Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer Bucerius Law School

"ESM beschneidet die Budgethoheit des Parlaments" - Interview mit Jörn Axel Kämmerer

Wenn der Bundestag eine Beschneidung der Budgethoheit des Parlaments vermeiden will, muss er dem ESM-Vertrag die Zustimmung verweigern, so die Einschätzung des Hamburger Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Jörn Axel Kämmerer von der Bucerius Law School. Im Interview gibt er Antworten auf die vielschichtigen rechtlichen Probleme und Fragen, die der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) zur Folge hat.

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FreieWelt.net: Herr Prof. Dr. Kämmerer, der Vertragsentwurf zum sog. Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) liegt vor. Wie ist für Sie als Staatsrechtler dieser Vertrag zu qualifizieren? Gibt es etwas Vergleichbares heute oder in der Geschichte?

Prof. Dr. Kämmerer: Viele Elemente des Vertragsentwurfs sind offensichtlich von der Satzung des Internationalen Währungsfonds inspiriert. Der IWF, der gegründet worden war, um für die weltweite Konvertibilität von Währungen zu sorgen, hat sich nach und nach zu einem Instrument der Entwicklungshilfe, vor allem für Staaten mit budgetären Schieflagen, gewandelt. Wenn er solchen Staaten Kredite gibt, geschieht dies weniger aus humanitären Erwägungen heraus, sondern weil von bankrotten Staaten Gefahren für den internationalen Zahlungsverkehr und
den Welthandel ausgehen. Beim ESM gilt dies mit der Modifikation, dass zusätzlich die Stabilität einer gemeinsamen Währung geschützt werden muss. Dies macht seine Besonderheit aus, von den neuen Dimensionen der finanziellen Unterstützungsleistungen
ganz zu schweigen.

In die Architektur der europäischen Institutionen fügt sich der ESM nicht gerade harmonisch ein. Im Grunde wird hier durch völkerrechtlichen Vertrag eine auf die Eurozone bezogene neue Internationale Organisation geschaffen. Das Schlagwort „Transferunion“ scheint mir
dafür unpassend, denn die Kreditvergabe findet gerade nicht im Rahmen der durch den Lissabon-Vertrag geschaffenen Strukturen, sondern in einem parallel dazu geschaffenen intergouvernementalen Rahmen statt. Mit der anvisierten Änderung des Art. 136 AEUV wird
nur die dafür nötige Öffnungsklausel geschaffen, denn formal gesehen wird am Prinzip des „no bailout“ (Art. 125 AEUV) festgehalten.

Was hier also geschieht, ist, dass Konstruktionsfehler der europäischen Verträge – zu denen ich die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne stärker integrierte Wirtschaftspolitik und zumindest rudimentäre Finanzausgleichsregeln rechne – nicht durch Umbau des Systems, sondern durch Beifügung eines externen Taktgebers ausgeglichen werden.

FreieWelt.net: Laut Artikel 10 des Vertrages soll der ESM die Höhe des „Rettungsvolumens“ von derzeit 700 Mrd.
Euro jederzeit und unbegrenzt erhöhen können. Der ESM erhält damit ganz unmittelbar die Kontrolle über den Haushalt in den einzelnen Nationalstaaten, also auch in Deutschland. Worin besteht dann die Aufgabe des Parlamentes und der Bundestagsabgeordneten? Worüber können die noch bestimmen?

Prof. Dr. Kämmerer: Zu sagen, dass der ESM die Kontrolle über die Haushalte der Mitgliedstaaten bekomme, scheint mir übertrieben; aber es ist schon richtig, dass eine Erhöhung des Grundkapitals die haushaltspolitischen Spielräume Deutschlands und damit die Budgethoheit des Parlaments
beschneidet. Wenn der Bundestag das generell verhindern will, kann er dem Gesetz zum ESM-Vertrag seine Zustimmung versagen. Auch mit der Zustimmung zu diesem Gesetz erteilt das Parlament aber nicht jeder Kapitalerhöhung einen Freibrief. Vielmehr ist zur Erhöhung
des Grundkapitals eine Änderung des Art. 8 ESM-Vertrag erforderlich, wie Art. 10 Abs. 1 bestätigt. Dort ist außerdem vorgesehen, dass der Beschluss in Kraft tritt, sobald die ESMMitglieder „die Verwahrstelle über den Abschluss ihrer geltenden nationalen Vorschriften in
Kenntnis gesetzt haben.“

