Ein paar Worte zu Armin Hary

Von Knut Teske

Dieser 10,0-Lauf von Zürich in der olympischen Saison schockierte 1960 die Sportwelt: Die Amerikaner waren fassungslos, die Franzosen empört, die Deutschen ungläubig - nur die Bild-Zeitung hielt zu ihm, dem ungeliebten Emporkömmling, der keine rechten Freunde hatte, dem niemand über den Weg traute - der sich andererseits selber niemandem anvertraute, dessen Misstrauen gegen den Rest der Welt ihm provokant voranflatterte.

Für die breite Sportöffentlichkeit - damals weitestgehend noch ohne Fernsehen - war er ein Nobody, als er zwei Jahre zuvor, 1958, in Stockholm bei den Europameisterschaften über die Sprintstrecke, die Königsdisziplin der Leichtathletik, das Idol jener Tage, den Kölner Hero, Manfred Germar, besiegte - Gotteslästerung in den Augen seiner Fans.

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Als Hary einige Wochen später, am 6. September in Friedrichshafen, plötzlich und unerwartet den bestehenden 10,1-Sekunden-Weltrekord über 100 Meter auslöschte und auf 10,0 drückte, wurde er der Welt unheimlich. Die einen fürchteten ihn; die anderen hielten ihn für einen Gaukler, der sich dank seines rasanten Starts unlautere Vorteile gegenüber der Konkurrenz verschaffte. Damals gab es noch keine elektronische Startkontrolle. Es galt die Tatsachenentscheidung des Starters, der Harys Flucht aus den Startblöcken für absolut korrekt hielt (wie auch der schwedische Starter in Stockholm bei seinem Triumph über Germar).
Der Rekord von Friedrichshafen wurde nach endlosen Querelen nicht anerkannt. "Schuld" daran war das Gefälle seiner, nur seiner Bahn, um elf Zentimeter auf 100 Meter. Zehn Zentimeter wären erlaubt gewesen.
"Gotteseidank" mag sich die Konkurrenz gefreut haben. Die sich dann allerdings à la longue doch zu früh gefreut hatte.

Dieser eine Zentimeter, der Hary um den frühen, blütenweißen Weltruhm gebracht hat, bescherte ihm dann doch genau das:  Weltruhm, wenn auch im Unglück, durch Pech, gleichsam getrübt durch die Hintertür. So wurde er nicht der strahlende Held, eher der umdüsterte, der von Zweifeln geplagte - er wurde nach dieser Enttäuschung zum "James Dean der Aschenbahn".
Das Paradoxe, das Widersprüchliche wurde fortan sein Markenzeichen.

Bei ihm schien tatsächlich kaum etwas mit rechten Dingen zuzugehen. Das war bei der Staffel in Stockholm so, als er ein katastrophales Rennen ablieferte, das Deutschland fast um dem Titel gebracht hätte; das war 1959 bei seiner Flucht (vor den deutschen Funktionären und einer wenig freundlichen Öffentlichkeit) nach Amerika nicht anders. Das setzte sich in Zürich fort, als sein erster 10,0-Lauf vom Kampfgericht nicht anerkannt wurde, weil es die Zeit einfach nicht glaubte; das machte auch nach dem Wiederholungslauf nicht Halt, nachdem er auch diese Rennen in 10,0 Sekunden beendet hatte.
Armin und Ärger - das wurde zum Synonym für einen Läufer, der seiner Zeit gnadenlos voraus war, dessen Genie einfach nicht anerkannt werden sollte. Er hatte auch äußerlich, wiewohl gutaussehend, nichts Geniales an sich: Er besaß weder Abitur, geschweige  denn ein Studium; er besaß nicht die Sprachfertigkeit der anderen deutschen Weltstars wie Germar, Steinbach oder Lauer, Haas und Kaufmann, Akademiker, Medaillengewinner oder Weltrekordler sie alle; er, der eigentlich von Hause aus vor Charme sprühte,  wurde dagegen immer einsilbiger und verschlossener. Er schien nichts wirklich darzustellen. Nur in der Bewegung - da wurde es schlagartig zum Genie, das sich auf der Aschenbahn  zum Gepard verwandelte.

