1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

Veröffentlicht:
von

 

Siebter Oktober 1989

Vierzig Jahre DDR sollen gefeiert werden und Honecker ist entschlossen, sich seine Feierlichkeiten nicht stören zu lassen. In Berlin findet die traditionelle Militärparade, in Rostock die Flottenparade statt. Eine Welle von Ordensverleihungen überschwemmt das Land. Mancherorts muss die Ehrung ausfallen, weil der Geehrte nicht erscheint. Die Festreden nehmen in den Städten und Dörfern einen ungewöhnlichen Verlauf, weil die Festredner immer wieder durch höhnische Zurufe aus der Menge unterbrochen werden, sobald sie die Erfolge des Sozialismus preisen. An vielen Orten kommt es zu Gegendemonstrationen oder Veranstaltungen der Opposition.

In Gotha werden während eines Friedensgebetes symbolisch vierzig Kerzen als Ausdruck enttäuschter Hoffnungen gelöscht.

In Erfurt versammeln sich 2.000 Menschen in der Kaufmannskirche.

In Leipzig kommt es erstmals ohne Friedensgebet zu einer Demonstration. Seit dem Vormittag kommen immer mehr Menschen um die Nikolaikirche herum zusammen. Ständig versucht die Polizei, in Kampfanzügen und mit Knüppeln bewaffnet, die Ansammlung zu zerstreuen, indem sie viele Anwesende verhaftet und auf bereitstehenden Lkws abtransportiert. Trotzdem sind es am Nachmittag mehr als 5.000 Menschen. Erst am Abend kann die Demonstration durch die Sicherheitskräfte endgültig aufgelöst werden.

In Dresden ziehen ab 20 Uhr mehr als 10.000 Menschen durch die Stadt. Vor dem Rathaus, wo eine Festveranstaltung mit internationalen Gästen stattfindet, ruft die Menge: „Wir sind das Volk!“ Zunächst halten sich die Sicherheitskräfte zurück. Doch am späteren Abend kommt es erneut zu Prügelorgien und Verhaftungen.

Das sächsische Plauen wird zum Schauplatz der eindrucksvollsten Demonstration des Tages. Obwohl es heftig regnet, kommen auf dem Theaterplatz, auf dem eigentlich das offizielle Volksfest stattfinden soll, nahezu 20.000 Menschen zusammen. Bald rücken Wasserwerfer an und die Polizisten zücken ihre Schlagstöcke. Der Demonstrationszug bewegt sich in Richtung Rathaus. Dort sind Maschinengewehre aufgestellt. In dieser Situation gelingt es dem Superintendenten Küttler, beruhigend auf Demonstranten und Sicherheitskräfte einzuwirken. Die Konfrontation bleibt aus. Erst am späten Abend werden 60 Personen verhaftet und teilweise schwer misshandelt.

In Karl-Marx-Stadt wird ein Schweigemarsch von 1.000 Bürgern gewaltsam aufgelöst.

Auch in Arnstadt und Ilmenau werden Demonstranten verprügelt und verhaftet.

All das findet praktisch unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit statt. Westliche Journalisten sind im ganzen Land nicht zugelassen. Nur die Bilder aus Berlin gehen um die Welt. Hier werden die Vorgänge von in der DDR akkreditierten Journalisten dokumentiert. Es beginnt auf dem Alexanderplatz, wo, wie in jedem Monat, die Proteste gegen die Wahlfälschung stattfinden. Trotz zahlreicher Polizeiübergriffe zieht die Menge bis vor den Palast der Republik, wo der Festakt zum Jahrestag der Republik in vollem Gange ist. Vor dem Palast hatten sich schon weitere Demonstranten versammelt. Vereint rufen die Menschen: „Wir sind das Volk“ und „Demokratie, jetzt oder nie“.

Der rumänische Diktator Ceaușescu kommt zu spät zum Bankett, weil seine Staatskarosse Umwege fahren musste. Die sogenannte „Protokollstrecke“, auf der sich Regierungsfahrzeuge sonst ungehindert bewegen, ist von Demonstranten blockiert.

