Strengstes Jugend­verbot!

Gefährden Wahllokale das Kindeswohl?

13 Millionen Deutsche sind bisher noch vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen. Die Große Koalition könnte das ändern. Sie müsste nur Artikel 38 Absatz 2 abschaffen.

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Große Koalition heißt großer Stillstand. Dieser Satz entstammt der Politphrasenkiste. Aber inhaltlich wird er von vielen geteilt. Gegenwärtig steuert die Bundesrepublik wohl wieder einmal auf ein solches Bündnis zu. Die mehr als sieben Millionen Wähler, deren Stimmen der Fünf-Prozent-Hürde zum Opfer gefallen sind, hoffen bereits seit dem Wahltag auf Neuwahlen. Mittlerweile ist die Zahl derer, die das wollen, unter dem Eindruck der Koalitionsverhandlungen noch weiter gewachsen. Doch sollte es am Ende wirklich auf einen Kontrakt zwischen CDU/CSU und SPD hinauslaufen, muss man irgendwo Trost finden. Eine Alternative zur Flasche bietet da der Blick in die Geschichte: Denn ganz so reformunfähig, wie es oft dargestellt wird, waren die beiden vorangegangenen Großkoalitionen nicht. Die erste stellte die Finanzverfassung auf den Kopf, die zweite drehte sie zurück auf die Füße. Und sie schrieb zudem die Schuldenbremse ins Grundgesetz. Denn zumindest diesen Vorteil hat die Große Koalition ja: Sie ermöglicht verfassungsändernde Mehrheiten.

Und so könnte sich doch eigentlich auch der neue schwarz-rote Bund ein echtes Großprojekt auf die Fahnen schreiben. Wie wäre es zum Beispiel mit einer Streichung von Artikel 38 Absatz 2 des Grundgesetzes? So würde man erreichen, dass künftig alle Staatsgewalt tatsächlich vom Volke ausgeht. Dies ist derzeit nämlich nicht der Fall: Dreizehn Millionen Deutsche werden von der Wahlteilnahme ausgeschlossen. Denn sie haben das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet. Und so gehören sie zwar zum Staatsvolk, aber in den Genuss eines wirklich allgemeinen Wahlrechts kommen sie nicht.

Wir müssen leider draußen bleiben

Dabei sind die Begründungen für den Ausschluss von Kindern und Jugendlichen bei näherer Betrachtung erstaunlich. Denn sie ähneln fatal den Argumenten, mit denen man einst Frauen, Besitzlosen und ethnischen Minderheiten das Wahlrecht vorenthalten hat: Minderjährigen mangele es an Urteilsvermögen, heißt es da. Ihnen fehle es an hinreichenden politischen Kenntnissen. Und ihre Beeinflussbarkeit sei viel zu groß. Nun verwundern solche Aussagen auch deshalb, weil all das auch auf viele Erwachsene zutrifft. Nicht wenige von ihnen wählen seit jeher dieselbe Partei, ohne auch nur annähernd begründen zu können, warum sie das tun. Andere treffen ihre Entscheidung erst in der Wahlkabine, je nach dem, was ihnen das Bauchgefühl des Augenblicks gerade sagt. Und so mancher kommt ins Wahllokal und wundert sich lautstark über die Gestaltung der Stimmzettel oder über die Zahl der abzugebenden Stimmen. Insofern ist der Ausschluss Minderjähriger von der Wahlberechtigung vollkommen willkürlich. Und er ist ebenso diskriminierend, als würde man ein Höchstalter für die Wahlteilnahme festlegen – schließlich nehmen Informationsstand und Urteilsfähigkeit in hohem Alter häufig ab, und die Abhängigkeit von Dritten wächst.

Ebenso beliebig und ebenso autoritär ist die Behauptung, die meisten Kinder wollten ja gar nicht wählen. Doch zum Wahlrecht gehört in einem freiheitlichen Staatswesen nun einmal auch, von ihm Gebrauch zu machen, indem man nicht wählt. Auch viele Erwachsene „wollen“ augenscheinlich nicht wählen – jedenfalls tun sie es faktisch nicht.Denn die da oben machen ja eh, was sie wollen, und was kann der kleine Mann schon tun. Aber ist die mangelnde Begeisterungsfähigkeit vieler Erwachsener für die Demokratie ein Grund, der nachwachsenden Generation dieselbe Apathie zu unterstellen?

