1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Zweiter November 1989

Mit einer Welle von Rücktritten, versucht die SED-Führung wieder Herr der Lage zu werden.

Im Bezirk Schwerin muss der SED-Parteichef gehen, weil das von ihm befohlene harte Vorgehen gegen oppositionelle Demonstranten heftige öffentliche Reaktionen ausgelöst hat. Auch der Chef der Bezirksparteileitung Gera ist aus einem ähnlichen Grund gezwungen, seinen Hut nehmen. Außerdem kündigt Egon Krenz in einer Fernsehansprache die bevorstehende Abdankung zweier besonders verhasster Politbüromitglieder an: Erich Mielke und Kurt Hager. Auch in den Blockparteien trennt man sich von belastetem Führungspersonal. In der CDU wird der Rücktritt ihres Vorsitzenden Gerald Götting erzwungen. Unbelastete Funktionäre sind an der CDU-Spitze knapp. Es sollte einige Tage dauern, bevor die Parteiführung sich auf einen neuen Vorsitzenden einigen kann.

 

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Hans-Jochen Vogel verlangt öffentlich, dass die SED die Grundrechte garantiert und ihren Führungsanspruch aufgibt. Sie solle die Opposition, auch die SDP, endlich anerkennen. Damit korrigiert Vogel seine ursprünglich ablehnende Haltung zur sozialdemokratischen Neugründung im Osten.

 

Das Neue Deutschland schließt sich dem Versprechen des DDR-Fernsehens an, nur noch die Wahrheit zu berichten und dementiert eigene Meldungen über einen Fall in Ungarn. Dort soll angeblich ein DDR-Kellner von westlichen Geheimagenten mit einer Mentholzigarette betäubten und anschließend gegen seinen Willen in den Westen verschleppt worden sein. Der verantwortliche Redakteur entschuldigt sich und gelobt Besserung.

 

In Erfurt gibt es eine Großdemonstration. Vor 40.000 Teilnehmern verlangen drei Redner, darunter der aus Berlin angereiste SDP-Mitbegründer Markus Meckel, die SED solle ihren Führungsanspruch aufgeben. Andere sind noch nicht so weit. Der Vertreter von Demokratie jetzt, Ludwig Mehlhorn, erklärt in einem Interview mit der taz, dass er sich einen Reformprozess „in der Konfrontation mit der SED“ nur schwer vorstellen könne. In der gleichen Ausgabe nimmt auch der Vorsitzende der SDP, Ibrahim Böhme, eine ähnliche Position ein.

 

Dritter November 1989

Weitere Politikerrücktritte werden bekannt. Die verhasste Volksbildungsministerin Margot Honecker muss gehen. Der Chef der SED-Bezirksleitung Suhl verliert seinen Posten.

In die Blockpartei LDPD kommt Bewegung. Seit der letzten Oktoberwoche präsentiert die Parteiführung, besonders deren Vorsitzender Manfred Gerlach, der Öffentlichkeit fast täglich neue Reformvorschläge. Allerdings betont man immer wieder, dass dies nicht als Opposition zu verstehen sei und man die führende Rolle der SED nicht infrage stellen wolle. Für wenige Tage avanciert Gerlach dennoch zum Hoffnungsträger der Demonstranten. Die Parteizeitung Der Morgen hatte Gerlachs Forderung veröffentlicht, dass nicht nur einzelne Minister, sondern die gesamte Regierung zurücktreten solle.

 

Egon Krenz glaubt immer noch, mit personellen Veränderungen, die aber nichts an der herrschenden Struktur ändern, die Lage in den Griff bekommen zu können. In einer Rundfunk- und Fernsehansprache erklärt er, dass mit der 9. Tagung des ZK der SED eine „neue Etappe in der Entwicklung des sozialistischen Vaterlandes“ begonnen hätte.

 

Während immer mehr Bürger auf die Straße gehen, verlassen andere nach wie vor in Scharen das Land, vor allem über die wiedereröffnete Grenze zur Tschechoslowakei. In der Prager Botschaft der BRD befinden sich bereits wieder 6.000 Menschen. Auf Drängen Bonns gestattet Krenz ihnen die direkte Ausreise in die BRD. Als sich daraufhin binnen weniger Stunden etwa 5.000 Menschen in Prag und Umgebung einfinden, in der Hoffnung auf schnelle Ausreise, protestiert die Regierung der ČSSR energisch, weil die Flüchtlinge Unruhe ins bisher eisern regierte Land bringen. Die DDR solle ihr Flüchtlingsproblem selbst lösen und nicht auf andere Länder abschieben.

 

Während der SED sichtbar alle Felle wegschwimmen, wird die Frage ihrer Führungsrolle unter den Oppositionellen heftig und kontrovers diskutiert. Befriedigt registriert die Staatssicherheit, dass eine bekannte Aktivistin des Neuen Forums die Führungsrolle der SED nicht grundsätzlich ablehnen will. Sie müsse nur so gestaltet werden, dass sie erkennbar sei und allen diene. Dies geschah offenbar unter dem Einfluss von Rechtsanwalt Gysi, mit dem sie die Großdemonstration in Berlin vorbereitet. Während sich die Forum- Frau intern äußert, unternehmen Friedrich Schorlemmer und der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, in der Öffentlichkeit ähnliche Vorstöße. Schnur folgt damit den Anweisungen seines Stasi-Führungsoffiziers. Im Demokratischen Aufbruch gelingt es ziemlich schnell, Schorlemmer und Schnur zu überstimmen. Im Neuen Forum dagegen bleibt die Lage diffus. Diese inhaltliche Unklarheit und die Unwilligkeit, klare Strukturen zu schaffen und deutliche strategische und taktische Ziele zu benennen, bringen dem Neuen Forum Mitgliederverluste ein. Es wird nicht, was viele wünschten und erwarteten, die entscheidende Gegenkraft zur SED.

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