1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Achter Oktober 1989

Einem Kampfgruppenkommandeur aus dem Kreis Bitterfeld verdanken wir den einzigen mir bekannten Bericht aus Sicht der Regimestützen: Gegen sechs Uhr morgens klingelt bei ihm das Telefon. Alarm! Als er in der Unterkunft seiner Hundertschaft eintrifft, macht ihn sein Vorgesetzter mit den Vorfällen der vergangenen Nacht in Hainichen vertraut. Die Bewachung läge momentan in der Verantwortung der Genossen der Hundertschaft des VEB Barkas Hainichen. Da aber Konflikte aufgetreten seien, müsste dringend eine Ablösung durch eine ortsfremde Hundertschaft erfolgen.

Wenig später fahren zwanzig Freiwillige unter der Führung des Kommandeurs in Zivil und ohne Bewaffnung mit dem für solche Einsätze stets bereitstehenden LKW nach Hainichen. Sie treffen noch vor acht Uhr im Ziegelwerk ein und werden von der örtlichen Kampfgruppe erleichtert begrüßt. „Nur weg hier“ war deren Devise. An die Ablösung werden Schlagstöcke ausgegeben, dann wird die Bewachung der zugeführten jungen Leute, darunter eine Frau, übernommen. Sie sind deutlich unter 25 Jahre alt und stehen zu diesem Zeitpunkt bereits seit ein Uhr nachts mit dem Rücken zur Wand,  im Abstand von gut einem Meter. Sie dürfen nicht miteinander reden. Zwei Volkspolizisten geben Anweisungen, wie sich die Kämpfer zu verhalten hätten. Bei kleinsten „Vergehen“ (miteinander reden, sich Anweisungen widersetzen, sich hinsetzen) solle sofort vom Schlagstock Gebrauch gemacht werden.

Der Kommandeur quittiert den Befehl, setzt ihn aber nicht um. Nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil ihm das völlig überzogen vorkam. Er weist seine Leute an, den Schlagstock zwar hinten im Gürtel zu tragen, aber nur im Falle eines Angriffes als letzte Notwehr einzusetzen. Es kommt zu keiner weiteren Gewalt gegen die Jugendlichen, wobei die Inhaftierung und die Umstände ja schon Gewalt genug waren. Das wurde dem Kommandeur aber erst später klar.

Den freiwilligen Aufpassern im Ziegelwerk wird die Situation bald hochgradig unangenehm. Sie sagen ihrem Kommandeur, wenn sie geahnt hätten, was an diesem Tag auf sie zukommen würde, wären sie nicht mitgefahren. Unmittelbar nach diesem Einsatz treten viele Männer aus der Kampfgruppe aus. Sie wollen nie wieder gegen ihre Mitmenschen eingesetzt werden.

Im Laufe des Tages wird der Kommandeur von mehreren Jugendlichen angesprochen. Sie wollen zumindest Auskunft darüber, was weiter mit ihnen geschehen würde, wollen, dass ihre Angehörigen informiert werden. Außerdem haben sie Hunger und Durst. Der Gang zur Toilette ist demütigend, ein Aufpasser muss dabei sein. Nach einer Nacht auf dem kalten Gang frieren sie erbärmlich. Der Kommandeur weiß keine Antwort.

Irgendwann rutscht ein Jugendlicher nach dem anderen auf dem kalten Fußboden vor Erschöpfung in sich zusammen. Die Anweisung des Volkspolizisten, mit dem Schlagstock dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen wieder aufstünden, ignoriert der Kommandeur.

Auf seine drängenden Fragen nach dem „Wie weiter?“ bekommt keine Antwort.

Gegen Mittag fährt ein Wagen der Volkspolizei vor, um zwei der festgehaltenen Jugendlichen zum Verhör abzuholen. Zwei Kämpfer müssen zur Bewachung mit. Als sie wiederkommen, erzählen sie von Schlägen, mit denen die Jugendlichen empfangen wurden. An die Wand stellen, Beine breit machen und erst mal eine mit dem Schlagstock drüberziehen. Das war offenbar Teil des Verhörs.

Am frühen Nachmittag gibt es dann endlich etwas zu essen. Auch die Kampfgruppe hat bisher nichts bekommen. Die Jugendlichen müssen unter Bewachung essen, getrennt voneinander, jeder an einem anderen Tisch.

Die Kampfgruppen-Mitglieder bedrängen ihren Kommandeur immer häufiger mit dem Wunsch, nach Hause zu wollen.