Schließlich ist es ein beliebtes Argument, die Verweigerung des Wahlrechts gegenüber Kindern mit ihrer Strafunmündigkeit in Verbindung zu bringen – so als sei seine Ausübung eine potentiell strafbare Handlung, für die dieselben Kriterien anzulegen sind. Viel naheliegender und natürlich auch viel angebrachter wäre da doch ein Vergleich mit dem Demonstrationsrecht! Hier käme niemand auf die Idee, eine Einschränkung auf Personen „ab 18“ zu verlangen – doch der Gedanke, Minderjährigen den Weg an die Wahlurne freizuräumen, erscheint vielen freaky.

Messer, Gabel, Staatsgewalt machen vor den Kindern halt

Dass dies jedoch keineswegs der Fall ist, zeigt die Tatsache, dass auch führende Politiker das Kinderwahlrecht einfordern – wenn man denn diesen Sachverhalt in diesem Sinne interpretieren möchte. Die offiziellen Parteiprogramme halten sich bisher noch zurück und thematisieren allenfalls eine Absenkung des Wahlalters auf sechzehn Jahre. Mitte-Links ist dafür, weil man sich Stimmengewinne erwartet. Mitte-Rechts ist dagegen, weil man Stimmenverluste fürchtet. Doch im Bundestag hat sich zwischenzeitlich, was das Wahlrecht für Minderjährige angeht, eine politische Avantgarde zusammengefunden. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hermann Otto Solms und Renate Schmidt, Dirk Niebel und Wolfgang Thierse haben 2003 und erneut 2008 Anträge eingebracht, die Artikel 38 Absatz 2 den Rest geben wollen. Die jüngste der beiden Entschließungen trägt die Unterschriften von immerhin 46 Parlamentariern. Überschrieben waren die Vorlagen mit Titeln wie „Mehr Demokratie wagen“ und „Der Zukunft eine Stimme geben“. Die Abgeordneten kritisieren, dass die Interessen von Kindern und Jugendlichen „aus dem politischen Handlungsfeld fast zwangsläufig verdrängt“ würden, wenn die Parteien diese nicht als Stimmbürger wahrnähmen. Doch nicht nur in politpraktischer, sondern auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht lassen es die Initiatoren an Klarheit nicht mangeln: Die derzeitige Regelung sei „ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 20 Abs. 2 GG, also gegen die Volkssouveränität, darüber hinaus gegen Artikel 1 Abs. 1 GG, also gegen die unantastbare Menschenwürde junger Menschen und gegen das Diskriminierungsverbot gemäß Artikel 3 Abs. 3 GG“, heißt es in bemerkenswert deutlichen Worten. Zwecks Beseitigung dieser misslichen Lage werden zwei Varianten erörtert: Zum einen das so genannte Stellvertreterrecht, nach dem „die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechts sind, dieses aber treuhänderisch von den Eltern“ ausgeübt wird, zum anderen die tatsächliche Stimmabgabe durch die Minderjährigen selbst, sobald sich diese „für beurteilungsfähig halten“ und den Wunsch bekundet haben, in das Wählerverzeichnis eingetragen zu werden. Möglich wäre aus Sicht der Antragsteller auch eine Kombination aus beiden Modellen, nach der die Eltern so lange in Vertretung abstimmen, bis die Kinder die Initiative zum Registereintrag ergriffen haben. Welche dieser „denkbaren Lösungen im Bundeswahlgesetz verankert wird, soll nach der grundsätzlichen Entscheidung über das Wahlrecht von Geburt an entschieden werden“, formulieren die Abgeordneten bewusst ergebnisoffen.

Und so ist die Initiative der Parlamentarier denn auch höchst beachtlich – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie von einer breit angelegten, inner- wie außerparlamentarischen Koalition getragen wird. Diejenigen, die die Altersgrenze aus demokratietheoretischer Überzeugung ablehnen, treffen auf jene, die vor allem einen Beitrag zur Generationengerechtigkeit leisten wollen. Und diejenigen, denen es zuvorderst um eine Stärkung der Familie geht, weil sie in ihr den Grundbaustein der Gesellschaft sehen, finden mit jenen zusammen, die die Idee von der Kindheit für „eine historische Konstruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse während der Industrialisierung“ halten (Zitat Junge Piraten). Allen ist gemein, dass sie eine Änderung des geltenden Rechts nicht nur als angebracht, sondern als notwendig ansehen. So bleibt zu hoffen, dass sich auch in diesem Bundestag erneut eine Gruppe von Parlamentariern findet, die sich zur Fürsprecherin des gesamten Staatsvolks macht. Und vielleicht knackt diese Truppe ja heuer die Zwei-Drittel-Marke.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: malgucken

Ich stimme meinen Vorrednern im Wesentlichen zu. Die Absurdität dieses Vorschlags erschließt sich jedem, der den Schulhof einer durchschnittlichen Schule in Deutschland während der Pausenzeiten betritt. Lasst Kinder Kinder sein.

