1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Fünfzehnter Oktober 1989

Die Reformwelle erfasst jetzt auch die staatstragenden Schichten der DDR. An der Humboldt-Universität wird eine unabhängige Studentenvertretung gegründet. Damit ist die Vorherrschaft der Freien Deutschen Jugend auf diesem Gebiet gebrochen.

 

Außerdem wird bekannt, dass seit Öffnung der Grenze in Ungarn mehr als 40.000 Ausreisewillige in den Westen geflüchtet sind.

 

In Halle trifft sich eine Delegation des Neuen Forums mit Oberbürgermeister Eckhard Pratsch. Das Neue Forum verlangt eine Antwort auf seine Erklärung vom 12. Oktober, muss aber feststellen, dass die SED die Forderungen nach wie vor ignoriert. Der Oberbürgermeister verweist auf den illegalen Status des Neuen Forums und warnte vor weiteren Demonstrationen.

Der Demokratische Aufbruch fordert in einem Offenen Brief an den Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Übergriffe am 7. Und 8. Oktober.

In Bernau bei Berlin wird ein neuer Kreisverband der staatlich geförderten Freidenker gegründet, der sich als „gesellschaftliche Opposition“ bezeichnet. Das Manöver wird als Versuch der SED durchschaut, oppositionelle Kräfte in ihren Einflussbereich zu ziehen.

Die wirkliche Opposition blockiert derweil in Plauen mit 20.000 Menschen die riesige Bogenbrücke. Ebenfalls 20.000 fordern in Halle auf den Straßen den radikalen Wandel.

 

Der tschechische Schriftsteller Václav Havel darf nicht nach Frankfurt am Main reisen, um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegenzunehmen. Der französische Philosoph André Glucksmann hält die Laudatio und macht an einem Zitat von Havel klar, warum der Regimekritiker immer wieder Repressalien erlitt: „Die allumfassende Demütigung des Menschen wird für seine definitive Befreiung ausgegeben, … die Wahlposse für die höchste Form von Demokratie … Die Macht muss fälschen, weil sie in eigenen Lügen gefangen ist … Sie täuscht vor, dass sie niemanden verfolgt, sie täuscht vor, dass sie keine Angst hat, sie täuscht vor, dass sie nichts vortäuscht.“ Klarer kann man die Noch-Mächtigen nicht entlarven.

 

Sechzehnter Oktober 1989

Das Neue Deutschland titelt passend zu den Ereignissen des Tages: „Unser Land braucht die Ideen und Taten eines jeden Bürgers“.

Das gehen die Bürgerrechtler tatkräftig an. In Dresden treffen sich die zwanzig Bürgervertreter zum zweiten Rathausgespräch mit Oberbürgermeister Berghofer. Berghofer weist sie ab und erklärt lediglich, dass es keine weiteren Gespräche geben wird.

In Halle versammeln sich 2.000 Demonstranten auf dem Marktplatz. Sie stehen einem Großaufgebot von Sicherheitskräften gegenüber, die versuchen, durch Rempeleien und Schläge die friedliche Kundgebung zu Gewaltakten zu provozieren. Das gelingt nicht.

In Leipzig finden wieder in zwei Kirchen Friedensgebete statt. Danach demonstrieren 120.000 Menschen. Diesmal begleitet sie der Ruf „Wir sind das Volk!“ von Anfang an. Es geht das Gerücht um, dass Egon Krenz in der Stadt sein soll, um den Einsatz der Sicherheitskräfte persönlich zu überwachen. Wenn das der Fall gewesen sein sollte, war der Effekt gering.

Die Sicherheitskräfte sind mehrheitlich nicht mehr gewillt, gegen ihre Nachbarn, Freunde, Bekannte oder sogar die eigene Familie vorzugehen.

Einen Dialog haben die Machthaber in der DDR bisher konsequent verweigert. Nun zeigen die Demonstranten auf einer Vielzahl von Spruchbändern, was sie in diesem Dialog sagen wollten.

Staatschef Honecker verfolgt in Berlin in einer Direktübertragung des operativen Fernsehens der Staatssicherheit die Demonstration gemeinsam mit Stasichef Mielke und andern Politbüromitgliedern. Er ist erschüttert. Auch in der Bundesrepublik können die Menschen Bilder von der Montagsdemonstration sehen.

Walter Kempowski freut sich an diesen Aufnahmen und fragt sich, wann seine Heimatstadt Rostock wohl endlich aufwacht.

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