Gegen 15 Uhr erscheint eine Gruppe Jugendlicher am Tor und will Auskunft über die Inhaftierten. Sie würden nicht eher gehen, bis sie dazu Informationen bekommen hätten. Der Kommandeur versucht, sie zum Weggehen zu bewegen. Noch während er mit ihnen spricht, fährt ein Wagen vor, von dem Polizisten abspringen und die Jugendlichen einkreisen. Nach der Drohung, selbst festgesetzt zu werden, entfernen sich die jungen Leute. Ihre Freunde in der Ziegelei bieten unterdessen ein Bild vollkommener Erschöpfung.

Gegen 16.30 Uhr erscheint ein Staatsanwalt. Im Beisein des Kommandeurs werden die Jugendlichen einzeln vorgeführt. Es wird ihnen eine Erklärung zur Unterschrift vorgelegt, gut behandelt worden zu sein. Nach einer dringenden Ermahnung, sich ja nicht wieder öffentlich zu äußern, sonst kämen sie nicht wieder so glimpflich davon, waren sie endlich frei.

Gegen 17 Uhr sammelt der Kommandeur seine Truppe und rückt ab.

 

Die gewalttätigen Übergriffe der Sicherheitskräfte sind für zahlreiche Künstler und ihre Verbände Anlass, sich mit den Demonstranten zu solidarisieren: „Schluss mit der Gewalt gegen friedliche Demonstranten“ wird in einem „Aufruf im 41. Jahr der DDR“ von der Sprechergruppe junger Theaterschaffender gefordert.

In Jena drohen die Arbeiter einer Großbäckerei mit Streik, wenn die Prügelei auf den Straßen nicht aufhören sollte.

In zahlreichen Städten, großen und kleinen, gibt es wieder Demonstrationen und Proteste: Ilmenau, Lindow, Chemnitz, Plauen, Berlin. In der Hauptstadt versammeln sich die Menschen erneut an der Gethsemanekirche. Vor der Kirche und in den Fenstern der umliegenden Häuser brennen unzählige Lichter. Die Polizei kesselt die Demonstranten ein und fordert sie zum Abzug durch eine schmale Gasse von Sicherheitskräften auf. Die Menschen setzen sich daraufhin auf das Straßenpflaster. Als die Sicherheitskräfte den Demonstrationszug stürmen, werden alle, die nicht rechtzeitig in die Kirche flüchten konnten, brutal attackiert. An den „Zuführungspunkten“ für die zahlreichen Verhafteten kommt es wieder zu Gewaltorgien. Viele der Sicherheitskräfte sollen nach Berichten der Betroffenen alkoholisiert gewesen sein.

Ab dem Nachmittag gibt es auch in Dresden wieder Demonstrationen. Die SED versucht, sogenannte „gesellschaftliche Kräfte“ dafür zu gewinnen, dass sie die Demonstranten von einem Verzicht auf ihre Aktion überzeugen. Bei diesen „gesellschaftlichen Kräften“ handelt es sich um SED-Mitglieder, die sich unter die Demonstranten mischen sollen. Von den 800 angeforderten Kadern erscheint aber kaum die Hälfte. Und die erschienen sind, haben keinen Erfolg. Gegen 20 Uhr wird ein Teil der Demonstranten eingekesselt. In dieser Situation gelingt es zwei Geistlichen, durch Verhandlungen mit dem Einsatzkommandeur einen Kompromiss zu erreichen: Die Demonstranten werden abziehen, wenn Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer und Bezirksparteichef Modrow eine Gruppe von Abgesandten empfangen. Von den Demonstranten werden 20 Menschen benannt, die am nächsten Tag um neun Uhr im Rathaus mit den SED-Funktionären sprechen sollen. Die Gruppe der 20 ist geboren, die einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung in Dresden nehmen wird.

 

Während es bei den Sicherheitskräften auf der Straße zu wachsenden Zweifeln an ihrem Einsatz gegen die Demonstranten und sogar zu vereinzelten Befehlsverweigerungen kommt, ist Staatschef Honecker noch immer uneinsichtig. Er fordert die Sekretäre der SED-Bezirksleitungen allen Ernstes auf, die bevorstehenden Montagsdemonstrationen mit allen Mitteln zu verhindern. Sein Stasichef Mielke befiehlt die volle Dienstbereitschaft seiner Truppe und die Bereitstellung von Reserven zur Auflösung von Demonstrationen. So gerüstet sehen sie dem Montag mit Siegeszuversicht entgegen.

Die Schriftstellerin Christa Wolf bittet ihre Landsleute im Radio darum, zu überlegen, wem die Demonstrationen nützen, da sie nur die Führung verhärten würden.

 

In Lettland spricht sich der II. Kongress der Volksfront für die staatliche Unabhängigkeit und die Schaffung einer demokratischen, parlamentarischen Republik aus.

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