Gravatar: MicroHirn

Ein junger Mensch ist logischerweise noch nicht ausgereift, komplett könnte man sagen. Nicht nur die Pubertät, also die hormonelle Einstellung einer entsprechenden Physiologie, erzeugt eine Unausgewogenheit im Denken, sondern auch die fehlende neuronale Verknüpfung, die sich erst vollständig Anfang der Zwanziger Jahre durch Lebenserfahrung etabliert.
Diese Entwicklungsdefizite, die naturgemäß erst nach einer angemessenen Reifezeit ausgeglichen werden, verhindern, dass ein ausgewogenes und eigenständiges Urteil in voller Gültigkeit zum Tragen kommen kann. Aufgrund dieser nicht wegzuleugnenden Tatsachen, ist sogar die Wahlmündigkeit mit 18 Jahren schon als problematisch anzusehen.
Bei jungen Menschen wird daher auch das Jugendstrafrecht angewendet, um genau diese Reife, die ebenso moralische Urteile umfasst, zu berücksichtigen. Würde man Kindern die Wahlmündigkeit zusprechen, müßte die Logik gebieten auch das Jugendstrafrecht fallen zu lassen.

Gravatar: Karin Weber

@ Klimax

Ja, da stimme ich Ihnen zu. Der feministische Apparat wächst und weitet sich tumorartig aus. Wie ein grauer Schleier legt er sich auf das Land und seine Familien.

Die politische Klasse sollte allerdings daran denken, dass das Kinderwahlrecht nur die Kinder wahrnehmen können, die z.B. nicht abgetrieben wurden, die die ersten Wochen auf dieser Welt überlebt haben und keinem straffreien Kindsmord zum Opfer gefallen sind.

Selbstverständlich könnte sich, so die Kinder ihre Stimme nicht an die Mutter "abtreten" müssen, das Ganze auch als Eigentor für die führenden Feministinnen im Lande erweisen. Wenn die "enväterten Kinder" nämlich ihrem Frust über dieses ruinöse Bermuda-Dreieck, bestehend aus Familiengericht, Jugendamt und Kindesmutter, freien Lauf lassen.

Gravatar: Helene

Kurz und bündig: Klimax hat recht!

Gravatar: Klimax

@Frau Weber, es geht noch um etwas anderes, das sich hinter der Rede von der stellvertretenden Ausübung des Kinderwahlrechts verbirgt. Wer wäre denn der Stellvertreter? Mami natürlich. Oder glauben Sie, möglicherweise geschiedene Väter würden nach ihrer Meinung gefragt? Das ganze ist Interessenpolitik für (alleinerziehende) Mütter, die auf diese Weise doppeltes Stimmgewicht erhalten sollen. Wir brauchen mehr Feminismus, immer mehr! Alles klar? Oder warum, glauben Sie, dürfen Jugendliche nicht mal mehr allein eine Schachtel Streichhölzer kaufen, während sie gleichzeitig ein Wahlrecht ausüben können sollen?

Gravatar: Klimax

Ich finde auch, daß Kinder von Geburt an all das tun und lassen können sollen, was Erwachsene tun und lassen. Allein die Unterscheidung zwischen Erwachsene und Kinder ist zutiefst diskriminierend. Wer sagt , daß Säuglinge keine politische Meinung haben? Mehr Milch für alle! Oder Schulkinder: mehr Ferien! Hier bieten sich ganz wunderbare Möglichkeiten für weitere wichtige Politikfelder und Sozialstaatsbürokratie! Und natürlich gilt das alles auch für's passive Wahlrecht! Schluß mit der Kinderdiffamierung! Achtjährige in den Bundestag! Warum sollte nicht endlich mal ein Schnullerträger zum Bundespräsidenten gewählt werden? Pueril sind unsere Politiker ja auch schon, da fällt das gar nicht mehr ins Gewicht.

Selten eine solch absurde Forderung so ernsthaft erwogen gefunden.

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