1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Vierter Oktober 1989

Die DDR-Partei- und Staatsführung gibt zum Massenexodus ihrer Landeskinder eine Erklärung ab. Es handele sich bei der Massenflucht um die Verführung junger Leute, die noch keine Erfahrungen mit dem Kapitalismus gemacht hätten. Den Flüchtlingen werde „keine Träne nachgeweint“ heißt es. Auf die Idee, dass ihre Erfahrung mit dem Sozialismus die jungen Menschen in die Flucht treibt, kommen Stoph und Genossen nicht. Deshalb entscheiden sie sich für Zwangsmaßnahmen: Der visafreie Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei wird ausgesetzt. Jetzt können die DDR-Bürger das Land nicht mehr aus eigenem Entschluss verlassen. Sie müssen um Genehmigung ersuchen, egal, in welche Richtung sie sich bewegen wollen. Es ist, als ob man einen Dampfkessel hermetisch verriegelt.

In der Prager Botschaft der Bundesrepublik befinden sich inzwischen fast 10.000 Menschen. Die hygienischen Verhältnisse werden unhaltbar. Deshalb wird diesen „Nachzüglern“ ebenfalls gestattet, per Zug über die DDR in den Westen auszureisen. Als die DDR-Bürger davon erfahren, finden sie sich zu Zehntausenden an der Bahnstrecke ein. Diesmal beschränken sich viele nicht nur aufs Rufen und Winken, sondern versuchen, die Züge zu stürmen. In Dresden drängen etwa 20.000 Menschen in den Hauptbahnhof und skandieren: „Wir wollen raus!“ Die im und um den Bahnhof verteilten Sicherheitskräfte versuchen, Bahnsteige und Gleisanlagen mit Wasserwerfern zu räumen. Mit Hunden und Schlagstöcken gehen sie gegen alle vor, die nicht weichen wollen. Es kommt zu den schwersten Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und Polizeikräften seit dem 17. Juni 1953. Es gibt Dutzende Verwundete auf beiden Seiten. Ein Polizeiwagen geht in Flammen auf. Mehr als 1.300 Menschen werden festgenommen. Das sprengt die Dimension von Dresdens Gefängnissen. Die Verhafteten müssen über den ganzen Bezirk verteilt werden. Selbst die Nachbarbezirke müssen Inhaftierte aufnehmen. Währenddessen gehen die Bilder von den Prügelszenen um die Welt.

Bundeskanzler Kohl, selbst krank, hält sich telefonisch auf dem Laufenden.

 

Abseits des Geschehens trifft sich das Politbüro mit „Widerstandskämpfern und Aktivisten der ersten Stunde“, wie das Neue Deutschland berichtet.

Die Widerstandskämpfer gegen das Politbüro treffen sich ebenfalls. In Weimar findet eine Veranstaltung des Demokratischen Aufbruchs und des Neuen Forums statt, an der 1.200 Menschen teilnehmen. Viele berichten, dass sie tagsüber mit hunderten anderen Bürgern in den Pass- und Meldestellen gegen die Reisebeschränkungen nach Polen, Ungarn und in die ČSSR protestiert haben. In der Altendorfer Kirche in Nordhausen findet trotz polizeilicher Abriegelung ein Friedensgebet statt. Ein Mann berichtet, dass er unter Protest die Kampfgruppen verlassen habe, weil sie seit einer Woche verstärkt an Schlagstöcken ausgebildet würden.

Selbst die bisher staatstragenden Künstler werden immer mutiger. In der Berliner Volksbühne fordern sie in einer öffentlichen Veranstaltung die sofortige Legalisierung der Oppositionsgruppen. In einer Privatwohnung wird von Vertretern dieser Gruppen zur gleichen Zeit eine „Gemeinsame Erklärung“ verabschiedet, die später als Wahlplattform der Opposition bezeichnet werden wird. Darin werden freie und geheime Wahlen unter UNO-Kontrolle gefordert. Außerdem werden alle Bürger aufgerufen, sich an den nötigen Reformen zu beteiligen. „Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten.“ Leider führte diese Erklärung nicht zu einem gemeinsamen Handeln.

 

Fünfter Oktober 1989

Massenverhaftungen in Magdeburg: Auf einer Demonstration für Reisefreiheit und Reformen mit 800 Teilnehmern werden 250 Menschen verhaftet.

Massenverhaftungen in Dresden: Obwohl die Demonstration im Gegensatz zum Vortag äußerst friedlich verläuft, gehen tausende Sicherheitskräfte, die in der Stadt zusammengezogen worden sind, mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. Die umliegenden Gefängnisse sind nach wie vor überfüllt. An den neu eingerichteten „Zuführungspunkten“, den Sammelstellen für die Verhafteten, herrschen chaotische Zustände, die immer wieder zu Gewaltausbrüchen gegen die Gefangenen führen.

Verhaftungen in Plauen: In der hiesigen Markuskirche hat Superintendent Thomas Küttler, der offen das Neue Forum unterstützt, ein Friedensgebet angesetzt. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Termins wird Küttler vom Oberbürgermeister der Stadt aufgefordert, diese „Provokation“ zu unterlassen. Am Nachmittag wird die Kirche weiträumig abgesperrt. Abends werden viele, die sich am Gebet beteiligen wollen, schon auf dem Weg dorthin verhaftet. Trotzdem sind zu Beginn des Gebetes 2.000 Menschen in der Kirche versammelt. Draußen stehen Hunderte, die drinnen keinen Platz mehr finden. Die Andacht muss wiederholt werden.