Stasichef Mielke muss die Festivität dagegen früher verlassen. Als er die Demonstranten vor dem Palast sieht, ordnet er schreiend vor Wut die gewaltsame Auflösung des Zuges an. Unter dieser Drohung ziehen die Menschen gegen 18 Uhr zur Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg. Als sie am Gebäude des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes vorbeikommen, rufen sie „Lügner, Lügner!“. Festnahmen und Prügeleien begleiten die Demonstranten auf der ganzen Strecke. An der Gethsemanekirche kommen nur etwa 1.500 Menschen an. Die Polizei sperrt das Gebiet weiträumig ab. Dann setzt sie Wasserwerfer, Hunde, Schlagstöcke und Tränengas ein. Zahlreiche Verhaftete können in kein Gefängnis mehr eingeliefert werden. Sie müssen stundenlang in Kellern und Garagen stehen. Viele werden bei den Verhören geschlagen. In Wartenberg müssen Gefangene durch ein mit Gummiknüppeln bewaffnetes Polizeispalier rennen, wobei willkürlich zugeschlagen wird. Andere müssen sich nackt ausziehen und Liegestütze machen, wobei sie laut mitzuzählen haben. Im Eifer des Gefechts oder wegen Übermüdung werden auch Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit traktiert, die in der Menge ihren geheimen Dienst verrichtet hatten. Der Bekannteste ist IM „Heiner“, ein Theologieprofessor mit Sympathien für die SED.

Der Schriftsteller Peter Schneider berichtet von einem hauptberuflichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, der im angetrunkenen Zustand erzählt habe, ihm und seinen Genossen seien bei der Vorbereitung auf die zu erwartenden Unruhen am 7. Oktober für jeden zugeführten, also festgenommenen Demonstranten Prämien in Aussicht gestellt worden. Zur Erhöhung der Motivation soll es sich um Prämien in harter Währung gehandelt haben. Immerhin wäre das eine Erklärung für den wütenden Eifer, den die Sicherheitskräfte bei ihrem Einsatz an den Tag legten.

Auch in der tiefsten Provinz wird der Unmut mit den Verhältnissen immer offener geäußert: Im Kulturhaus in Hainichen, Kreis Bitterfeld, findet ein Tanzabend statt. Zu später Stunde, auf dem Höhepunkt des Vergnügens, rufen Jugendliche: „Freiheit, Freiheit! Neues Forum zulassen!“ Daraufhin kommt ein Mann auf die Bühne und fordert die Jugendlichen auf, diese staatsfeindlichen Äußerungen zu unterlassen, sonst müsste er die Veranstaltung beenden. Die Jugendlichen antworten mit „Stasi raus!“. Gleich danach wird die Veranstaltung aufgelöst. Die Teilnehmer werden vor dem Kulturhaus von Polizisten und Männern in Zivil empfangen und zum sofortigen Heimgang aufgefordert. Stattdessen formiert sich eine Gruppe spontan zu einer Demonstration, zieht durch die Innenstadt und skandiert Parolen für Freiheit und gegen das Regime. Der Zugriff erfolgt schnell und überraschend. Einigen gelingt es, zu fliehen. Die anderen landen im „Zuführungspunkt“, einem einsam gelegenen ehemaligen Ziegelwerk. Die vermuteten Rädelsführer kommen direkt in das Volkspolizeirevier zum Verhör.

Abseits von all diesem Trubel findet in einem Pfarrhaus in Schwante bei Berlin eine entscheidende Neugründung statt. Die SDP wird aus der Taufe gehoben. Wie es sich für eine ordentliche Partei gehört mit Statut und Grundsätzen. Erster Sprecher wird Stephan Hilsberg, Geschäftsführer Ibrahim Böhme, der bald darauf zum Parteivorsitzenden avanciert. Damit gibt es erstmals seit der Zwangsvereinigung von KPD und SPD 1946 wieder eine eigenständige sozialdemokratische Partei auf dem Boden der DDR.

Mehr lesen im Buch:

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang