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Ich-Stärke schützt vor Missbrauch - Interview Dr. Albert Wunsch

Der bekannte Erziehungswissenschaftler Dr. Albert Wunsch äußert sich im Gespräch mit FreieWelt.net über die Ursachen von Kindesmissbrauch und gibt wichtige Hinweise, wie Eltern einem Missbrauch bei ihren eigenen Kindern vorbeugen können.

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FreieWelt.net: Dr. Wunsch, derzeit erschüttern immer mehr Nachrichten über Missbrauchsfälle an Schulen die Öffentlichkeit. Warum kommt es immer wieder zu solchen entsetzlichen Vorfällen? Wie sind die Profile von Tätern und Opfern?

Dr. Wunsch:
Schwache Menschen suchen den Kontakt zu Schwächeren, um so das Gefühl von Stärke, Überlegenheit und Kontrolle ausüben zu können. Sie treten als Tyrannen in Erscheinung und haben Freude daran, andere zu erniedrigen. Die Kompensations-Formel ist einfach und verwerflich zugleich: ‚Das Kleinmachen eines Gegenübers verschafft diesen Menschen das Gefühl von Größe und Macht’. Da solche Personen in der Regel stark bindungsgestört sind und sich minderwertig erleben, versuchen sie auf leichte Weise Nähe zu erfahren, um so den selbst erlittenen Beziehungsmangel auszugleichen. Ein besonders ‚attraktives’ Feld für solche Bestrebungen ist der Bereich Sexualität, weil sich hier Nähe-Erfahrung, Dominanz und Unterwerfung mit dem Ziel einer hormonellen Triebreduktion verbinden lassen. So sind Kinder ‚ideale’ Opfer für solch pervertierte Aktionen. Der normalerweise bei Erwachsenen vorhandene Beschützerinstinkt für Kinder kehrt sich hier ins Negative um. Nach Gordon Neufeld (Vancouver 2010) tritt folgende Situation ein: ‚Anstatt sich der Erwachsene dazu veranlasst fühlt, für die Schwachen und Verletzlichen zu sorgen, ist er getrieben, sie auszunutzen’.


FreieWelt.net: Familienministerin Kristina Schröder plant jetzt ein neues Kinderschutzgesetz, das u.a. schärfere Auflagen bei der Einstellung von Erziehern vorsieht. Was sollte der Staat Ihrer Meinung nach tun, um Kindesmissbrauch effektiv vorzubeugen?

Dr. Wunsch:
Solche politischen Initiativen gehen für mich in die Richtung Aktionismus. Kein Gesetz wird den Missbrauch verhindern, höchstens etwas erschweren können. Auch schärfere Auflagen bei der Einstellung von Erziehern werden nicht besonders viel bewirken können. Stattdessen hat die Politik die Aufgabe, den freizügigen Umgang mit der Sexualität als Ware stärker in den Blick zu nehmen. Denn wenn ‚haben wollen’, ‚sich selbst bedienen’, ‚ich habe jetzt Bock auf Sex’ zur gesellschaftlichen Normalität zu werden scheint, kritische Aufrufe und Anfragen als Ausdruck ‚ewig Gestriger’ bzw. ‚verklemmter Moralisten’ abgestempelt werden, hat auch der Kindesmissbrauch einen entsprechenden Nährboden.
Zusätzlich müsste - neben diesen gesellschaftlichen Tendenzen - die direkte und indirekte Mitbeteiligung der Politik an dieser Entwicklung, insbesondere am pädophilieförderlichen Klima in den 70er und 80er Jahren, offensiv analysiert werden.

Denn wenn eine SPD/FDP-Regierung in einem Abwasch mit der großen Sexualstrafrechtsreform 1980 auch den § 176 – hier wird der sexuelle Missbrauch von Kindern unter Strafe gestellt - ersatzlos streichen wollte, der Sexualforscher Prof. Kentler  - ein bekennender Pädosexueller - unwidersprochen öffentlich die ‚freie Liebe’ mit Kindern fordern, sich als Gutachter an deutschen Gerichten betätigen sowie in „wissenschaftlichen“ Studien empfehlen konnte und sich ‚Obergrüne’ wie Daniel Cohn-Bendit als Protagonisten eines erotisch-lustvollen Umgangs mit Kindern als Folge der sexuellen Befreiung der 68iger Umbrüche betätigten, hat die Politik reichlich Anlass zur eigenen Problem-Aufarbeitung.
Und wenn in diesen Tagen Grünen-Chefin Claudia Roth in der „Bunten“ die „Unfähigkeit der katholischen Kirche, mit dem Missbrauchsskandal angemessen umzugehen“ als erschreckend bezeichnet, dann sollte sie, wie viele andere durch das Handeln ihrer Parteien involvierte Politiker, erst einmal die eigene Mitwirkung bei der Anlage und der Pflege der Mistbeete, in welchen falsche Kindesliebe und eine schrankenlose sexuelle Nimm-Mentalität wuchern konnten, selbstkritisch und reuevoll überdenken.

Generell ist zu fordern, im Umgang mit Kindern viel mehr Achtsamkeit walten zu lassen. Das heißt konkret, sich aus eigenen Blickverengungen lösen, Ereignisse und Kontakte im Alltag mit den Augen von Kindern sehen und mit Ihnen viel mehr Zeit zu verbringen als Aussage einer konkreter Wertschätzung. So erhalten sie die Chance, sich in Zuwendung und Liebe als Kind realer Eltern geborgen fühlen zu können.


FreieWelt.net: Was viele Beobachter besonders erschüttert, ist die enorme Vielzahl der Fälle. Fast täglich kommen inzwischen neue Meldungen über vergangene Missbrauchsfälle ans Tageslicht. Könnte es sein, daß die Ursachen dafür über die individuelle Verantwortung der Täter hinaus auch in der gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte liegen?

Dr. Wunsch:
Wenn diese Fälle Menschen erschüttern, ist dies ein gutes Zeichen. Aber jede noch so große emotionale Betroffenheit hilft niemandem, wenn nicht konkrete Handlungsschritte einsetzen. Dabei löst ein vorschnelles Zeigen auf andere leicht einen Bumerang-Effekt aus, da jeder sich auch seiner eigenen Mitverantwortung bewusster werden sollte. Denn Wegsehen, Hilferufe nicht wahrnehmen oder vor lauter Beschäftigung mit dem eigenen Ego blind für Probleme anderer werden, begünstigt alle Mißbrauchs-Täter elementar.
Die täglich neuen Meldungen vermitteln aber auch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Einerseits werden Gewalthandlungen gegenüber Kindern, welche vor Jahrzehnten leider noch ‚normal’ im häuslichen und schulischen Erziehungsbereich waren, mit sexualisierten Ereignissen vermengt. Und auch die anderen Missbrauchs-Anschuldigungen bewegen sich häufig recht undifferenziert zwischen ‚beim Nacktduschen beobachtet werden’ und eindeutigen Handlungen.
Aber auch die momentane offensichtlich werdende Fallhäufigkeit ist kritisch zu betrachten. Denn wenn die Medien in derselben Intensität über das weltweite Sterben von Kindern oder im Rückblick auf 20 – 40 Jahre über die Fälle von Kindesvernachlässigung in Deutschland berichten würden, gerieten die traurigen Berichte der Missbrauchsfälle schnell ins Abseits.
Auch wenn jeder einzelne Fall einer zuviel ist, ist das Thema Missbrach in Schulen, Sportvereinen oder Heimen ist nicht das Hauptproblem. Nach Ansicht der überwiegenden Zahl der Fachkräfte findet der weitaus größte Anteil im direkten familiären Umfeld der Familie statt. Solange aber vorrangig die Handelnden in den oben genannten Einrichtungen im Visier der Kameras und Nachrichten-Gazetten sind, können die vielen nicht im Rampenlicht stehen Täter recht entspannt weiter Kinder missbrauchen.
Hier einige Fakten. Nach Schätzung von Prof. Pfeiffer vom Kriminologischen Institut Hannover werden Jahr für Jahr etwa eine Million Kinder missbraucht, in neun von zehn Fällen sind es Mädchen. Und dreiviertel der Täter sind keine Lehrer, Sportwarte, Geistliche oder gar Fremde, sondern die eigenen Väter, männliche Geschwister bzw. Verwandte oder nahe Nachbarn. Harald Schmidt, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes in Stuttgart verdeutlicht: ‚Mißbrauch macht vor keiner sozialen Schicht, keiner Berufsgruppe und keiner Religion halt.’ „Etwa ein Drittel aller sexuellen Gewalttaten werden von Jugendlichen unter 18 Jahren verübt“, weiß Ursula Enders, Leiterin des Vereins „Zartbitter“. Und über 95% der Täter sind männlich.
Das Klima, in welchem ein solcher Missbrauch existieren und wuchern kann, gilt es mit aller Kraft zu bekämpfen. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge, welche dazu führten, wurden schon in der vorangegangenen Frage aufgegriffen.



FreieWelt.net: Viele Eltern machen sich angesichts der offensichtlichen Gefahren große Sorgen um ihre Kinder. Welche Schritte empfehlen Sie als Erziehungswissenschaftler den Eltern, um die Gefahr eines Missbrauchs bei ihren Kindern zu begrenzen?

