Interview mit Andrew Lewer (MdEP)

»Reformen nützen allen, nicht nur den Briten«

Andrew Lewer (MdEP) will, dass Großbritannien in der EU bleibt. Aber er würde auch gehen, wenn alles beim Alten bleibt. Er sagt: Viele ahnen nicht, was beim britischen Referendum auf dem Spiel steht.

Andrew Lewer (MdEP, Conservative Party / ECR). 2015. Foto: privat
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FreieWelt.net: Viele Deutsche verstehen die Briten nicht. Man glaubt, dass es unmöglich ist, dass Großbritannien oder ein anderes Mitgliedsland die EU verlässt. Was unterscheidet die Briten von den Deutschen?

Andrew Lewer: Man kann einen sehr klaren Unterschied zwischen dem britischen und dem deutschen Volk erkennen, obwohl sie in vielerlei Hinsicht eine ähnliche Sicht auf das Leben haben. Für die Deutschen ist die EU ein Herzstück ihrer Nachkriegsidentität als moderner Nation, der es gelungen ist, dunkle Abschnitte ihrer Geschichte hinter sich zu lassen. Deshalb ist es für die Deutschen viel wichtiger als für die Briten, Mitglied der EU zu sein. Es ist viel wichtiger für ihr Selbstverständnis und die Art, wie sie die Welt betrachten, als für die Menschen im Vereinten Königreich.

Die Menschen in Großbritannien sehen in der EU schlicht und ergreifend ein ökonomisches Arrangement. Sie betrachten es als etwas, an das man in derselben Weise herangeht wie an die Entscheidung über den Kauf eines Autos oder einen Wohnungswechsel: Wird es funktionieren? Ist es bequem? Kann ich etwas besseres bekommen? So denken die Briten. Natürlich würden viele Leute überrascht und enttäuscht sein, wenn Großbritannien die EU verlassen würde, aber das würde kein ernsthaftes psychologisches Problem sein.

FreieWelt.net: Gibt es irgendetwas, das die Briten aufregen würde?

Andrew Lewer: Wenn Deutschland die EU verlassen würde, würden die Deutschen in den Straßen herumlaufen – irgendwie bestürzt, enstsetzt und gebannt. In Großbritannien würde man in der Kneipe und an der Bushaltestelle darüber diskutieren. Aber niemanden würde es in dieser Weise aufregen. Wenn allerdings das Vereinte Königreich auseinanderbrechen würde, weil sich Schottland für unabhängig erklärt, wäre das für die Menschen in Großbritannien eine Katastrophe.

FreieWelt.net: Wir Deutschen konzentrieren uns immer auf Griechenland, aber nicht auf Großbritannien. Hat das etwas mit dem von Ihnen erwähnten Unterschied zwischen Deutschen und Briten zu tun?

Andrew Lewer: Das hat etwas mit der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit zu tun, dass Griechenland die Eurozone verlässt: Da es sich um ein akutes Problem handelt, absorbiert es jedermanns Aufmerksamkeit. Es ist wahrscheinlich, dass der Fall in den nächsten zwei Wochen oder zwei Monaten eintritt, während das britische EU-Referendum vermutlich erst 2017 abgehalten werden wird.

Allerdings sollten die deutschen Medien diesem Thema größere Aufmerksamkeit widmen. Warum beschäftigt sich die EU so obsessiv mit einem gescheiterten Staat von elf Millionen Einwohnern und mit durchweg negativen ökonomischen Kennzahlen? Sie sollte sich auf die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU konzentrieren, eins der sechs oder sieben größten Länder der Welt, das möglicherweise die EU verlässt, was in jeder Hinsicht ein unglaublich schwerwiegenderes Ereignis wäre.

FreieWelt.net: Spiegelt sich diese Art, mit der Wirklichkeit umzugehen, irgendwie in der Arbeit im Europäischen Parlament wider?

Andrew Lewer: Auf der rechten Mitte und in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) wächst der Frust über das Verhalten der griechischen Politiker. Es geht nicht nur um die für ganz Griechenland verantwortlichen wie Tsipras und Varoufakis, sondern auch um die griechischen Mitglieder des Europäischen Parlaments und ihre Leistungen im Plenum und in den Ausschüssen. Viele von ihnen, vor allem linke, scheinen überhaupt nichts aus der Krise gelernt zu haben, in die ihr Land gestürzt ist, und verbringen ihr Zeit damit, aufzustehen und mehr Geld zu fordern, freien Eintritt in Museen und mehr Fördermittel. Und sobald man sich darüber beschwert, fangen sie an, über Kriegshandlungen Deutschlands oder die Elgin Marbles im Britischen Museum zu sprechen, ohne zu bemerken, dass sie sich Geld geleihen haben, das sie sich besser nicht geliehen hätten, und das sie jetzt zurückzahlen müssen.

