1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Oktober

 

Erster Oktober 1989

In Ostberlin wird unter dramatischen Umständen eine weitere Oppositionsgruppe gegründet: der Demokratische Aufbruch (DA). Das Treffen war mit größter Vorsicht vorbereitet worden, denn man wusste, dass die Staatssicherheit eine weitere Gründung unbedingt verhindern wollte. Offiziell hieß es, die Gründungsversammlung würde in der Samaritergemeinde in Berlin bei Pfarrer Eppelmann stattfinden. Etwa achtzig Menschen fanden sich im Gemeindehaus ein, das sofort von der Staatssicherheit abgeriegelt wurde. Bei Eppelmann wurden an die Anwesenden Zettel mit der Adresse von Ehrhart Neubert verteilt. In Neuberts Wohnung kamen siebzehn Leute an, die anderen wurden von der Staatssicherheit aufgehalten. Diese Siebzehn gründeten dann den DA und erarbeiteten eine programmatische Erklärung, die noch am gleichen Abend über Telefon an westliche Journalisten weitergegeben wurde. Im Vergleich zum Neuen Forum strebte der Demokratische Aufbruch eine höhere Verbindlichkeit an, verzichtete aber ebenfalls darauf, sich als Partei zu formieren. Ein paar Wochen nach der Gründung, als die Stasi nach dem Mauerfall bereits machtlos geworden war, erschien eine Physikerin bei Ehrhart Neubert, die sich zuvor bei der SDP umgesehen und auf Mitwirkung dort verzichtet hatte. Der DA lag ihr mehr. Sie entschloss sich zum Mitmachen und wurde von Ehrhart Neubert als Pressesprecherin eingestellt. So begann die politische Karriere von Angela Merkel.

 

Zweiter Oktober 1989

Es ist Montag. Der Tag des traditionellen Montagsgebets, an das sich heute nach dem Willen der SED nicht wieder eine Demonstration anschließen soll. Die Stadt gleicht einem Heereslager. Die Zufahrtsstraßen und die Bahnhöfe werden überwacht. Besonders Jugendliche, die in die Stadt wollen, werden daran gehindert. Ab 13 Uhr sind die Sicherheitskräfte, verstärkt durch Kampfgruppen, in Bereitschaft. Seit Tagen gab es eine intensive Pressekampagne gegen das Montagsgebet. Nun müssen SED-Kader, Universitätspersonal, Funktionäre der Blockparteien und Betriebsgruppen auf der Straße gegen das Montagsgebet protestieren. Die Passanten begegnen diesen staatlichen Demonstranten mit Spott oder Mitleid.

Trotz der weiträumigen Abriegelung der Nikolaikirche finden sich mehr als 10.000 Menschen in und an der Kirche ein. Auch in der Reformierten Kirche findet ein Gebet statt. In beiden Kirchen wird in leidenschaftlichen Predigten der „Aufbruch aus der Feigheit“ proklamiert. Gleichzeitig gibt es wieder Aufrufe zur unbedingten Gewaltfreiheit. „Es kommt jetzt nicht nur darauf an, sich ein Herz zu fassen“, sagt Jugendpfarrer Klaus Kaden in der Nikolaikirche, „sondern auch in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner sein Herz zu bewahren.“ Nach den Gebeten formiert sich ein Demonstrationszug von mehr als 15.000 Menschen. Wie in der Vorwoche sind die Sicherheitskräfte hilflos. Absperrungen werden einfach umgangen oder durchbrochen. Der Verlauf der Demonstration kann nicht mehr gesteuert werden. Ein Teil der Demonstranten sammelt sich vor der Thomaskirche. Hier kommt es zum gewaltsamen Eingreifen der Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken und Hunden. Auch Passanten werden beeinträchtigt. Die Menschen rufen anfangs: „Wir sind keine Rowdys!“ So waren die Demonstranten in den letzten Tagen in der Presse tituliert worden. Weil das als Ruf recht holprig klang, kam ein Unbekannter auf die Idee zu rufen: „Wir sind das Volk!“ Der Schlachtruf der Friedlichen Revolution war geboren. Er verbreitete sich in Windeseile. Kombiniert mit „Keine Gewalt!“ wirken die Parolen auf die Sicherheitskräfte regelrecht entwaffnend. Sie haben ohnehin das Problem, gegen ihre eigenen Freunde, Bekannten und Nachbarn vorgehen zu müssen und keineswegs gegen Feinde, wie ihnen eingeredet worden war. Nun bröckelte die Legitimation der SED auch bei denen, die dem Machterhalt der Partei dienen sollten.

 

In der Gethsemanekirche in Berlin beginnt eine Mahnwache aus Protest gegen die Verhaftungen der letzten Wochen.

 

Dritter Oktober 1989

Der Leipziger Volkszeitung sind die Ereignisse des Vortags gerade fünfundzwanzig Zeilen wert. Der Tenor der Berichterstattung war der gleiche wie bei der Hetzkampagne gegen die Montagsgebete in den Tagen zuvor. Personengruppen hätten sich zusammengerottet, um die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu stören: „Den Maßnahmen der Deutschen Volkspolizei wurde aktiver Widerstand entgegengesetzt, Volkspolizisten angegriffen und Einsatzfahrzeuge beschädigt … Der Einsatz von Hilfsmitteln der Deutschen Volkspolizei war unumgänglich. Es waren Zuführungen erforderlich. Die strafrechtlichen Konsequenzen werden geprüft.“ Der Sender Leipzig verschwieg die Vorgänge. Das hatte immerhin den Vorteil, dass man die Demonstranten nicht verurteilen musste.

 

Kaum haben die Ausreisewilligen die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Prag und Warschau verlassen, drängen neue Flüchtlinge nach. Binnen eines Tages war die Botschaft in Prag wieder mit etwa 3.000 Menschen gefüllt. Die DDR-Führung reagiert auf die Flüchtlingskrise, indem sie die Ausreise in die sozialistischen Bruderländer erschwert oder verhindert. Nachdem es fast unmöglich geworden ist, noch ein Ausreisevisum nach Ungarn zu bekommen, wird auch der visafreie Reiseverkehr nach Polen ausgesetzt. Ab sofort müssen wieder Visa beantragt werden, die genehmigt oder verweigert werden können.

Partei- und Staatschef Honecker bekommt immer noch internationalen Besuch. Der britische Verleger Robert Maxwell ist zu Gast und tröstet Honecker über den Legitimationsverlust bei seinem Volk hinweg.

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