Dr. Albert Wunsch Erziehungswissenschaftler und Psychologe

Was Kinder brauchen - Interview mit Dr. Albert Wunsch

Am vergangenen Wochenende fand im Congress-Centrum Heidenheim die Internationale „Fachtagung Sprache“ 2012 statt, bei welcher Ministerpräsident Winfried Kretschmann als Schirmherr fungierte. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Dr. Albert Wunsch hielt vor über 300 Fachkräften den Einführungsvortrag „Verwöhnung als Allround-Killer von Selbstkompetenz“. FreieWelt.net sprach mit ihm über die Gefahren und Konsequenzen der Verwöhn-Erziehung, über richtigen Spracherwerb, den Umgang mit Medien und darüber, was Kinder wirklich brauchen.

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Herr Dr. Wunsch, welche Ausgangsbasis hatten Ihre Ausführungen ihres Beitrags „Verwöhnung als Allround-Killer von Selbstkompetenz“?

Dr. Albert Wunsch: Jede Gesellschaftsform hat ihre eigenen Erziehungs-Leitlinien. Da sich das Leben in einer Spaß- und Konsumgesellschaft an der leicht erreichbaren Annehmlichkeit bzw. einer ‚jetzt und sofort’ Mentalität orientiert, wirkt sich dies auch auf den Umgang mit Kindern aus. In dem Leitsatz: ‚Lernen muss Spaß machen’ präsentiert sich die Handlungsmaxime einer Spaßpädagogik. ‚Locker und leicht’, ‚Genuss pur’, ‘trendy sein’ und ‚Mithalten’ heißt diese Lebensmaxime. In der Folge wird zu häufig ein verwöhnender Umgang zwischen Inkonsequenz und Überbehütung deutlich. Die Lebenserfahrung:‚ohne Fleiß (und Anstrengung) kein Preis’, wird in diesem Zusammenhang weitestgehend aus dem Lebensalltag verbannt. Aber: ‚Was Häns’chen nicht lernt, lernt Johanna immer schwerer’. Es ist überlebenswichtig, sich diese Zusammenhänge in Ihren Auswirkungen auf die Erziehung zu verdeutlichen.

Wieso bezeichnen Sie Verwöhnung als Allround- Killer von Selbstkompetenz?

Dr. Albert Wunsch: Jedes Anstelle-Handeln be- oder verhindert das Eigenständige-Handeln. Jede Über-Fürsorge behindert die Selbst-Sorge. Jedes ‚In-Watte-Packen’ vereitelt die Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Mittlerweile regeln ständig über ihren Kindern kreisende Helikopter-Eltern etwas für den Nachwuchs, überwachen sie per Handy und merken nicht, wie sie dadurch deren Selbstständigkeits-Entwicklung torpedieren. Werden Kinder nicht oder zuwenig altersgemäß herausgefordert, sind damit meist alle Bereiche der Selbst-Kompetenz betroffen. Wer sich beispielsweise zuwenig bewegt, wird bald Übergewichtig sein, was wiederum die Entwicklung der Anstrengungs-Motivation reduziert. Wird ein Kind körperlich zu wenig gefördert bzw. herausgefordert, hat dies auch Auswirkungen auf die geistige Entwicklung. Erhält ein Kleinkind zulange Brei oder Fertig-Nahrung, wird nicht nur das Kauen-Lernen reduziert, sondern es kann sich auch der Kiefer und Mundbereich nicht so entwickeln, wie dies als Resonanz-Raum für die Lautbildung nötig ist. Diese jeweiligen Wechselwirkungen liegen nicht in erster Linie an einem aus sich heraus wirkenden Automatismus beim Kind, sondern daran, dass die Hauptbezugs-Personen in der Regel nach demselben Grundmuster - dem leichtesten Weg - handeln. Denn wer die Herausforderung meidet, sich in Trägheit hüllt, Inkonsequenz walten lässt, Konflikte nicht zulässt bzw. sie in überbordendem Harmoniestreben ertränkt, wird diese Grundhaltung in allen Bereichen offenbaren. So hat alles im Umgang mit Kindern Auswirkung auf alles.

Was verstehen Sie genauer unter Verwöhnung?

Dr. Albert Wunsch: Verwöhnung ist das Resultat unangemessenen Agierens oder Reagierens: Positives erhält keine Verstärkung und Negatives keine Begrenzung. Da im Leben außerhalb von Verwöhn-Systemen mit deutlich spürbaren Konsequenzen auf jegliches - insbesondere unsoziales - Verhalten zu rechnen ist, wachsen Verwöhnte immer intensiver in eine Scheinwelt hinein. Konkret wird einen verwöhnender Umgangsstil wie folgt deutlich: Erstens in einem falschen Helfen, zweitens durch fehlende Grenzverdeutlichung und drittens durch ausbleibende bzw.  zu geringe Herausforderungen. Wir sollten uns immer wieder neu verdeutlichen: Verwöhnen verhindert Interesse und Neugier, Auseinandersetzungsbereitschaft, Kraft und Ausdauer, Zielstrebigkeit, angemessene Rückmeldungen, Grenzerfahrungen, selbstgeschaffenen Erfolg, ein realistisches Selbstbild, Selbstvertrauen (wer sich nicht traut, traut auch keinem Anderen); Eigenständigkeit, Verantwortung, soziale Kompetenz, Toleranz und Rücksicht, kurz: Verwöhnung verhindert ein erfolgreiches Leben.

Was brauchen Kinder für eine gute und altersgemäße Sprachentwicklung?