FreieWelt.net: Was ist der Zusammenhang zwischen einer Reform der EU und der Entscheidung der Briten, in der EU zu bleiben?

Andrew Lewer: Ich denke, dass sich die EU reformieren muss, damit Großbritannien Mitglied bleibt. Und ich denke, dass der Prozess der Reform viele Jahre dauern kann, dann aber auch ernsthaft sein muss und deshalb viel Arbeit macht. Er würde in dieser Zeit viel politische Aufmerksamkeit der Mitgliedsstaaten erfordern. Gleichwohl wäre das ein Sieg für die Völker, die in der EU ursprünglichen einen Zusammenschluss von 28 Mitgliedsstaaten sehen; und es wäre eine Niederlage für die Leute, die immer noch in einer Art Jean-Monnet-Altiero-Spinelli-Welt der fünfziger Jahre leben, die man hinter sich lassen sollte.

Dazu kommt, dass die Briten dazu neigen, Abgeordnete ins Europäische Parlament zu schicken, die ihr gegenüber skeptisch eingestellt sind, während in den meisten anderen Ländern das Gegenteil der Fall ist. Die Leute, die Mitglied des Europäischen Parlaments werden wollen, stammen üblicherweise aus Ländern, die am eifrigsten und enthusiastischsten ein föderales Europa fordern. Was bedeutet, dass wir britische Mitglieder des Europäischen Parlaments eine etwas verzerrte Wahrnehmung von der Begeisterung in den jeweiligen Ländern bekommen als über altmodische Ansichten über die Zukunft der EU zu erfahren.

FreieWelt.net: Was geschieht, wenn Camerons Vorhaben scheitert, Großbritannien in der EU zu halten, weil er von den anderen Regierungen nicht ausreichend Unterstützung erhält?

Andrew Lewer: Das ist die große Sorge vieler konservativer Mitglieder des Parlaments und des Europäischen Parlaments. Einige wollen geringfügige Veränderungen, andere vielleicht unrealistisch umfangreiche. Aber wir unterstützen alle den Premierminister, wir unterstützen die Bemühungen der Regierung um Neuverhandlungen. Und das schweißt uns zusammen. Aber wenn David Cameron mit sehr wenig aus Reformverhandlungen nach Hause kommt, wird es sehr schwierig.

Es ist unvorstellbar, dass er mit nichts zurückkommt. Ich glaube nicht, dass es im Interesse von Ländern mit einem ähnlichen Blick auf die Welt – also Deutschland, Holland, Dänemark, Schweden, Finnland und so weiter – wäre, wenn man sagte: Friss oder stirb. Aber es gibt eine sehr reale Gefahr: dass ein paar Fragen, die die Menschen im Moment haben, beantwortet werden, dass den Briten möglicherweise eher ein paar Ausstiegsoptionen gegeben werden, als die Gelegenheit beim Schopf zu packen und die EU zu reformieren – und nicht nur, um die Briten zufriedenzustellen. Aber um die EU ernsthaft zu reformieren, und zwar in einer Weise, das sie besser funktionieren lässt und ihre Organisation zum Nutzen aller 28 Mitgliedsstaaten effektiver macht und nicht nur des Vereinten Königreichs, das wird beiseitegelassen.

Das heißt, dass die konservativen Abgeordneten – in London wie in Straßburg –, die eine Reformagenda unterstützen, vollständig abhängig sind von den Verhandlungen Camerons. Es wird eine große Zahl von Abgeordneten geben, die oberflächliche Verhandlungen nicht unterstützen werden. Die Verhandlungsergebnisse werden einen dramatischen Effekt auf die Einsellung der moderaten Konservativen auf die EU haben. Denn sie werden Leute wie mich geneigt machen, den Euroskeptikern zu glauben, die sagen: Die EU ist ein föderalisierendes Projekt mit entsprechendem Ziel und keine Organisation, die den Zweck hat, den 28 Mitgliedsstaaten zu nutzen. Wenn sich die EU als föderales Projekt entpuppt und wir nehmen müssen, was wir kriegen, oder gehen müssen, dann wird eine ziemlich große Zahl von Leuten sagen: In diesem Fall wollen wir gehen.

FreieWelt.net: Was heißt denn »sehr wenig«? Was erwarten Sie wenigstens?

