1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

Siebzehnter Oktober 1989 Nach der gestrigen Erschütterung durch die Bilder von der Leipziger Demonstration folgt auf der wöchentlichen Politbürositzung für SED-Chef Honecker die nächste Katastrophe.

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Er wird von seinen Genossen als Parteivorsitzender und Regierungschef kurzerhand abgesetzt. Sein engster Getreuer, Willy Stoph, stellt den Abwahlantrag. Selbst Stasichef Mielke bringt Argumente vor, warum Honecker gehen muss. Da der Noch-Parteichef die Sitzung leitet, muss er am Schluss die Frage, wer dafür sei, dass der Genosse Honecker von seinen Funktionen entbunden wird, selbst stellen und hebt aus alter Gewohnheit die Hand, um Einstimmigkeit zu gewährleisten. Mit Honecker müssen auch Günter Mittag und Joachim Herrmann, der Chefredakteur des Neuen Deutschland, gehen.

 

Honeckers Nachfolger wird Egon Krenz. Noch am selben Abend wendet er sich in einer einstündigen Fernsehansprache an die Bürger der DDR. Dabei begeht er seinen ersten Fauxpas. Er redet die Menschen, die gerade dabei waren, sich von der SED-Herrschaft zu emanzipieren, mit „Liebe Genossinnen und Genossen“ an. Aber selbst wenn er das nicht getan hätte, wäre er von den DDR-Bürgern niemals akzeptiert worden. Krenz war als langjähriger FDJ-Chef für die Demütigung der Jugend verantwortlich gewesen. Er war als oberster Wahlleiter der Hauptschuldige an der Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen. Schließlich hatte er das Massaker der chinesischen Genossen auf dem Platz des Himmlischen Friedens begrüßt. In der Rolle des Reformers war er von Anfang an unglaubwürdig.

Erstmals wird eine ADN-Meldung über die Demonstration in Leipzig in allen SED-Zeitungen abgedruckt: „Nach Friedensgebeten in fünf Leipziger Kirchen trafen sich gestern Zehntausende Bürger der Messestadt sowie aus dem Bezirk Leipzig und aus angrenzenden Territorien zu einer Demonstration. Der Zurückhaltung der Sicherheitskräfte und der eingesetzten Ordnungskräfte der Demonstranten ist es zu danken, dass es zu keinen Ausschreitungen kam.“

An der Humboldt-Universität in Berlin gärt es weiter. Mehr als 4.000 Studenten diskutieren über nötige Reformen. Sie fordern unabhängige Studentenvertretungen, eine unzensierte Studentenzeitung, freien Zugang zu Bibliotheken und zu Vervielfältigungstechnik.

Achtzehnter Oktober 1989

Die ganze Welt spricht über den Machtwechsel in der DDR. Auch andernorts hat man die zustimmende Reaktion des neuen Generalsekretärs auf das chinesische Massaker noch im Ohr. Die Erwartungen sind dementsprechend niedrig. Die westliche Presse reagiert zurückhaltend bis kritisch. Bundeskanzler Helmut Kohl und Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel begrüßen mit eignen Erklärungen die Ablösung Honeckers und fordern schnelle Schritte zur Demokratisierung der DDR. Das will der neue Generalsekretär unter Beweis stellen. Krenz räumt ein, dass es erhebliche Störungen im Verhältnis zwischen Parteiführung und Volk gibt. Er gibt zu, dass die Wirtschaft Mängel aufweist. Er kündigt ein neues Reisegesetz an und einen „Dialog“. Allerdings mit dem Ziel, den „Sozialismus in der DDR weiter auszubauen“. Krenz ist immer noch fest überzeugt: „Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition.“

Die Opposition kann er nicht überzeugen. Bärbel Bohley als ungekürte Sprecherin hält ihm seine politische Verantwortung für die Diktatur vor. Andere äußern sich ähnlich.

Das Neue Deutschland berichtet von einem Besuch einer NVA-Delegation bei den Sandinisten Nicaraguas und von einer „Diskussionsrunde mit Vertrauensleuten des FDGB“. Von dem entscheidenden Vertrauensvotum im Politbüro erfährt die Öffentlichkeit noch nichts.

 

 

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