Der Vertrag hat also durchaus im Blick, dass eine Kapitalerhöhung – die übrigens nur einvernehmlich beschlossen werden kann – nicht allein Sache des Gouverneursrates ist. In Deutschland müssen Bundestag und Bundesrat ihr in Gesetzesform zustimmen, weil sie als Vertragsänderung in vereinfachtem Modus deren demokratische Mitwirkungsrechte tangiert. Dies wird durch Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG bestätigt und ist durch das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Vertragsurteil für diese Konstellationen nochmals mit Recht unterstrichen worden. Die Parlamente sind also nicht ganz wehrlos; eine andere Frage ist, ob sie ihre Waffen erforderlichenfalls auch zum Einsatz zu bringen gedenken.

FreieWelt.net: Der Vertrag spricht von Unverletzlichkeit der Archive, des Hausrechtes, von Immunität für alle Beteiligten Personen, von der Befreiung des ESM-Vermögens durch den Zugriff über nationale Gesetze, über Regierungshandeln usw. (Art. 27). Bleiben dem Bürger, den Parlamenten, den Regierungen irgendwelche Rechtsmittel gegen den ESM oder dessen Mitglieder?

Prof. Dr. Kämmerer: Auch für die genannten Regeln war das IWF-Statut Vorbild, in dessen Art. IX sich nahezu wortgleiche Bestimmungen finden. Zu einer Institution, die funktional der EU zugeordnet ist, wollen aber solche genuin völkerrechtlichen Bestimmungen nicht recht passen. Solange der ESM keine „Eurobonds“ auf den Markt werfen darf, besteht allerdings keine Notwendigkeit, eine Klage vor nationalen Gerichten – die nur auf Zahlung aus diesen Papieren gerichtet sein kann – gegen den ESM möglich zu machen. (Umgekehrt gilt, dass solche Anleihen überhaupt nur dann marktfähig wären, wenn sie unter Verzicht auf Immunität ausgegeben würden.)

Im Übrigen heißt Immunität nicht, dass Handlungen des ESM generell sakrosankt sind und in keinem Fall angegriffen werden können. Erwachsen Streitigkeiten zwischen ESM-Mitgliedern oder einem Mitglied und dem ESM, so können diese nach Art. 32 Abs. 3 des Vertrages vor den Europäischen Gerichtshof gebracht werden. Für Klagen Einzelner ist aber kein Raum. Dies ist selbst gegenüber der Europäischen Zentralbank anders: Obwohl auch sie sie unabhängig handelt, kann sie Adressat einer von Individuen erhobenen Nichtigkeitsklage sein (vgl. Art. 263 Abs. 1, 4 AEUV).

Das ist allerdings weitgehend graue Theorie, denn in der Praxis fehlt es Rechtsakten der EZB praktisch immer an der individuellen Zielrichtung, die Voraussetzung einer Individualklage ist, und das Gleiche wird auch von Rechtsakten des ESM anzunehmen sein. Die Rechtsschutzlücke ist insofern eher „kosmetischer“ Art. Nationale Parlamente können den EuGH ebenfalls nicht anrufen. Wer dies als Rechtsschutzdefizit ansieht, müsste darlegen, worauf eine Klage der Parlamente konstruktiv gestützt werden sollte.

Der Lissabon-Vertrag erkennt ihnen einzig das Recht zu, gegen die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips bei der europäischen Rechtsetzung vorzugehen – aber der ESM setzt kein Sekundärrecht im Sinne des AEU-Vertrags, das sich am Subsidiaritätsprinzip messen lässt. Was ihnen zu Gebote steht, ist die Anrufung der mitgliedstaatlichen
Verfassungsgerichte.

FreieWelt.net: Welche Rolle kann das Bundesverfassungsgericht bzw. der Europäische Gerichtshof bei Klagen gegen Entscheidungen des ESM spielen?

Prof. Dr. Kämmerer: Es kann nicht genuine Aufgabe der Verfassungsgerichte (wozu ich den EuGH auch rechnen will) sein, darüber zu wachen, ob ein Land oder die Union insgesamt sich finanziell übernimmt. Wie viel in einen ESM von wem eingebracht und was davon einem in die Krise geratenen Staat zu welchen Bedingungen ausgezahlt wird, ist nur in Grenzen justiziabel, vor allem dann, wenn damit eine unüberprüfbare Prognoseentscheidung verbunden ist.

