Frits Bolkestein EU-Kommissar a.D.

Ex-EU-Kommissar Frits Bolkestein: „Being nice to each other“ ist zu wenig

Ex-EU-Kommissar Frits Bolkestein erklärt im FreieWelt-Interview, warum die Europäische Union ihre Probleme nicht gelöst bekommt - und wie sie wieder handlungsfähig werden kann (Teil I)

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Frits Bolkestein war in der Zeit der Präsidentschaft Romano Prodis (1999-2004) EU-Kommissar für Binnenmarkt, Steuern und Zollunion. In den Niederlanden war er über viele Jahre der führende Politiker der liberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VDD). Seine Stellungnahmen finden Gehör, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in der angelsächsischen Welt. FreieWelt.net besuchte ihn im Hochsommer in Amsterdam. Er empfängt den Besuch in seinem privaten Lesezimmer. Das Interieur ist schlicht, es besteht vor allem aus Bücherschränken – das Ambiente ist klassisch-bildungsbürgerlich. Dem Interviewer aus Deutschland begegnet Bolkestein freundlich-interessiert, auf seine Fragen antwortet er ohne Umschweife – klar, präzise und schnörkellos. Die Fragen in Deutsch – die Antworten sind aus dem Englischen übersetzt und von Prof. Bolkestein beglaubigt – mit englischem O-Ton zu einigen lapidaren Aussagen.

Interview Teil I: Eine Konglomerat von Nationen, aber kein Bundesstaat - Wie die Niederländer über die Europäische Union denken

FreieWelt.net: Herr Bolkestein, am Ende Ihrer Studienzeit 1959, also zur Hoch-Zeit des „Kalten Krieges“, hatten Sie vor, eine Doktorarbeit über den „antidemokratischen Intellektuellen“ zu schreiben. Dieses Thema hat Sie auch weiter beschäftigt, wie Ihre jüngste Publikation „The Intellectual Temptation – Dangerous Ideas in Politics“ bezeugt. Statt eine Dissertation zu schreiben, haben sie als Manager in der Ölindustrie angefangen. Warum?

Bolkestein: Nach meinem Studium ging ich zu Shell, weil ich etwas von der Welt sehen wollte. Und außerdem wollte ich ein Handwerk lernen. Ich hatte Philosophie, Altgriechisch und Mathematik studiert – nichts davon ist sehr praktisch. Und ich wollte natürlich auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Also - deshalb ging ich zu Shell und arbeitete 16 Jahre für Shell, zehn Jahre davon in unterentwickelten Ländern und sechs Jahre in Europa, in London und in Paris, nie in Holland.

FreieWelt.net: Warum sind sie dann in die Politik gegangen?

Bolkestein: Ich verließ Shell 1977, weil ich unzufrieden mit der seinerzeitigen Regierung war. Das war damals die Regierung unter Joop den Uyl, dem Führer der Sozialdemokraten (PvdA-Partei der Arbeit), die von 1973-1977 regierte. Ich dachte, wenn ich schon so sehr gegen diese Regierung bin, dann sollte ich besser etwas dagegen tun. So wurde ich 1978 Parlamentsabgeordneter und gehörte dem Parlament bis 1982 an. Dann wurde ich Wirtschaftsstaatssekretär für internationalen Handel, später Verteidigungsminister und im Jahr 1990 Fraktionsvorsitzender meiner Partei im Parlament. Ich war dann acht Jahre Fraktionsvorsitzender bis 1998, dann wurde ich Mitglied der EU-Kommission, wo ich für den Binnenmarkt, Finanz- und Steuerfragen und die Zollunion zuständig war.

FreieWelt.net: Was waren ihre zentralen Anliegen in der Politik? Was konnten sie erreichen?

Bolkestein: Wenn Sie mich fragen, was ich erreichen konnte, dann möchte ich bescheiden sein. Man ist ja immer versucht, seine Erfolge größer einzuschätzen als sie tatsächlich sind. Aber ein paar Dinge tat ich schon.

Erstens betonte ich die Notwendigkeit eines niedrigen Haushaltsdefizits, das tue ich auch heute noch. Und für eine Weile war ich damit erfolgreich. Aber dann begann natürlich wieder alles aus den Fugen zu geraten in der Krise – die wir noch immer durchleben. Das ist die erste Sache, der ich mich widmete.

