1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

Veröffentlicht:
von

 

Sechster November 1989

Stasichef Mielke ordnet die Aktenvernichtung an. Von nun an laufen Schredder und Öfen auf Hochtouren, um kompromittierendes Material zu vernichten. Mielke ahnt also, dass es mit der DDR zu Ende geht, und er weiß sehr genau um die kriminellen Delikte seines Ministeriums, die er jetzt vor der Öffentlichkeit geheim zu halten sucht.

 

In Dresden haben Bezirksparteichef Modrow und Oberbürgermeister Berghofer den Gedanken an eine führende Rolle in der Bewegung noch nicht aufgegeben. Sie bieten der Gruppe der 20, die sich im Rathaus festgesetzt hat, ihre Unterstützung bei der Organisation der abendlichen Demonstration an und erklären sich bereit, Ordner zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug wollen sie beide dabei sein. So kommt es, dass Modrow und Berghofer neben der Gruppe der 20 an der Spitze des Demonstrationszuges mit 100.000 Dresdnern marschieren. Sofort verkündet der Rundfunk, die SED-Politiker hätten sich an die Spitze der Reformbewegung gesetzt. Die Demonstranten sehen das anders. „8-9-10 – SED kann geh’n!“ lautet auch heute die Parole des Abends.

 

Den Politbürokraten dämmert inzwischen, dass die SED wirklich gehen muss, wenn es keine Rettung in letzter Sekunde gibt. Die Schwierigkeiten, in denen sie steckt, werden mit jedem Tag größer.

Bei seinem Machtantritt hatte Krenz beim DDR-Planungschef Gerhard Schürer eine Studie über den Zustand der Volkswirtschaft in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist verheerend. Die DDR ist bankrott. Bei seinem jüngsten Besuch in Moskau war Krenz von Gorbatschow jede finanzielle Hilfe verweigert worden. Es bleibt als Ausweg nur, sich, wie so oft, an den Klassenfeind zu wenden, obwohl Krenz in den vergangenen Tagen mit verbalen Ausfällen gegen die Regierung Kohl nicht gerade zurückhaltend gewesen war. Also schickt man die Allzweckwaffe der SED-Oberen, Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski, auf eine Eilmission nach Bonn, wo er mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Innenminister Wolfgang Schäuble verhandeln darf. Schalck schildert die verzweifelte Lage und fordert einen 13-Milliarden-Kredit, sozusagen als Finanzhilfe für die SED-„Reformer“. Bereits 1983 und 1984 hatten zwei Milliardenkredite aus Bonn die DDR vor dem Offenbarungseid gerettet. Warum nicht ein drittes Mal? Aber Bundeskanzler Kohl verabschiedet sich von der Politik der geräuschlosen Hilfe für die SED-Regierung. Er stellt diesmal Bedingungen und fordert die Aufgabe des Machtmonopols der SED, die Zulassung der Opposition und freie Wahlen in einem überschaubaren Zeitraum.

Diese Forderungen übermittelt Schalck an Krenz, während Kohl, Schäuble und Seiters noch in der Nacht eine Passage über den Zustand der DDR-Wirtschaft in den bereits fertig gestellten

 

Auf größeres Interesse und gleichzeitig wütende Ablehnung stößt das an diesem Tag veröffentlichte Reisegesetz. Besonders wütend sind die Leute über den Satz, dass die Genehmigung einer Privatreise „keinen Anspruch auf Erwerb von Reisezahlungsmitteln“ begründe. Die Regierung will ihr Volk als Bettler in die Welt schicken. Das will sich „der große Lümmel“ (Heine) aber nicht mehr gefallen lassen. Auf der Montagsdemo in Leipzig sind die Reaktionen jedenfalls deutlich: „Wir brauchen keine Gesetze – die Mauer muss weg!“

Andere verabschieden sich einfach. Am späten Abend muss ADN vermelden, dass in der Zeit von Sonnabend früh bis Montagmittag insgesamt 23.000 Menschen über die offene Grenze zur Tschechoslowakei in die Bundesrepublik gelangt sind.

 

In Polen beschließt das Plenum des ZK der PVAP, die Begriffe „Diktatur des Proletariats“ und „proletarischer Internationalismus“ aus allen Dokumenten zu streichen, auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus zu verzichten und die parlamentarische Demokratie als Staatsform anzustreben.

 

Siebter November 1989

Der DDR-Ministerrat tritt zurück. Es ist der verzweifelte und vergebliche Versuch von Krenz, durch Bauern- und Damenopfer bei der Bevölkerung Vertrauen zu gewinnen.

 

Der Exodus in den Westen geht weiter. Seit die Grenzen zur Tschechoslowakei wieder offen sind, kamen über 50.000 Ausreisewillige über diesen Umweg nach Westdeutschland. Weitere 41.000 warten an der Grenze. Das Politbüro beschließt deshalb schon wieder eine neue Fassung des Reisegesetzes, die demnächst vom Ministerrat erlassen werden soll. Auch unter Krenz hat die Regierung keinen eigenen Handlungsspielraum.

Statt eines Gesetzes fordert das Neue Forum einen Reisepass für jeden Bürger und ein generelles Ausreisevisum in alle Welt.

 

Die Ausreisewelle habe etwas „von Hysterie an sich“, notiert Walter Kempowski am nächsten Tag in sein Tagebuch. Gleichzeitig flößt ihm die Opposition wenig Vertrauen ein. „Frau Bohley wirkt schüchtern und so, als ob sie gerade geweint hätte.“

Er wundert sich, dass er keinen einzigen der Namen kennt, die jetzt häufiger in den Medien genannt werden. Auch Kempowski erkennt nicht, dass es sich nicht um von Einzelnen organisierte Aktionen, sondern um einen Massenaufbruch handelt.

Dieser Massenaufbruch hinterlässt in der DDR dramatische Lücken. Soldaten und Stasimitarbeiter sollen in der Wirtschaft eingesetzt werden, um diese überhaupt am Laufen halten zu können. Damit wird eine Forderung der Demonstranten aus purer Not erfüllt: „Stasi in die Produktion“.

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang