1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Neunter Oktober 1989

Montag. Die Spannung im ganzen Land ist mit Händen zu greifen. Es gibt nur ein Thema: Wird es eine dritte Montagsdemonstration in Dresden geben und bleibt sie friedlich?

Am Morgen pünktlich um neun Uhr empfängt Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer die zwanzig Demonstranten vom Vortag. Er beginnt das Gespräch, indem er der Gruppe jegliche Legitimation abspricht. Er betrachte die Zusammenkunft lediglich als ein Bürgergespräch, wie er sie häufig führe. Demonstrationen würden auch weiterhin aufgelöst. Immerhin kündigte er an, dass alle Gefangenen, die nicht gewalttätig gewesen seien, freigelassen würden. Danach vereinbart er einen weiteren Gesprächstermin für den 16. Oktober. Die Ergebnisse sind zwar mehr als mager, es stellt sich aber heraus, dass die Tatsache, dass ein SED-Funktionär überhaupt gezwungen war, mit den Demonstranten zu reden, schwerer wog als die bescheidenen Zugeständnisse. In der Kreuzkirche, der Versöhnungskirche, der Christuskirche und der Hofkirche mussten je zwei Informationsveranstaltungen stattfinden, um das Interesse der 24.000 Menschen zu befriedigen, die wissen wollten, was Berghofer gesagt hatte.

In vielen Städten und Gemeinden finden Fürbittgottesdienste statt, die von tausenden Menschen besucht werden. Allein der Magdeburger Dom zählt 4.000 Besucher.

Die Gedanken aller sind in Leipzig. Am Morgen war die Leipziger Volkszeitung mit einem martialischen Leserbrief erschienen: „Wie oft noch sollen sich diese Störungen der Ordnung und Sicherheit wiederholen? Weshalb bringt man diese Handlanger, die von der BRD aufgefordert werden, die innere Ruhe zu stören, nicht hinter Gitter, denn dort gehören sie hin?“ Das wird von allen potentiellen Friedensgebetbesuchern als Drohung verstanden. Die Stadt ist seit 14 Uhr erneut abgeriegelt. Gleichzeitig strömen etwa 5.000 „gesellschaftliche Kräfte“ in die Nikolaikirche. Sie sollen bis zum Beginn des Friedensgebets ausharren und keinen Raum für Demonstranten in der Kirche lassen. Zu spät merken sie, dass dies ein Fehler war. Die Menschen warten, wie in der Woche zuvor, einfach vor der Kirche, bis es losgeht. Zudem finden Friedensgebete noch in drei anderen Kirchen, der Reformierten Kirche, der Thomas- und der Michaeliskirche, statt. Als die Gebete beendet sind, haben sich etwa 70.000 Demonstranten formiert. Niemand hat mit einer solchen Zahl gerechnet. Gerüchte schwirren durch die Stadt. Augenzeugen haben Panzerwagen hinter dem Schauspielhaus gesehen und fotografiert. Die Krankenhäuser sollen Vorkehrungen getroffen und ihre Blutkonserven aufgestockt haben.

Die Einsatzleitung der Sicherheitskräfte weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Sie telefoniert nach Berlin, um Anweisungen zu erhalten. Parteichef Honecker ist nicht zu sprechen. Politbüromitglied Egon Krenz erbittet sich Bedenkzeit. Er lässt sich mit dem Rückruf Zeit. Inzwischen bewegt sich der gewaltige Zug mit den Rufen „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt“ auf dem Ring. Als der Hauptbahnhof erreicht wird, löst sich die Demonstration langsam auf. Vom Einsatzleiter der Sicherheitskräfte ist der Satz überliefert. „Sie sind rum. Nun braucht der Krenz auch nicht mehr anzurufen.“ Eine Viertelstunde später ruft Krenz doch noch an und billigt den Gewaltverzicht.

Die Nachricht, dass in Leipzig alles friedlich geblieben ist, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in der ganzen DDR. Unter den tausenden Besuchern in der Berliner Gethsemanekirche bricht Jubel aus, als von der Kanzel über die Geschehnisse in Leipzig berichtet wird.

Dem Berliner Oppositionellen Siegbert Schefke, der an einer Handkamera heimlich ausgebildet wurde, die vom späteren Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen Roland Jahn, der seit seiner gewaltsamen Entfernung aus der DDR die Opposition von Westberlin aus unterstützte, stammte, gelingt es mit einer dramatischen Flucht über die Dächer, seinen Stasi-Aufpassern zu entkommen und nach Leipzig zu fahren. Hier filmt er heimlich vom Turm der Reformierten Kirche die Demonstration. Noch am selben Abend werden die Aufnahmen nach Berlin geschmuggelt und gehen von dort aus über die Fernsehkanäle der Welt.

Westjournalisten hatten die Stadt nicht betreten dürfen.

Die Demonstration in Leipzig macht deutlich, wie tief der Riss zwischen Machthabern und Volk bereits ist. Honecker und Co. sind nicht mehr Herr im eigenen Haus.

 

Zehnter Oktober 1989

Keine größeren Demonstrationen oder Veranstaltungen heute. Das Land holt Atem. Partei- und Staatschef Honecker scheint weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Er empfängt eine Delegation aus China.

Aber intern ist die Hölle los. Auf der Politbürositzung wird so heftig diskutiert, dass sie verlängert und am nächsten Tag fortgesetzt wird. Am Ende seiner Krisensitzung fordert das Politbüro Parteichef Honecker auf, bis zum Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben. Der geplante Staatsbesuch in Dänemark muss deshalb ausfallen.

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