Schwellenland Indien

Indiens mühevoller Weg

Vor 300 Jahren galt Indien als unvorstellbar reich, vor 50 Jahren als bitterarm. Heute kämpft Indien um seinen Aufstieg zum Industriestaat und setzt vor allem auf den Dienstleistungs- und IT-Bereich.

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Indien gilt neben China als ein Motor der BRICS-Staaten (BRICS steht für die aufstrebenden Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Kaum ein anderes Land hat höhere wirtschaftliche Wachstumsraten. Doch rund die Hälfte der mehr als 1,2 Milliarden Inder lebt nach wie vor in bitterer Armut. Der Aufschwung Indiens erreicht nur eine kleine Oberschicht und Mittelschicht in den Städten. Für die Mehrheit der Inder hat sich die Lage eher verschlechtert. Es gibt in Indien – gemessen in absoluten Zahlen – mehr Arme als auf dem gesamten afrikanischen Kontinent.

Großbritanniens Erbe: Wie Indien vom reichen Land zum Armenhaus Asiens wurde

Im 15. und 16. Jahrhundert galt Indien als sprichwörtlich reiches Land. Kolumbus entdeckte Amerika, weil er einen Seeweg nach Indien suchte. Die Portugiesen waren die ersten, die Afrika umrundeten, um eine Seehandelsroute nach Indien auszukundschaften. Nach den Portugiesen, die sich in Goa niederließen, kamen die Niederländer, Franzosen und Briten.

Das Reich der Großmoguln war in vielerlei Hinsicht fortschrittlicher als Europa. Der Lebensstandard war hoch, die landwirtschaftliche und handwerkliche Produktion ebenso. Der Reichtum der Moguln und Maharadschas war legendär. Doch das Reich war instabil und zerfiel. Dem Mogulreich um Delhi standen verschiedene andere muslimische Staaten und Hindustaaten gegenüber. Von Rajastan aus verbreitete sich das Reich der Rajputen, in Zentralindien der Marathen-Bund.

Diese Situation machte sich die britische Ostindien-Kompanie zu nutzen. Die Briten setzten sich an verschiedenen Küstenstädten, besonders in Bengalen um Kalkutta herum fest. Geschickt nutzten sie die innerindischen Streitigkeiten und spielten die einzelnen indischen Staaten und Religionsgruppen gegeneinander aus.

Man schickte hier und dort Gesandte hin, bestach indische Machthaber und griff bei entsprechendem Anlass mal für die eine, mal für die andere Partei in das politische Geschehen Indiens ein. Dabei schreckten die Briten nicht vor dem Einsatz militärischer Druckmittel zurück.

1765 musste der Großmogul die Provinzen Bihar und Bengalen an Großbritannien abtreten. Der Siegeszug der englischen Kolonialherrschaft begann. Durch diplomatischen und militärischen Druck konnten die Briten bis Anfang des 19. Jahrhunderts fast ganz Indien unterwerfen. 1858 wurde die britische Ostindien-Kompanie aufgelöst und der gesamte Subkontinent zur britischen Kronkolonie erklärt.

Es gibt Schätzungen, wonach Indien gegen 1750 rund 300 Millionen Einwohner gehabt haben soll. 1850 waren es nur noch rund 200 Millionen Einwohner. Im selben Zeitraum konnten die Briten ihren Einfluss von Bengalen ausgehend über ganz Indien ausbreiten. Man kann davon ausgehen, dass der Einfluss britischer Kolonialpolitik nicht ganz unbeteiligt am massiven Bevölkerungsschwund war. Die zahlreichen Kriege und Konflikte gingen nicht selten mit Hungerkatastrophen einher.