Dr. Wunsch:
Dreh- und Angelpunkt dafür, dass Kinder möglichst keine Ansatzpunkte für Missbrauchs-Attacken bieten, ist eine altersgemäß entwickelte ‚Ich-Stärke’. Sie ist das Ergebnis einer ‚ungeschuldeten Liebe’, wie der Gesprächstherapeut Carl Rogers es einmal sehr treffend formulierte. Eine solche Zuwendung ist nicht an Vor-Bedingungen geknüpft und basiert auf einem ehrlichen Interesse am Kind. So wächst Vertrauen in sich selbst und in die Bezugspersonen. Dies ist die Basis einer starken Autonomie. Solche Kinder tragen quasi ein Schild auf der Stirn mit der Botschaft: ‚Ich bin ich, ohne meine Zustimmung passiert hier nichts!’ Dagegen scheinen andere die Inschrift zu offerieren: ’Mit mir kannst du’s machen!’
Im ersten Fall konnten Kinder reichlich ‚satte’ Beziehungs-Erfahrung machen, im zweiten Fall entwickelte sich stattdessen Unsicherheit oder gar Angst. So wird sich ein selbstbewusstes Kind in schwierigen Situationen den Eltern anvertrauen, während mangelnde Vertrautheit und Sicherheit sich in Schweigen äußert. Dass viele Kinder, welche durch emotionale Vernachlässigung, Trennung, Scheidung oder Tod von Vater oder Mutter bzw. einer sonst sehr wichtigen Bezugsperson hier besonders anfällig für eine falsche Suche nach Nähe bzw. Zuwendung sind oder sich ins eigene Selbst zurückziehen, wird offensichtlich.

Kommen solche Kinder bzw. Mädchen in die Pubertät, führen diese unterentwickelten oder unerfüllten positiven Bindungs-Erfahrungen häufig dazu, dass sie nun als frühe bzw. frühreife Jugendliche im Streben nach sexualisierter Nähe diesen Ur-Mangel ausgleichen wollen. Solche ‚Lolitas’ stellen dann ihre erotischen Reize zur Schau und suchen recht aktiv entsprechende Männerkontakte. Dies darf jedoch für keinen Erwachsenen als ‚Freibrief’ gelten. Stattdessen wäre hier aktive Beziehungspflege und ein ‚Nachholen’ von wichtigen guten Nähe- und Geborgenheits-Erfahrungen im Elterhaus notwendig. Bleibt eine angemessene Reaktion aus, werden sich Nähe-Suche und Bindungs-Hunger schnell als sexuelle Interaktions-Sucht manifestieren.

Die fehlende Neigung eines Kindes, seinen Bezugspersonen bedrückende Geheimnisse anzuvertrauen, ist meist Ausdruck eines Mangels an individualisiertem Selbstausdruck und Selbsterhaltungsinstinkt. Wenn sexuelle Interaktionen grundsätzlich stark tabuisiert sind, wie es in manchen religiösen Kreisen der Fall ist, kann dies die sexuellen Obsessionen und Zwänge noch weiter verstärken.

Kinder haben den besten Schutz-Schild gegenüber Missbrauchs-Attacken, wenn sie:
   
·    viel Selbstbewusstsein und  ein großes Vertrauen in die wichtigsten Bezugspersonen entwickeln konnten
·    sich möglichst zeitnah über beunruhigende Kontakte oder Ereignisse mit Erwachsenen äußern können, um sich so vor (weiteren) Verletzungen zu schützen
·    ihre Wut und Enttäuschung über ‚Zudringlichkeiten’ und Einschüchterungen zeigen dürfen 
·    gelernt haben, sich an schlechte und bedrückende Geheimnis-Zusagen nicht gebunden fühlen zu müssen.
·    in all diesen Fällen ihre Eltern oder andere nahe Personen als Beschützer und Unterstützer ihrer Sorgen und Nöte erfahren, selbst wenn diese nicht  - bzw. noch nicht - belegbar oder überzogen sein sollen

Diese Voraussetzungen können weder per Lehreinheiten oder Moralpredigten vermittelt werden, noch können wir unsere Kinder wirkungsvoll über die Gefahren des Missbrauchs aufklären. Sie haben aber gute Wachstumsbedingungen, wenn Kinder von der Geburt an spüren, angenommen und geliebt zu sein. Diese ‚Eigenschaften sind die Frucht erfüllender und nährender Bindungen und können nur zu Hause wachsen. Wenn Kinder in Umständen leben, wo die Verletzlichkeit unerträglich ist, gehen diese Fähigkeiten verloren’. Dann werden Kinder, so das Neufeld-Institut in Vancouver, eine ‚leichte Beute’ für Missbrauchs-Täter.
                
Das Interview führte Christoph Kramer

Internetauftritt von Dr. Albert Wunsch: www.albert-wunsch.de
 
(Foto: Dr. Albert Wunsch)

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Gravatar: Lars-Michael Lehmann

Vielen Dank an Dr. Wunsch! Es ist richtig ein gesundes Selbstbild ist der beste Schutz vor sexuellen Missbrauch!

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