1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Dreißigster Oktober 1989

Der gestrigen Ankündigung lässt das DDR-Fernsehen Taten folgen: Erstmals werden in der Sendung Umweltprobleme angesprochen, die bisher nicht thematisiert werden durften. Dabei werden auch die bisher als Staatsgeheimnis behandelten Luftverschmutzungsdaten veröffentlicht.

Die größte Fernseh-Überraschung gibt es jedoch am späteren Abend: Der Chefkommentator des DDR-Fernsehens, Karl-Eduard von Schnitzler, von der Bevölkerung respektlos Sudel-Ede genannt, eröffnet seine berüchtigte wöchentliche Sendung Der schwarze Kanal mit den Worten: „Diese Sendung wird nach fast dreißig Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte … Einige mögen jubeln …“

„Nicht, dass ich etwas zu bereuen hätte“, setzt er hinzu und reiht sich damit nahtlos ein in die Reaktionen seiner Genossinnen und Genossen. Die Reuelosigkeit ist das Markenzeichen der meisten Verantwortlichen der DDR-Diktatur.

 

In der Berliner Zeitung, immer noch Bezirksorgan der SED, gibt es das erste Stück Enthüllungsjournalismus, das glaubhaft machen soll, dass sich die Medien gewandelt haben. Der Vorsitzende der IG Metall im FDGB, Gerhard Nennstiel, wird bezichtigt, den Bau seines Eigenheims aus Mitteln einer FDJ-Initiative finanziert zu haben. Nennstil tritt noch am selben Tag zurück.

Dagegen kommt der Gewerkschaftschef Harry Tisch noch einmal mit einem blauen Auge davon. Zwar ist auf Drängen der Basis der FDGB-Bundesvorstand zusammengetreten, das geforderte Misstrauensvotum spricht er aber nicht aus. Auch der Wunsch nach Gründung unabhängiger Gewerkschaften wird nicht behandelt. Die Gewerkschaftsbosse verharren in den alten Mustern.

 

Außerhalb weht ein frischer Wind. In Karl-Marx-Stadt wird den Demonstranten endlich zugesichert, dass in Zukunft alle Umweltdaten öffentlich gemacht werden. Es soll sogar eine Smogverordnung für Großstädte geben. Die Zeitung Der Morgen lässt schon mal verlauten, dass im vergangenen Jahr insgesamt fast fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxid emittiert wurden, was bisher als Staatsgeheimnis galt.

Weil ihre Stadt eine der am schwersten betroffenen ist, demonstrieren 50.000 Hallenser für konsequenten Umweltschutz.

 

In Dresden muss Oberbürgermeister Berghofer die Gruppe der 20 als offizielle Vertretung der Einwohner seiner Stadt anerkennen. Berghofer hat inzwischen die Zeichen der Zeit erkannt und spricht sich im Gespräch mit der Gruppe für eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft ohne Wenn und Aber aus.

 

Am Abend gibt es in Leipzig mit über 200.000 Teilnehmern die bisher größte Demonstration. Hauptforderung ist die Abschaffung des Machtmonopols der SED.

Auch die Provinz ist auf den Beinen: 5.000 demonstrieren in Pößneck, 20.000 in Cottbus.

 

Einunddreißigster Oktober 1989

Demonstrationen in Weimar, Meißen, und Meiningen. Überall werden Reisefreiheit und freie Wahlen gefordert. In der kleinen Kreisstadt Nordhausen in Thüringen sind allein 25.000 Menschen auf der Straße, das sind etwa siebzig Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Die Stadtverwaltung von Nordhausen versucht vergeblich, den Demonstranten die Lautsprecheranlage abzuschalten.

In Wittenberg findet eine Großdemonstration statt, auf deren Höhepunkt die Forderungen der Demonstranten in Form von sieben Thesen an die Rathaustür geheftet werden.

Die 140 Demonstrationen in dieser Woche widerlegen die These, die friedliche Revolution hätte nur an wenigen Brennpunkten stattgefunden und die Mehrheit der Bevölkerung wäre passiv geblieben.

Die Proteste zeigen Wirkung: Postminister Rudolph Schulze lässt im DDR-Jugendfernsehen verlauten, dass die auf persönliche Initiative von Erich Honecker verbotene Zeitschrift Sputnik ab 1. Dezember wieder vertrieben wird.

Erstmals veröffentlicht auch die Magdeburger Volksstimme Daten zur Schadstoffbelastung der Luft.

 

Das Politbüro kommt zu seiner wöchentlichen Sitzung zusammen. Die alte Geschlossenheit gibt es nicht mehr. Es findet sich keine Mehrheit für die Verabschiedung einer Konzeption zur „Zurückdrängung oppositioneller Sammlungsbewegungen“, die am 21. Oktober in Auftrag gegeben worden war. Die Vorschläge,  die Fachleute von Staatssicherheit, Polizei und der Sicherheitsabteilung des ZK der SED zusammengetragen hatten, bleiben unbeachtet. Die Politbürokraten müssen zur Kenntnis nehmen, dass die üblichen Störmethoden nicht mehr verfangen.

Diskutiert wird im Politbüro auch die Frage, wie mit der bevorstehenden Demonstration am 4. November in Berlin umgegangen werden soll. Verhindert kann sie nicht mehr werden. Also wird beschlossen, sie in eine Demonstration für die Stabilisierung der DDR zu verwandeln. Mehrere SED-Mitglieder sollen als Redner auftreten, Politbüromitglied Günter Schabowski, der ehemalige Spionagechef Markus Wolf und die Geheimwaffe der SED, Gregor Gysi.

 

 

 

November

 

Erster November 1989

Egon Krenz fliegt nach Moskau, um mit Michail Gorbatschow die sich zuspitzende Lage zu besprechen. Während des Gesprächs erteilt Krenz dem Gedanken an eine mögliche Wiedervereinigung eine Absage. Die Demonstrationen hätten seiner Meinung nach das Ziel, „das Leben in der DDR schöner zu machen“. Kein Wunder, dass niemand Krenz ernst nehmen konnte.

Wieder zu Hause erlässt der Partei- und Staatschef ohne Absprache einen Befehl, der den Sicherheitskräften ihre Aufgaben bei der zu erwarteten Großdemonstration in Berlin deutlich macht. Es solle unbedingt verhindert werden, dass „Demonstranten ins Grenzgebiet eindringen“. Im Falle eines solchen Eindringens seien die Demonstranten „durch Anwendung körperlicher Gewalt daran zu hindern, dass es in der Hauptstadt der DDR zu Grenzdurchbrüchen nach Berlin (West) kommt.“

Am Abend sind tausende Menschen mit Begeisterung dabei, das Leben in der DDR noch schöner zu machen: auf Großdemonstrationen in Neubrandenburg, Freital, Frankfurt/Oder und Ilmenau.

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