Dr. Albert Wunsch: Der Erwerb der Muttersprache findet nicht im Rahmen eines formalen Lernprogramms statt, sondern ist das Ergebnis eines aktiven Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern. Dabei haben - neben der Mutter - der Vater, mögliche Geschwister und andere nahe Bezugspersonen eine primäre Bedeutung. Da jedoch der Spracherwerb in der Regel mit Mühe, Wiederholung, Übung, Zuwendung, Ermutigung, Kontinuität und Zeit verbunden ist und werden stattdessen Trägheit, Inkonsequenz, fehlende Empathie und Zeitmangel deutlich, muss dies starke Beeinträchtigungen einer altersgemäßen Sprachnetwicklung nach sich ziehen. Und dass  40% der Eltern ihren Kindern nie etwas vorlesen, macht wirklich sprachlos.

So ergaben Interviews mit Sprachtherapeuten, dass seit ca. 20 - 30 Jahren die Zahl der Kinder mit einer Spracherwerbs-Störung bzw. Sprachentwicklungs-Verzögerung ständig zunimmt, während durch Krankheiten oder sonstige Ereignisse ausgelöste Beeinträchtigungen abnehmen. Logopäden verdeutlichen: Erwachsene sprechen immer weniger mit Kindern’. Stattdessen werden sie zu umfangreich unterschiedlichsten Medien überlassen. Bei der Einschulung wird festgestellt, dass ca. 20% aller Kinder sprachlich unterentwickelt sind, sowohl auf den Wortschatz, als auch auf die Artikulationsfähigkeit bezogen, Tendenz steigend. Fakt ist, dass richtig sprechende Bezugspersonen die Voraussetzung sind, denn Kinder brauchen eine qualifizierte Ansprache, um in die Sprache zu finden.

In welchem Umfang können Krippe und Kindergarten diese Defizite ausgleichen?

Dr. Albert Wunsch: Natürlich können alle mit Kindern richtig sprechenden Fachkräfte in Kitas versuchen, so umfangreich wie möglich häusliche Defizite auszugleichen. Aber die Wunder-Wirkung, wie sie meist in der Politik beschworen wird, ist selten erreichbar. Unter der Überschrift: „Kitabesuch garantiert keine ausreichenden Sprachkenntnisse“ hat eine Untersuchung im Land Berlin dies zutage gebracht. Mehr als die Hälfte der Vier- bis Fünfjährigen, die in Berlin spezielle Sprachförderung brauchen, haben jahrelang eine Kita besucht. Offenbar hat sie das sprachlich aber nicht weiter gebracht. Hier eine Erkenntnis aus dem Artikel im Tagesspiegel: „Wie kann in einer babylonischen Sprachsituation Deutsch erlernt werden?“ Oder: Wie sollen Kinder durch das Gebrabbel anderer Kinder richtiges Sprechen erlernen?

Was haben Sie von der Podiumsdiskussion zum Thema: „Machen die Medien unsere Kinder dumm?“ mitgenommen?

Dr. Albert Wunsch: Besonders wirkte bei mir nach, dass 26% aller 12 - 13jährigen einen Internetzugang im Kinderzimmer haben. Denn damit ist in der Regel verbunden, dass weder inhaltlich noch zeitlich geregelt wird bzw. überprüfbar ist, in welchen digitalen Welten sich der Nachwuchs wie lange bewegt. Der Regelungsbedarf wurde indirekt durch die Eingabe unterstrichen, dass Porno-Themen den größten Markt im Internet ausmachen und Pubertierende natürlicherweise hier besonders gefährdet sind. Trotz dieser Gefahren sollte diese Altersgruppe natürlich einen PC-Zugang haben, aber weshalb nicht einen kontrollierbaren in einer allgemein zugänglichen Zimmer- oder Dielen-Ecke? Auch wurde herausgestellt, dass Eltern die technische Fähigkeit ihrer Kinder im Umgang mit PC und Co. oft als Medienkompetenz bezeichnen. Aber meist reicht diese angebliche ‚Kompetenz’ nicht, um aus inhaltlichen Gründen zum rechten Zeitpunkt den Aus- oder Umschalter zu betätigen. Weiterhin wurde verdeutlicht, dass der Satz: ‚Toben macht schlau, - TV macht blöd’ nicht als wissenschaftliche Aussage verstanden werden darf, auch wenn die Richtigkeit der Richtung offensichtlich ist.

Herr Wunsch, haben Sie noch ein Abschluss-Resümee für unsere Leserinnen und Leser?

Dr. Albert Wunsch: Der für mich wichtigste Satz wurde von Prof. Dr. Fthenakis eingebracht indem er sagte, dass Kinder 2/3 ihre Lebensprägung durch die Familie erhalten. Es lohnt sich also, neben allen wichtigen Impulsen durch Kindergarten und Schule die Förderung von guten Bedingungen des Aufwachsens in der Familie zu fördern, denn Kinder sind das Erbgut einer Gesellschaft und starke Familien ihr Rückgrad.

Copyright: Dr. Albert Wunsch, 41470 Neuss, Im Hawisch 17

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Knut

@Dirksen
Vollkommen richtig, was Sie sagen!!
Das Wort "herabgleichen" muss ich mir merken. Es trifft genau die Ergebnisse unserer jahrzehntelangen Schulpolitik.
Der dickste Hammer diesbezüglich kommt aber erst noch mit dem sogen. inklusiven Lernen in Einheitschulen.

Gravatar: heli75

Herr Dr. Wunsch wird gefragt, wie Krippen und Kindergärte Defizite bei den Kindern ausgleichen wollen. Ich verweise auf einen Artikel in der Leipziger Internetzeitung l-iz.de. Am 22.6.12 ist dort ein Artikel zu finden, der die Antwort gibt unter Leben/Kinder: durch Leiharbeit.

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