1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Elfter Oktober 1989

Politbüromitglied Egon Krenz will sich als Reformer profilieren und kündigt „Vorschläge für einen attraktiven Sozialismus an“. Er hatte diese Erklärung gegen den Widerstand von Honecker durchgesetzt. Das Problem ist, dass kaum noch jemand am SED-Sozialismus interessiert ist. Die Oppositionellen und die Demonstranten wollen endlich selbst bestimmen, wie sie leben wollen. Abgesehen davon ist die Erklärung ein Beweis, dass die Genossen immer noch nichts verstanden haben. Sie gestehen einige Probleme ein, machen einige Zugeständnisse, behaupten aber, das Politbüro wüsste sich mit der „großen Mehrheit des Volkes“ in seinem Handeln einig. Der Sozialismus auf deutschem Boden stünde nicht zur Disposition.

 

In Berlin demonstrieren Studenten der Humboldt-Universität vor der Mensa Nord. Sie fordern eine Reform des Hochschulsystems.

 

Am Abend kommt es in Halberstadt zu einer ersten großen Protestaktion. Unbeeindruckt von polizeilichen Drohungen sammeln Mitglieder des Friedenskreises um Pastor Johann-Peter Hinz in der Menge Unterschriften für die Zulassung des Neuen Forums.

 

Das Neue Deutschland titelt: „Neues Qualitätserzeugnis ging in Serienproduktion“. Das Papier von Egon Krenz war damit nicht gemeint, obwohl es massenhaft verteilt wurde.

 

Zwölfter Oktober 1989

Der Honecker-Clan begehrt zum letzten Mal auf. Er demonstriert seine Uneinsichtigkeit durch eine martialische Erklärung, die im Neuen Deutschland veröffentlicht wird. „Die sozialistische Arbeiter- und Bauernmacht ist von niemandem erpressbar“ lautet der Tenor des Elaborats, das unter dem staatstragenden Titel „Erklärung des Politbüros des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ noch mal alle Propaganda-Klischees der SED in sich vereint. Schuld an allem sei der „Imperialismus der BRD“, der die „konterrevolutionären Attacken“ der Opposition steuere und „verantwortungslos Ruhe und Ordnung“ im Land störe.

Die Erklärung war das offizielle Ergebnis der Debatten im Politbüro. Egon Krenz hatte den Text schon am 8. Oktober vorgelegt. Er war aber erst am 11. von Honecker freigegeben worden. Wer die Nerven hatte, sich durch diese Propaganda-Flut durchzuarbeiten, fand ganz versteckt auch Bedauern über den Exodus der Bürger. Der kurze Satz „Wir stellen uns der Diskussion“ wirkte dennoch wie heimlich hineingeschmuggelt. Von einem offenen Zugehen auf die Bürger konnte keine Rede sein.

Honecker spielt nach wie vor mit dem Gedanken, militärisch gegen die Demonstranten vorzugehen. Auf einem Treffen mit den Chefs der Bezirksparteileitungen warb er für seine harte Linie, traf aber nicht mehr auf einhellige Zustimmung. Mehrere Bezirkschefs lehnten eine gewaltsame Beendigung der Demonstrationen ab und plädierten dafür, auf die Erwartungen in Partei und Gesellschaft zu reagieren. Diese Formulierung zeigt, dass den Parteichefs bewusst war, wie tief die Sehnsucht nach Veränderung schon in die Reihen der SED eingedrungen war.

 

Das Neue Forum fordert in einer öffentlichen Erklärung die Schaffung von Voraussetzungen für einen Dialog, das heißt Freilassung der politisch Inhaftierten, Anerkennung des Demonstrationsrechts und Pressefreiheit.

Selbst das Europäische Parlament mahnt in einer Entschließung demokratische Reformen in der DDR an.

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