Ein großes Problem für die Wirtschaft Indiens war, dass die Briten keinerlei Interesse an indischen Fertigprodukten hatten. Indien sollte Rohstofflieferant sein, um die Industrialisierung Großbritanniens voranzutreiben. So mussten die Inder Baumwolle anpflanzen, damit die Manufakturen in England Gewebe und Stoffe für den europäischen Kleidermarkt herstellen konnten. Der Profit blieb in England. Die Armut blieb in Indien. Für indische Politiker wie Mahatma Ghandi war dies ein Grund, selbstproduzierte Leinenkleidung zu tragen.

Die Methode, Indien als Rohstofflieferant auszunutzen, setzte sich bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges fort. Um die Briten und europäischen Verbündeten mit Getreide zu versorgen, wurden große Nahrungsmittelvorräte und ganze Ernteerträge von Bengalen nach Europa verschifft. Die Folge war, dass während des Zweiten Weltkrieges rund zwei Millionen Inder verhungerten.

Mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 konnten die Folgen zweihundertjähriger britischer Kolonialherrschaft nicht von heute auf morgen überwunden werden. Ein weiteres Problem war die Abspaltung der muslimischen Teile Indiens, aus denen Pakistan und Bangladesch wurden. Dennoch hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten ein neuer Wirtschaftsboom entwickelt, der Hoffnung gibt.

Indiens Probleme – Indiens Lösungen

Indien hat umfassendere Probleme als China. Indien ist flächenmäßig kleiner, hat weniger Rohstoffe und eine schneller wachsende Bevölkerung. Um 1985 lebten in Indien etwa 730 Millionen Menschen. Mittlerweile sind es rund 1,2 Milliarden. In einem Jahrzehnt wird Indien China überholt haben.

Die Gesellschaft in China ist konformer. Jahrzehntelanger Sozialismus, die Durchbrechung alter Hierarchien der Kaiserzeit und die praktische Kompromiss-Lösung aus Sozialismus, Kapitalismus und Konfuzianismus erlauben es China, die individuellen Stärken der Bevölkerung zu fördern und dennoch den Zusammenhalt des Gemeinwesens zu stärken.

In Indien ist es anders. Hier gibt es unzählige Sprachen, Religionsgruppen und Kasten. Zwar sind Hindi und Bengali die meistgesprochenen Sprachen, doch gibt es noch Hunderte anderer Sprachen, so dass Englisch weiterhin die Hauptverkehrssprache bleibt. Insbesondere die Unterschiede von Hindus, Muslimen und den Sikhs im Punjab erschweren klare Richtungsentscheidungen. Zudem sind in Indien die einzelnen Bundesstaaten unabhängiger von Neu-Dehli als die Provinzen Chinas von Peking. Das geht so weit, dass manche Bundesstaaten, wie Kerala im Süden, lange Zeit eine kommunistische Regierung hatten, anders als der Rest Indiens.

Ein anderes Problem ist das Kastenwesen, das immer noch eine starke Rolle in der indischen Gesellschaft spielt. Zwar gibt es immer mehr erfolgreiche Politiker und Unternehmer aus den untersten Kasten, die als Rollenmodell, als Vorbild für den gesellschaftlichen Aufstieg eignen. Doch diese Ausnahmen relativieren nicht die Regel. Sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben spielt die Zugehörigkeit zu einer Kaste nach wie vor eine große Rolle. Hinzu kommt der soziale Unterschied durch Armut und Reichtum, der in Indien besonders ausgeprägt ist.

Die Regierung versucht durch allerlei Programme, die Rolle der Kasten zu relativieren, Menschen unterer Kasten zu fördern, ebenso die Frauen, die in Indien immer noch benachteiligt sind, wenn es um berufliche Perspektiven geht.

Um die Wirtschaft voranzubringen, will Indien die Bevölkerungszahl nicht als Nachteil sehen, sondern zum Vorteil nutzen. In Indien gibt es genügend Arbeitskräfte, die bereit sind, zu geringen Löhnen zu arbeiten. Sie kommen der globalen Dienstleistungsgesellschaft entgegen. In Europa und Amerika werden immer mehr Tätigkeiten und Dienstleistungen aus Unternehmen ausgelagert. Stattdessen wird zunehmend mit Subunternehmern im Ausland kooperiert. Dies führt zu seltsamen Blüten, wie etwa, dass englische Telefondienste digital über Indien laufen können, weil dort die Telefonisten kostengünstiger sind.

