1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Siebenundzwanzigster September 1989

Die Leipziger SED-Bezirksleitung beschließt einen Maßnahmekatalog zur Unterdrückung der Opposition. Eine weitere Montagsdemonstration soll nach dem Willen der Genossen nicht stattfinden. Währenddessen gibt es immer größeren Zuspruch für die neu gegründeten Bürgerrechtsgruppen. Die Bezirksvorstände der Verbände der Bildenden Künstler in Dresden und Rostock solidarisieren sich mit dem Neuen Forum und fordern seine Legalisierung.

 

In Ungarn verabschiedet das Parlament eine Erklärung, in der die Teilnahme ungarischer Truppen an der militärischen Intervention gegen den Prager Frühling 1968 verurteilt wird. Außerdem wird ein neues Auswanderungsgesetz beschlossen und alle Straftatbestände wegen illegalen Verlassens des Landes werden aufgehoben. Es gibt ab sofort uneingeschränkt Pässe für alle.

 

Achtundzwanzigster September 1989

Der Beschluss der SED-Kreisleitung vom Vortag, keine weiteren Montagsdemonstrationen mehr zuzulassen, soll von der Staatssicherheit umgehend in die Tat umgesetzt werden. Den Pastoren Christian Führer und Christoph Wonneberger von der Nikolaikirche wird mit Inhaftierung gedroht, wenn sie nicht mit ihrem politischen Engagement aufhören.

Die SED-Führung wird so kurz vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR immer nervöser. Man will Ruhe im Land. Es soll ein großes Fest werden. Das Neue Deutschland zählt schon mal die Politiker auf, die sich zu den Feierlichkeiten angesagt haben. Erwartet wird auch Michail Gorbatschow.

Daneben gibt es weiter Meldungen aus dem heilen sozialistischen Alltag: „Inbetriebnahme neuer Anlagen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität.“

 

Neunundzwanzigster September 1989

Eine außerordentliche Politbürositzung beschließt, die Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau über DDR-Territorium ausreisen zu lassen. Es soll einen letzten Hauch von Souveränität bedeuten, dass die Menschen nicht direkt in den Westen reisen dürfen. In der Folge sollte sich diese Dickköpfigkeit der Politbürokraten als verhängnisvoll erweisen.

Diejenigen, die ihr Land nicht nach wie vor verlassen, sondern verändern wollen, verstärken ihre Aktivitäten, um Reformen zu erzwingen. In Thüringen veröffentlichen sechzig Vertreter von Basisgruppen einen „Offenen Brief“ an die „Verantwortlichen unseres Staates und alle Bürger unseres Landes“. Sie fordern freie Wahlen, die Legalisierung der frisch gegründeten Bürgerrechtsgruppen, wie das Neue Forum, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und eine freie Presse.

In Berlin trauen sich immer mehr Künstler, wider den staatlichen Stachel zu löcken. Diesmal sind es die Mitglieder des Berliner Ensembles, die öffentlich die Zulassung des Neuen Forums und der anderen Gruppen fordern.

In Leipzig werden in einem Schnellverfahren elf verhaftete Teilnehmer des Friedensgebets vom 11. September verurteilt. Das soll abschreckend wirken.

 

Dreißigster September 1989

Die Bilder gehen um die Welt: Außenminister Genscher verkündet den 4.000 Besetzern der Prager Botschaft, dass sie ausreisen dürfen. Ein Jubelschrei aus vielen tausend Kehlen antwortet ihm.

In Warschau macht Staatssekretär Jürgen Sudhoff das Gleiche.

Die Menschen, die seit Tagen, zum Teil Wochen, unter unsäglichen Bedingungen in den Botschaften ausgeharrt haben, beginnen ihre letzten verbliebenen Habseligkeiten zusammenzupacken und sich für die Abreise fertig zu machen. Sie erfahren erst nach und nach, dass die Reise sie noch einmal durch die DDR führen wird. Manchen ist das unheimlich. Sie haben Angst, dass die DDR-Behörden sich nicht an ihre Versprechungen halten und sie zum Verbleib in der DDR zwingen könnten. Aber sie haben keine andere Wahl, als auf die Zusagen zu vertrauen und die Bedingungen ihrer Ausreise zu akzeptieren. In der Nacht fahren die ersten Sonderzüge von Prag über die DDR nach Westdeutschland. Es soll nach dem Willen der DDR-Regierung ein „einmaliger humanitärer Akt“ sein.

 

In der DDR wird der Ruf nach freien Wahlen immer lauter. Inzwischen finden an jedem Abend Veranstaltungen in Kirchen statt. Die Staatssicherheit hat kaum noch genug Personal, um alles unter Beobachtung zu halten. Viele Stasi-Leute sind nach Leipzig abkommandiert worden, um dort bei den Vorbereitungen zur Verhinderung der nächsten Montagsdemonstration zu helfen. Im Bezirk Dresden werden alle verfügbaren Sicherheitskräfte entlang der Bahnstrecke zusammengezogen, auf der der Zug mit den Ausreisewilligen aus Prag entlangfahren soll.

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