Wenn wir heute im Grunde nicht wissen, ob die Unterstützung Griechenlands oder vielmehr die Versagung seiner Unterstützung zum Desaster führt, kann man von einem Verfassungsgericht nicht erwarten, durch diesen „veil of ignorance“ hindurch sehen zu können.

Insofern ist unwahrscheinlich, dass ein Verfassungsgericht die äußersten materiellrechtlichen Grenzen – Verlust der finanziellen Handlungsfähigkeit – als überschritten rügen wird. Was die Verfassungsgerichte einfordern können, sind demokratische Partizipation und die Beachtung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze; als Hebel zur Verhinderung politischer Prozesse
eignet sich ihre Anrufung wenig. Dies gilt im ESM ganz besonders für den EuGH, der hier nur eine sehr begrenzte, auf Organleihe beruhende Zuständigkeit hat.

FreieWelt.net: Wie sehen Sie die weitere Entwicklung der EU und wohin sollte Sie sich Ihrer Meinung nach hin
entwickeln?

Prof. Dr. Kämmerer: Ich halte derzeit fast jedes Szenario für denkbar, ein völliges Auseinanderbrechen der EU aber für wenig wahrscheinlich. Mit den jüngst bewilligten Unerstützungen für Griechenland dürfte die Krise noch nicht ausgestanden sein. Der Erfolg einer möglicherweise doch noch fälligen Umschuldung wird davon abhängen, dass es der EU gelingt, sie nicht als solche deklarieren zu müssen (und damit implizit den Default, die Staatsinsolvenz, feststellen zu müssen).

Noch wichtiger dürften Anstrengungen sein, die absurde Macht der Ratingagenturen zu beschneiden, welche in der Finanzmarktkrise versäumt hatten, Alarm zu
schlagen, und nun dafür reichlich Öl ins Feuer gießen. Der Versuch, eine unabhängige öffentliche Ratingstelle zu schaffen, sollte zumindest unternommen werden. Was speziell den ESM betrifft, würde ich ihn weniger als Schritt in die richtige Richtung bezeichnen wollen denn als Versuch, durch zusätzliche Verstrebungen den Kollaps eines statisch ungenügenden Bauwerks zu verhindern.

Langfristig wird die EU nicht darauf verzichten können, zur Währungsunion ein angemessenes Gegengewicht in Gestalt einer stärker integrierten gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu schaffen. Diese politische Balance kann nicht ohne weitere Integrationsschritte erreicht werden, sie beschränken sich aber auf die Mitgliedstaaten der Eurozone. Im ESM deutet sich ihre Entwicklung hin zu einem „Kerneuropa“ an, während die übrigen Mitgliedstaaten sich in einem äußeren, weniger
integrierten Kreis finden könnten. Ob alle Staaten, die jetzt den Euro als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt haben, längerfristig zum „inner circle“ gehören können, wird die Zeit erweisen.

Herr Prof. Dr. Kämmerer, vielen Dank für das Gespräch.

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Kommentare zum Artikel

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"Noch wichtiger dürften Anstrengungen sein, die absurde Macht der Ratingagenturen zu beschneiden, welche in der Finanzmarktkrise versäumt hatten, Alarm zu schlagen, und nun dafür reichlich Öl ins Feuer gießen. Der Versuch, eine unabhängige öffentliche Ratingstelle zu schaffen, sollte zumindest unternommen werden."

Sehr geehrter Herr Professor,
eine unabhängige öffentliche Ratingstelle kann es gar nicht geben; denn diese wird von der Politik (durch Steuern, als Diebstahl) finanziert und wird deshalb die Marionette der Politik sein.
Bei allen Fehlern der privaten Ratingstellen, Meinungsfreiheit schätze ich hoch ein – im Gegensatz zu Ihnen, denn aus dem angeführten Zitat schließe ich, dass Ihnen die Meinungsfreiheit nicht sonderlich schmeckt und Sie demnach gegen zivile Freiheiten, gegen "res publica libera" sind!
Übrigens, zwischen 1933 und 1945 war die Meinungsfreiheit in Deutschland grundsätzlich verboten, auf dem Gebiet der DDR noch bis 1989; in der BRD herrscht natürlich auch nur eingeschränkte Meinungsfreiheit. Aber: "Die Gedanken sind frei!"

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