Damit setzt Indien einen anderen Schwerpunkt als China. Während China sich zur preisgünstigen Werkbank der Welt entwickelt hat, soll Indien nun die Marktlücke des billigen Dienstleistungsanbieters füllen. Doch das kann nur temporär eine zufriedenstellende Lösung sein.

Indiens IT-Branche reicht nicht aus

Indien ist stolz auf seine IT-Spezialisten. Emsige Programmierer, die allesamt Englisch sprechen, erledigen digitale Dienstleistungen und entwickeln neue Softwareprodukte. Die Bedeutung wurde sogar in Deutschland sprichwörtlich, als ein gewisser Politiker den unglücklichen Slogan „Kinder statt Inder“ geprägt hatte. Tatsächlich verlagern zunehmend europäische und amerikanische Softwareunternehmen Teile ihrer Wirkstätten nach Indien. So hat der Internetriese Google erst kürzlich verkündet, im indischen Hyderabad die zweitgrößte Unternehmenszentrale des Konzerns aufzubauen und die dortige Zahl der Angestellten auf 13.000 Mitarbeiter zu erhöhen.

Doch die fleißigen Programmierer helfen nicht dem Milliardenvolk aus der Armut. Bei vielen indischen Programmierern handelt es sich um hochbegabte Individuen, die von ausländischen Arbeitsgebern geringer bezahlt werden als ihre Kollegen in den USA. Nicht jeder Inder ist ein Internetprofi – und die meisten haben überhaupt keinen Zugang zum Internet, viele nicht mal zu Strom und fließend Wasser.

Die Wirtschaft wird vor allem durch Industrieproduktion vorangetrieben. Und hier ist der Anteil Indiens sehr gering. Während in China fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus dem produzierenden Industriegewerbe herrührt, ist es in Indien weniger als ein Fünftel.

Außenpolitische Orientierung Indiens

Indiens Außenpolitik ist nach allen Seiten offen. Es wird mit den USA, mit Europa, mit China und auch mit Russland kooperiert. Zusammen mit den anderen BRICS-Staaten hat Indien sich dem Aufbau einer eigenen Entwicklungsbank verschrieben, um nicht von der Weltbank und dem IWF abhängig zu sein.

Dennoch bleibt Indiens Wirtschaft von den Märkten in den USA und Europa abhängig. Wenn dort das Bedürfnis nach günstigen indischen Dienstleistungen sinkt, wird Indien Schwierigkeiten haben, die nötigen Devisen zu erwerben, um das riesige Land mit seiner großen Einwohnerzahl einer besseren Zukunft entgegenzuführen.

Stichwort: GeoAußenPolitik

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Gandhy

Diese britischen Schlangen haben Indien ausbluten lassen. Wie wollen die das jemals wieder gut machen. Gerechtigkeit wird aber Siegen!

Gravatar: Stephan Achner

Wenn man sich die IWF-Zahlen anschaut, ergibt sich ein etwas anderes Bild von Indien. Für das Jahr 2013 (Zahlen Stand April 2014) liegt Indien bei einem Vergleich des Bruttoinlandsprodukts nach Kaufkraftparität, also der aussagefähigeren Vergleichsgröße, an 3. Stelle (!) hinter den USA und China und noch vor Japan, Deutschland, GB, Frankreich etc. . Auch wenn man den herkömmlichen (nominal) und wenig aussagefähigen Vergleich des Bruttoinlandsprodukts nimmt, steht Indien nach den IWF-Zahlen weltweit an 10. Stelle. Also, so arm kann Indien nicht sein, wie es in diesem Artikel steht, auch wenn es in Indien viel Armut gibt.

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