedlung Wandlitz distanziert hat. Bei der Gelegenheit versichert Krenz auf dem heimischen Sofa den Zuschauern, dass es bei der Öffnung der Grenze bleibe.

 

Tausende Berliner gehen lieber auf die Straße, als sich diese Schmierenkomödie anzusehen. Sie fordern freie Wahlen, eine neue Verfassung und tiefgreifende demokratische Reformen.

Um sicherzugehen, dass diese Forderungen ihre Adressaten auch erreichen, legen die Demonstranten ihre Transparente am Schluss vor dem Palast der Republik, dem Sitz der Volkskammer, ab.

 

In der Tschechoslowakei kommt die Revolution in Fahrt. Der Prager Wenzelsplatz erlebt seine dritte Großdemonstration. Wieder sprechen Havel und Dubček. Sie fordern die Demokratisierung des Landes. Der Druck wird verstärkt durch die Gründung des tschechischen Bürgerforums. Vorsitzender wird Václav Havel. Auf slowakischer Seite wird gleichzeitig die Öffentlichkeit gegen Gewalt sowie die Unabhängige Initiative der ungarischen Minderheit ins Leben gerufen.

Die Theaterschaffenden, Studenten und Schüler streiken.

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