In Leipzig bereiten sich die Behörden auf neue Demonstrationen vor und versuchen, Druck auf die Kirchenleitung auszuüben, damit auf weitere Friedensgebete verzichtet wird. Die Kirchenvertreter weisen dieses Ansinnen zurück.

 

Beunruhigt registrieren die Zeitungsleser Berichte über das enge, freundschaftliche Verhältnis zu China, wo im Juni die Reformbewegung blutig niedergeschlagen wurde. Man befürchtet eine „chinesische Lösung“, die, wie man heute weiß, von Honecker und seinen Getreuen auch ins Auge gefasst wurde.

In Berlin wird nun auch die US-Botschaft von Volkspolizisten hermetisch abgeriegelt, wie es vorher schon mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland gemacht wurde. Hier haben potentielle Botschaftsbesetzer keine Chance mehr, durchzukommen.

In Prag dagegen sind erneut 3.000 Flüchtlinge in der Botschaft. Da der visafreie Reiseverkehr gestoppt ist, haben viele heimlich die Grenze überquert.

 

Das Neue Deutschland berichtet über die Inbetriebnahme neuer Produktionsanlagen und die eintreffenden Gäste zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR.

 

Sechster Oktober 1989

Am Vorabend des 40. Geburtstags der DDR brodelt es im Land. Die SED macht vor lauter Angst die Schotten dicht. Sie lässt unter Bruch des Viermächteabkommens die Grenzübergänge in Berlin für Bundesdeutsche und Westberliner schließen. Sie will keine Zeugen.

Kampfgruppen werden quer durch das Land verlegt und die Gerüchte, Polizei und Armee würden zuschlagen, werden immer lauter. Sie bekommen Nahrung durch Äußerungen wie die eines Kampfgruppenkommandeurs in der Leipziger Volkszeitung, dass die Werte und Errungenschaften des Sozialismus geschützt werden müssten – „notfalls mit der Waffe in der Hand“. Der Satz macht blitzschnell die Runde im Land.

Trotzdem versammeln sich am Abend die Menschen in vielen Städten, um zu demonstrieren. In Dresden sind es Zehntausend. Als Polizei und Armee auf die Demonstranten einprügeln, verzichten sie auf Gegenwehr. Sie rufen stattdessen symbolisch nach Gorbatschow und zünden Kerzen an. Auf der Bühne des Dresdener Staatsschauspiels verliest der Schauspieler Joachim Zschocke eine Unterstützungserklärung für die Opposition, in der Dialog, Reisefreiheit und freie Wahlen gefordert werden. Von nun an wird die Erklärung jeden Abend vor der Vorstellung verlesen.

Erstmals finden auch in Görlitz, Lugau und Coswig Friedensgebete statt.

In Saalfeld kommen zu dem traditionellen Freitagsgebet über tausend Menschen, weil sich dort der Demokratische Aufbruch vorstellt.

In Berlin findet im Stadtjugendpfarramt eine „Zukunftswerkstatt“ unter der Frage „Wohin DDR?“ statt. Über zweitausend Menschen kommen in die Erlöserkirche, um mit der Opposition die Perspektiven für das Land zu diskutieren. Die Stasi steht hilflos daneben.

Am Abend beginnen die Feierlichkeiten zum „Tag der Republik“ mit einem Fackelzug der FDJ vor dem Palast der Republik in Berlin. Honecker steht neben Gorbatschow, als die FDJler im Laufschritt vorbei defilieren. „FDJ, SED – alles ist bei uns okay!“, müssen die Jugendlichen rufen. Alles okay? Nicht ganz. Die Stasi entdeckt, dass in der Menge die Texte des Neuen Forums verteilt werden. Zwei junge Männer müssen aus dem Demonstrationszug entfernt werden, weil auf ihrem Schild „Sch… Staat!“ zu lesen war.

Nach einem Treffen des Neuen Forums in Halle werden etliche Mitglieder auf dem Heimweg verhaftet und die ganze Nacht verhört.

In Berlin geben die Initiatoren des Neuen Forums eine weitere Erklärung heraus. Sie richtet sich vor allem an die Mitglieder der SED: „Wenn in einer Führungspartei mit zwei Millionen Menschen die innere Diskussion und Zusammenarbeit verweigert wird, dann muss es allerdings zu qualvollen und unerträglichen Spannungen kommen. Die Diskussion, die die SED führen muss, ist ein wichtiger Teil der gesamtgesellschaftlichen Diskussion, die unser Land braucht.“

 

In Budapest beginnt der XIV. Parteitag der USAP, auf dem zwei Tage später die Auflösung der Kommunistischen und die Gründung der Ungarischen Sozialisten Partei beschlossen und vollzogen werden. Die USP versteht sich als Reformpartei, die sich für eine auf vielfältigen Eigentumsformen beruhende Marktwirtschaft und einen demokratischen Sozialismus einsetzen will.

Auch in Polen legt die Regierung ein Wirtschaftskonzept vor, das auf den schnellen Übergang zur Marktwirtschaft gerichtet ist.

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