Zweitens veränderte ich in Holland die Einstellung zur Europäischen Union. Die traditionelle niederländische Haltung hat sich über die Jahre ziemlich gewandelt. In den 1950er Jahren begann sie kritisch, weil man das Gefühl hatte, dass die Europäische Union Holland von seinen maritimen Bestrebungen ablenken und zu einer kontinentalen Orientierung führen würde. Wir waren besorgt, dass unsere traditionelle Haltung für den Freihandel sich hin zum Protektionismus verändern könnte. Das war der Grund dafür, warum die Minister dieser Zeit, und besonders Willem Drees, der damalige Führer der Sozialdemokraten, der Europäischen Union kritisch und zurückhaltend gegenüberstanden. Sie befürchteten, dass die Europäische Union uns viel Geld kosten würde und deshalb war ihre Haltung: Wait and see – careful. Das änderte sich. In den 1960er, 70er und 80er Jahren wurde Holland zu einem überzeugten Anhänger eines europäischen Bundestaates - einer Föderation wie der Bundesrepublik, der USA, Australiens oder Kanadas. Als ich 1990 meine Arbeit als Fraktionsvorsitzender begann, entschied ich, dass ich das nicht wollte. Ich stellte mich entschieden gegen eine Föderation, weil ich sagte: In Europa, gibt es keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame öffentliche Meinung, kein einheitliches Rechtssystem, kein europäisches Volk. Und wenn du kein Volk hast, dann kannst du auch keinen Bundesstaat haben. Damit fehlen die Grundvoraussetzungen für eine europäische Föderation. Deshalb sagte ich: Wir sollten aufhören von einem Bundesstaat zu sprechen („We should stop talking about a Federation“) und wir sollten die Europäischen Union als Konglomerat von Staaten betrachten, die sich verpflichtet haben, in einer föderalen Art und Weise bestimmte Regeln einzuhalten und Probleme zu lösen. Abgesehen von ein paar Leuten, die noch an ihn glauben mögen, sind wir auf Distanz gegangen zu einem europäischen Bundesstaat. Das ist die „standard opinion“ in den Niederlanden geworden. Wir betrachten die Europäische Union nun als Konglomerat von Mitgliedsstaaten, die sich verpflichtet haben, gemeinsam Probleme zu lösen und bestimmte Regeln zu befolgen. Ob sie das dann auch tatsächlich tun, ist wieder etwas anderes. Ich wirkte daran mit, die Sichtweise der Mehrheit auf die Europäische Union zu verändern.

Drittens widmete ich mich, wieder zu Beginn meiner Zeit als Fraktionsvorsitzender, der Frage der multikulturellen Gesellschaft. Und auch hier war ich konfrontiert mit einem Vorhaben der Regierung, mit dem ich nicht einverstanden war. Der Vorschlag hieß: „Integration while retaining cultural identity“ bzw. „Integration with retention of cultural identity“. Dazu meinte ich: Das ist Unsinn. Das ist ein Widerspruch im Begriff selbst, eine „contradictio in terminis“. Denn wenn du dich integrierst, veränderst du deine kulturelle Identität. Und ich wusste, dass ich darin mit dem übereinstimmte, was große Teile der niederländischen Gesellschaft empfanden. Ich sagte, dass Einwanderer, die in die Niederlande kommen, Ausweise erhalten, Staatsbürger werden etc., in einem freien Land leben würden. Sie müssten den Grundannahmen, den fundamentalen Regeln der niederländischen Gesellschaft, zustimmen. Dazu gehören die Trennung von Staat und Kirche, Gleichheit von Männern und Frauen, Gleichheit vor dem Gesetz und diese Dinge. Eben die fundamentalen Menschenrechte, die die niederländische, und, wie ich annehme, auch die deutsche Gesellschaft prägen. Das schrieb ich für eine unserer großen Tageszeitungen in einem langen Beitrag nieder, der einen ziemlichen Wirbel verursachte. Wenn Leute heute, nach zwölf Jahren, diesen Artikel lesen, würden sie sagen: „Warum hast Du dir die Mühe gemacht, das zu schreiben? Das ist doch das, was wir alle denken.“ Aber damals war die Lage noch anders.

Ein weiterer Punkt, den ich vielleicht beeinflusste, ist die Entwicklungshilfe. Wie schon erwähnt, verbrachte ich zehn Jahre in Entwicklungsländern, Ostafrika, Zentralamerika, Indonesien. Und natürlich erlebte ich, was dort passierte und warum diese Länder arm, in ihrer Entwicklung zurück geblieben, waren. Und ich sagte: Der niederländische Ansatz war falsch, weil die Entwicklungshilfeminister dieser Zeit eine „Top-down“-Lösung verfolgten. Die Antwort liegt nicht in einem „Top-down“-Verhältnis, sondern auf der lokalen Ebene. Unterentwicklung ist eine lokale, keine internationale Angelegenheit. („Underdevelopment is a local matter, not an international matter“). Auch das ärgerte damals viele Leute in den Niederlanden. Aber jetzt stimmen sie zu.

Meine zentralen Anliegen, in denen ich etwas erreichte, waren also: Erstens eine gesunde Fiskalpolitik, dazu gehören niedrige Inflation, niedrige Schulden etc.; zweitens die Europäische Union, drittens die Frage der multikulturellen Gesellschaft und zuletzt vielleicht die Entwicklungshilfe.

Lesen Sie morgen Teil II des Interviews

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