Was immer er im Sport anfasste, das entglitt ihm ins Geniale: ob zu Pferde, beim Golf, beim Segeln, Surfen, ob im Zehnkampf, den er bald aufgab - endlich auf der Aschenbahn und dort (bis auf Usain Bolt) ohne Vergleich (und auch der zu Bolt mag hinken).
"Ich sah nie einen größeren Sprinter", urteilte Jesse Owens verblüfft nach Harys Olympiasieg in Rom: geschlagen, gedemütigt die stolzen Amerikaner; nicht über die Könisgdisziplin, auch in der Staffel.
Armin Harys 10,0 von Zürich, die dann doch endgültig anerkannt werden mussten, als es wirklich keine brauchbaren Einwände mehr gab, hielten formal acht Jahre. Eine Ewigkeit im Sprint, der sich nach seiner Ära erst revolutionierte: durch Tartanbahnen, durch verbessertes Training, verbesserte medizinische Betreuung, erheblich verbesserte Bezahlung und durch Doping - zuallererst durch Doping.
Harys 10,0-Lauf (dreimal gelaufen, um einmal anerkannt zu werden) war mit ziemlicher Sicherheit der letzte dopingfreie Weltrekord über diese Strecke.
Die drei Amerikaner Jim Hines, Ronnie Ray Smith, Charles Greene, die 1968 als erste Menschen offizielle 9,9 Sekunden liefen, taten es auf Tartan, in 1800 Meter Höhe und mit Sicherheit vollgepumpt. Die Dopingära hatte ungeniert 1966 begonnen. Die Spiele von Mexiko-City 1968 in 2200 Meter Höhe waren Dopingspiele par excellence.

Der erste wirkliche (wenn auch nur inoffiziell); 9,9-Läufer war tatsächlich Armin Hary - beim seinem annullierten ersten Lauf von Zürich.
Damals hatten die - nebenbei mitgelaufenen elektronischen Uhren, die es auch schon gab, für dieses Rennen 10,16 Sekunden ermittelt. Das wären handgestoppte 9,9 Sekunden gewesen. Die Differenz zwischen einer elektronischen Zeitnahme und einer handgestoppten liegt nach unenendlich vielen Versuchsreihen zwischen 24 und 27 Hundertstel zugunsten der handgestoppten Zeitnahme. Zöge man also von 10,16 Sekunden 26 Hundertstel als Reaktionszeit der Kampfrichter ab, hätte Harys Zeit bei 9,9 Sekunden gelegen - eine Zeit, die nicht wenige Kampfrichter damals auch auf ihrem Chronometer ablesen konnten, wenn sie sich nur getraut hätten. Die Zeit damals war nicht reif für einen derartigen Wunderlauf. Also einigte man sich auf glatte 10,0 Sekunden. Weltrekord ja auch diese Zeit!

Im Jahre 2004 erleichterte ein altgewordenen Kampfrichter sein Gewissen Armin Hary gegenüber. Er hatte damals sogar 9,8 Sekunden auf seiner Stoppuhr, traute sich aber schon mal gar nicht, sich zu dieser Zeit laut zu bekennen.

Armin Hary, heute 73 Jahre alt, dank seines Golfspiels gelassen geworden, lächelt darüber, ausgesöhnt mit seinen alten Widersachern.
Er macht sich heute noch um den Sport verdient mit seiner AHA-Förderung für junge Talente ((www.aha-f.de).

PS.: Und noch einen interessanten Vergleich zum Schluß: Die schnellste deutsche 100-Meter-Zeit liegt im Augenblick bei 10,32 Sekunden - auf edelster Bahn natürlich. Dieser Mensch ist der heutigen deutschen Konkurrenz 50 Jahre voraus.    

Knut Teske ist Jurist, war Ressortleiter "Aus aller Welt", bei die DIE WELT.  Er war als Kriegs- und Krisenreporter unter anderem in Südafrika, im Kongo (Zaire); in Israel, auf Haiti und in Afghanistan.  Bis 2007 war er Leider der Journalistenschule Axel Springer (heute: Axel-Springer-Akademie).  Der Sportfan Teske ist zudem Autor des Buches "Läufer des Jahrhunders. Die atemberaubende Karriere des Armin Hary" (hier bei amazon bestellen).  Seit Kurzem gehört Knut Teske auch zum Autorenstamm von FreieWelt.net.

(Bild: Knut Teske/Verlag Die Werkstatt)

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Hans Schröder

Armin Hary wäre der richtige Bundespräsident!

Gravatar: Maria Ostermann

Hary hat dieses Gedenken sicher verdient. Er war in seiner Disziplin anderen viele Jahre voraus. Aber er verblasst gegen einen Mittelstreckler, der heute leider völlig vergessen ist: Rudolf Harbig. Harbig lief 1939 zwei Weltrekorde: den über 400 m in 46,0 Sekunden und den über 800 m in 1 Min. 46,6 Sekunden. 1939! Auf einer Aschenbahn! Ohne "unterstützende Mittel"!. Diese Fabelzeiten sind m.E. Jahrzehnte lang nicht unterboten worden. Noch heute gibt es Deutsche Meisterschaften, wo solche Zeiten nicht erreicht werden. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Harbig so in Vergessenheit geraten konnte. Lediglich in Dresden wurde zu DDR-Zeiten ein Stadion nach ihm benannt. Harbig fiel im WK II.

Gravatar: Horatio Nelson

Sein 100-Meter Lauf im olympischen Endlauf hat mich fasziniert.

Grüße
Horatio Nelson
(Als Schüler & Student: 100 Meter 10,9 Sek / 200 Meter 22,5 Sek)

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