Andres Lewer: Ich denke, dass ein paar Änderungen »sehr wenig« sind, die nur die Dauer und die Möglichkeiten von Migranten von außerhalb der EU betreffen, in Großbritannien Sozialleistungen zu beantragen. Wesentlich bedeutsamer wäre eine Reform, die es dem Vereinten Königreich ermöglichen würde selbst zu entscheiden, wer in das Land hereinkommen darf und es wieder verlassen muss. Das würde es erforderlich machen, das Konzept der Freiheit neu zu fassen, und zwar dahingehend, dass es als Freiheit aufgefasst wird, sich einen Job zu suchen oder in eine finanziell nachhaltige Psoition zu bringen. Persönlich würde ich auch begrüßen, wenn man sich stärker damit beschäftigt, für was die EU eigentlich da ist.

FreieWelt.net: Können Sie das bitte erklären?

Andrew Lewer: Es gibt da einen 1,3 Milliarden Euro schweren Topf, der »Kreatives Europa« heißt – was mir ziemlich viel erscheint. Ich finde, dass das Geld viel besser von den einzelnen Mitgliedsstaaten ausgegeben werden könnte. Obwohl es einen umfangreichen Bewerbungsprozess gibt, sind viele der Projekte sind relativ klein. Die Projekte müssen in Brüssel vorsprechen, Experten aus Brüssel oder Experten, die nach Brüssel fahren, diskutieren darüber. In meinen Augen sollten diese geringfügigen Ausgaben einfach in den Mitgliedsstaaten getätigt werden.

Ein anderes Beispiel ist der Kohäsions- und Regionalfonds, in den die zehn EU-Nettozahler – unter anderem Großbritannien, Deutschland, Holland – große Summen einzahlen. Die Kommission gibt ihnen dann »großzügigerweise« kleinere Summen zurück und sagt ihnen detailliert, wie sie sie auszugeben haben. Für mich ist das eine unglaubliche Zeit- und Geldverschwendung. Warum sollen wir der EU-Kommission 500 Euro zahlen, damit sie uns 200 Euro zurückgibt und uns auch noch Vorschriften macht, wie wir sie ausgeben sollen? Das ergibt doch keinen Sinn.

Und dann sollte der Unsinn mit den zwei Sitzen für das Europäische Parlament ein Ende haben. Ich gebe gerne zu, dass die Kosten im Vergleich zu anderen Ausgaben sehr, sehr gering sind. Aber sie sind zu einem Symbol geworden. Menschen in Großbritannien und anderswo sind ein bisschen müde geworden, immerzu von Politikern einer bestimmten Generation belehrt zu werden, die uns sagen, dass wir die symbolische Bedeutung der EU nicht verstehen. Doch die symbolische Bdeutung ist schon längst durch eine andere ersetzt worden – und das ist die der Verschwendung, der Extravanganz und der überflüssigen Symbolpolitik.

FreieWelt.net: Was ist Ihrer Meinung nach der richtige Zeitpunkt, um ein Referendum abzuhalten?

Andrew Lewer: Ich persönlich glaube, dass es eher 2017 als 2016 abgehalten werden wird, weil ich den Verdacht habe, dass manche Leute, die diesen Prozess vorantreiben, nicht notwendigerweise verstehen, wie kompliziert er ist und wie viele Verhandlungen er erfordert.

FreieWelt.net: Bitte sagen Sie mir, was passieren wird, wenn die Briten dafür stimmen auszutreten – und was, wenn nicht.

Andrew Lewer: Worüber sich die Briten klar sein sollten, aber möglicherweise nicht sind, ist, dass wir der EU nie wieder beitreten können, wenn wir erst einmal draußen sind. Da bin ich mir sehr sicher, nicht nur, weil wir in der Zukunft nicht mehr hinein wollen, obwohl ich nicht glaube, dass wir würden. Aber die Erschütterung, die das überall in der EU auslösen würde, bedeutet, dass der Rest der EU nicht mehr durch soetwas hindurch will. Meine Hoffnung ist, dass der Rest der EU versteht, dass die Lage ernst ist, versteht, dass es um die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU geht. Was immer mit Griechenland geschieht – ob es den Euro verlässt oder aus der EU austritt –, ist unerheblich, wenn man es mit einem Austritt Großbritanniens aus der EU vergleicht.

Wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt, wird die Welt nicht nur für die Briten ein anderer Ort sein, sondern das wäre auch für die EU eine ganz andere Situation, mit der sie sich zurechtfinden müsste. Die EU muss akzeptieren, dass Länder wie die Schweiz oder Norwegen niemals beitreten werden, wenn Großbritannien geht. Wenn aber die EU ernsthaft und grundsätzlich Reformen angeht, dann wäre das britische Volk glücklich zu bleiben. Denken Sie bitte daran, dass die EU im Moment ein Zusammenschluss ist, dem Länder wie Albanien und Serbien beitreten möchten. Ich möchte sie in einen Zusammenschluss reformieren, in den Länder wie Norwegen und die Schweiz beitreten möchten – was im Moment nicht der Fall ist.

FreieWelt.net: Wie würden Sie abstimmen, wenn morgen das Referendum abgehalten werden würde?

Andrew Lewer: Wenn das Referendum morgen wäre, würde ich dafür stimmen zu gehen. Ich würde das aus zwei Gründen tun: Erstens ist das Ausmaß der Bürokratie und der Kosten so hoch, dass es wahrscheinlich besser wäre, sie die EU verlassen, wenn sie nicht reformiert wird. Zweitens: Wenn es morgen ein Referendum gäbe, würde das bedeuten, dass die Bemühungen um eine Reform der EU nicht erfolgreich waren und dass die Botschaft an das britische Volk lautet: Friss oder strib.

Wenn das Referendum in einem Jahr oder 18 Monaten abgehalten wird und die EU demonstriert hat, dass sie sich ändern und modernisieren kann, dann wäre ich dafür zu bleiben.

FreieWelt.net: Vielen Dank für das Interview.

Andrew Lewer ist Mitglied der Konservativen Partei, die sich im Europäischen Parlament der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) angeschlossen hat. Sein Wahlkreis ist East Midlands.

Sie können das Interview auch im englischen Original lesen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Alfred

Man kann es auch kurz und bündig sagen: Fuck the EU!

Gravatar: Jorgos

Das britische Empire existiert schon lange real nicht mehr, nur noch in den Köpfen vieler Briten.
Die EU ist eine Fehlkonstruktion und muss dringend reformiert werden. Es darf keinen europäischen Zentralstaat geben. Die Bürokratien in Brüssel und Straßburg sind auf ein entsprechendes Maß zu reduzieren. Europa ist die Gemeinschaft souveräner, vergleichbarer Staaten, nicht mehr. Die nationalen Rechte auf Ausübung von Sicherheit der Grenzen, Ein-und Ausreise, Asylrecht etc sind allein Sache des jeweiligen Landes.

Gravatar: Marc Detemple

Die Briten sehen die EU als "ökonomisches Arrangement".
Genauso sollten wir Deutschen die EU auch sehen, denn mehr ist sie nie gewesen - wenn überhaupt.
Das Wohl der Menschen in Europa stand in der EU nie im Vordergrund. Das war höchstens ein positiver Nebeneffekt.
An der sog. Krise in Griechenland kann man das gerade wunderbar beobachten.

Für mich ist die EU die moderne "Geißel Europas".
Von mir aus, kann sie lieber heute als morgen verschwinden. Auch wenn ich weiß, daß diese Vorstellung utopisch ist.

Gravatar: Klaus Kolbe

Englands Interesse an Europa war stets nur dergestalt, daß es argwöhnisch darüber wachte, daß auf dem Teilkontinent Europa kein ernstzunehmender Konkurrent für sein Empire entstehen konnte – und wenn doch, überzog man ihn unter Zuhilfenahme des Zweitstärksten und anderer mit Krieg. Zynisch wurde diese perfide Machtpolitik „Balance of Power“ genannt.
England, bar fast jeglicher Realwirtschaft und heillos überschuldet, sehe ich nicht als Teil Europas – sehr wahrscheinlich ebensowenig, wie sie selbst.
Europa braucht diesen unbedeutend gewordenen Inselstaat ganz einfach nicht – umgekehrt wird vielleicht schon eher ein Schuh draus.
Das heißt aber nicht, daß ich dieses zentralistische Brüssel präferiere.
Übrigens hätte interessanterweise England in einem Europa der Vaterländer, wie es de Gaulle vorschwebte, keinen Platz.

Gravatar: kassandro

Wenn es echte Reformen gäbe, dann würden wir sogar mehr davon profitieren als die Briten. Ich befürchte allerdings, daß Cameron wie einst Margaret Thatcher nur einen Beitragsrabatt rausholen möchte und die dringend nötigen strukturellen Reformen unterbleiben. Insgeheim wäre es der EU-Kommission wohl sogar lieber, die Briten würden die EU verlassen, denn dann hätte sie quasi frei Hand mit ihrem Regulierungswahnsinn.

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