1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

Veröffentlicht:
von

 

Zwölfter November 1989

Am Morgen wird am Potsdamer Platz in Berlin der fünfte Grenzübergang geöffnet und sogleich eifrig benutzt. Auch an anderen Stellen in der geteilten Stadt wird die Mauer durchbrochen.

Allein an diesem Sonntag reisen vier Millionen DDR-Bürger nach Westdeutschland, umgekehrt kommen zehntausende Westdeutsche in die DDR. Bis zu sechzig Kilometer lange Autoschlangen haben sich vor allen Grenzübergangsstellen gebildet. Im Westen werden die Ostdeutschen begeistert empfangen. Kirchgemeinden, Vereine, Privatleute richten Verpflegungsstellen ein. Geschenke an Wildfremde werden überreicht. Viele Lokale bieten Gratis-Kaffee für DDR-Bürger an. Es herrscht überall Volksfest-Stimmung. An den Schaltern, an denen das „Begrüßungsgeld“ ausgegeben wird, muss man stundenlang warten. Insgesamt spendiert der westdeutsche Steuerzahler über eine Milliarde Mark.

 

Den Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Walter Momper, die DDR-Bürger sollten das Begrüßungsgeld 1:4 eintauschen, lehnt die Bundesregierung ab. Ohnehin verfällt der Wert der DDR-Mark rasant. Auf dem freien Markt erzielt sie höchstens einen Kurs von 1:10 oder darunter.

Die Medien versuchen krampfhaft, etwas anderes als reine Freude an der unverhofften Bewegungsfreiheit zu finden. Walter Kempowski notiert, dass von Reportern seit vier Tagen dieselben Fragen gestellt werden: „Fühlen Sie sich freudig bewegt, oder sind Sie auch ein bisschen traurig …?“, „Haben Sie vielleicht insgeheim …?“, „Werden sie wirklich freundlich begrüßt?“ Ein DDR-Bürger gibt die Frage zurück: „Nun sagen Sie mir mal, was Sie so fühlen!“

Bundespräsident Richard von Weizsäcker glaubt, vor „Triumphgefühlen“ warnen zu müssen. Kempowski grübelt, wie man sich denn verhalten solle, um diese Warnung zu beherzigen. Der Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl im polnischen Kreisau bleibt unbeachtet.

 

Während Journalisten krampfhaft nach Haaren in der deutsch-deutschen Suppe fahnden, freuen sich die Künstler ganz entspannt über die neuen Möglichkeiten. In der Westberliner Deutschlandhalle findet ein spontanes, elfstündiges Rockkonzert mit namhaften Gruppen aus Ost und West statt. Das zwanglos gemischte, deutsch-deutsche Publikum ist begeistert.

 

Dreizehnter November 1989

Die Sperrzone an der innerdeutschen Grenze und entlang der Berliner Mauer wird aufgehoben. Erstmals seit 28 Jahren kann man sich von Osten her der Grenze wieder nähern.

 

Das ZK der SED tagt innerhalb weniger Tage zum zweiten Mal. Es beschließt auf Druck der Parteibasis, einen Sonderparteitag einzuberufen. Er soll vom 15. bis 17. Dezember in Berlin stattfinden. Die Stimmung im ZK ist panisch. Angst vor dem Volk erschüttert die gerade noch allmächtigen Genossen bis ins Mark. Sie erwarten Bestrafung, wähnen sich mitten in einer „mittelalterlichen Inquisition“, auf einem „Fass Dynamit“. In den Betrieben würden die Parteifunktionäre „reihenweise abgeschlachtet“. Das wird behauptet, obwohl niemandem auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Die SED-Funktionäre ernten lediglich offenen Widerspruch. Den können sie nicht aushalten. Fast alle Politbüromitglieder kündigen ihren Rücktritt an. Krenz fürchtet die verheerende öffentliche Wirkung eines solchen „Liquidatorentums“. Er will die Rücktritte geheim halten.

 

Getrieben von den Forderungen auf der Straße wählt die Volkskammer auf ihrer 11. Tagung in geheimer Abstimmung und erst im zweiten Wahlgang Günther Maleuda, den Vorsitzenden der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, zu ihrem neuen Präsidenten. Anschließend wird, wieder in geheimer Abstimmung, Hans Modrow mit einer Gegenstimme zum neuen Ministerpräsidenten gekürt.

Bei dieser Gelegenheit hat Stasichef Mielke seinen letzten Auftritt vor der Volkskammer. Er muss sich mit anderen früheren Regierungsmitgliedern einer Befragung durch die Abgeordneten stellen. Der alte Mann versteht nicht, wieso seine verharmlosende Darstellung der Staatssicherheit so viel Unmut erzeugt. Schließlich ruft er verzweifelt: „Ich liebe, ich liebe doch alle Menschen“

 

Die Verwirrung der Opposition hält an. Wolfgang Ullmann von Demokratie jetzt versucht gar, Verbündete unter den Bürgerrechtlern für eine Forderung nach sofortiger Schließung der Grenze zu gewinnen.

Zum Glück findet er niemanden, der einen solchen Aufruf unterstützen wollte. Das hätte die Opposition restlos diskreditiert. Ullmann ist überzeugt, dass diese drastische Maßnahme gerechtfertigt wäre, damit die DDR weiter existieren könne. Durch die Demonstrationen sei ein selbstbewusstes „Staatsvolk der DDR“ entstanden. Der Widerspruch, dass man ein solches „Staatsvolk der DDR“ nicht einzumauern brauchte, fällt Ullmann offenbar nicht auf.

 

Während der Wunsch nach Vereinigung bereits in der Luft liegt, kursieren innerhalb der Opposition im November allerlei Papiere, die sich mit dem Überleben der DDR beschäftigen. Keines dieser Papiere entfaltet eine Wirkung. An der Rettung der DDR ist außerhalb von SED und Teilen der Opposition kaum jemand interessiert.

Auf den Demonstrationen in Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Cottbus, Neubrandenburg und Schwerin dominiert ab sofort: „Deutschland einig Vaterland“. Nie war der Text der DDR-Nationalhymne, der seit Jahren nicht mehr gesungen werden durfte, populärer.

 

In Bulgarien versucht die Regierung unter dem neu gewählten Generalsekretär Petar Mladenow zu retten, was zu retten ist. Durch eine Reihe von Entscheidungen signalisiert sie ihre Bereitschaft, mit einigen der bisherigen Praktiken zu brechen. Elf Intellektuelle, die aus der Partei ausgeschlossen worden waren, werden in aller Form wieder aufgenommen. Darüber hinaus trifft sich Mladenow auch mit anderen in Ungnade gefallenen Geisteswissenschaftlern, die nicht Parteimitglied waren. Er will so die Intellektuellenfeindlichkeit seines Vorgängers Schiwkow vergessen machen.

Mehr lesen im Buch:

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang