Interview mit Sabine Wüsten

Eltern unter Rechtfertigungsdruck

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Mit der Gründung der Initiative „Mütter für Mütter“ in Mecklenburg-Vorpommern haben Sabine Wüsten und ihre Mitstreiterinnen auf ein Defizit in ihrem Umfeld reagiert, Familie und Erziehung der Kinder positiv zu gestalten. FreieWelt.net sprach mit der sechsfachen Mutter über die Arbeit ihrer Initiative, die Auswirkungen der DDR-Krippenpolitik und was Eltern und Kinder wünschen und brauchen. 

FreieWelt.net: Frau Wüsten, vor wenigen Wochen fand die u.a. von Ihrer Initiative „Mütter für Mütter“ veranstaltete Fachtagung „Beziehungswaise? Beziehungsweise! Kinder im Geflecht von Beziehungen“ in Neubrandenburg statt. Welche Erkenntnisse konnten Sie für Ihre Arbeit bei „Mütter für Mütter“ daraus ziehen?

Sabine Wüsten: Nach unserer Veranstaltung bekamen wir viel Zuspruch von den Beteiligten. Die ungeheuer offene Atmosphäre erlaubte es, über die vielen schweren Kindheitserfahrungen zu sprechen. Fast alle TeilnehmerInnen kamen aus sehr frühen Krippenerfahrungen, sie mussten funktionieren und Gefühle waren tabu. Für die Meisten bedeutet dies ein kompletter Erinnerungsausfall an ihre Kindheit, die im Gedächtnis ja insbesondere gefühlsmäßig verankert ist. Erschreckend waren viele erinnerte Traumata im Zusammenhang mit wochenlangen Kur- und Krankenhausaufenthalten oft fast ohne jeden Elternkontakt. Es war eine starke Stimmung von Trauer, Hilflosigkeit, aber auch Wut zu spüren. Traumaarbeit ist fast kollektiv angesagt.

FreieWelt.net: Bindungssicherheit ist demnach ganz Wesentlich für die Entwicklung des Kindes und die spätere Verfassung des Menschen. Unter welchen Voraussetzungen werden Kinder später zu sicher gebundenen Menschen?

Sabine Wüsten: In den Vorträgen wurde ganz klar, dass ein sicherer und feinfühliger Bindungsaufbau für die körperliche und geistige Entwicklung unabdingbar ist. Voraussetzung dafür sind kompetente Bindungsfiguren, in der Regel die Eltern, die eine permanente Sicherheitsbasis durch ihre Erreichbarkeit gewährleisten und die natürliche Neugierde von Kindern ohne Angst und ermutigend begleiten. Klingt einfach, ist aber sehr anspruchsvoll.

Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe

FreieWelt.net: Vor mehr als fünf Jahren haben Sie gemeinsam mit anderen engagierten Müttern die Initiative „Mütter für Mütter“ in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) gegründet, um Ihre „Lebenserfahrung in Bezug auf Gestaltung von Familie und Erziehung der Kinder an andere Mütter weiterzugeben“. Haben Sie denn damals in Ihrem Umfeld diesbezüglich ein deutliches Defizit feststellen müssen oder wie kam es dazu?

Sabine Wüsten: Ja, das war so. Manchmal habe ich unseren Kindern wenn sie aus der Schule nach Hause kamen deutlich gemacht, dass ich keine weiteren Geschichten über ihre Klassenkameraden hören konnte. Gegenseitige Demütigungen bis an die Schmerzgrenze, bis hin zu gewalttätigen Attacken mitten im Unterricht, waren alltäglich. Eine starke pornografische Sexualisierung verbal und per Handy in Bild und Ton, Promiskuität unter Kindern und Jugendlichen ab 14 Jahre. Fast alle Kinder verbrachten die überwiegende Zeit am Tag ohne Rückkopplung zu den Eltern, auch gemeinsame Mahlzeiten waren und sind nicht selbstverständlich. Die Sehnsucht nach Zuwendung und Liebe war mit Händen zu greifen. Leider hat sich daran bis heute nichts geändert. Über die Hälfte der Kinder wachsen bei nur einem Elternteil auf, die Folgen sind atemberaubend, weil niemand mehr Kraft für Kinder besitzt und sie überdies oft zum Spielball auf dem elterlichen „Schlachtfeld“ werden.

FreieWelt.net: Was konkret bieten Sie an, um Familien und insbesondere Mütter zu unterstützen?

Sabine Wüsten: In allen Gruppen, ob im offenen Treffpunkt des Mütter-Cafés, in unseren Eltern-Kind-Gruppen oder bei den verschiedenen Kursen, bekommen Eltern eine klare, eindeutige Orientierung in Form von Information und emotionaler Unterstützung. Wir stellen uns hinter die Mütter, weil wir inzwischen die erfreuliche Entdeckung gemacht haben, dass fast alle Mütter ihre Kinder nicht gerne mit einem Jahr in fremde Hände geben und ihre Kinder sehr lieben, auch wenn sie oft nicht wissen, wie sie ihre Liebe angemessen zum Ausdruck bringen sollen. Wir helfen dabei Leib und Seele zu öffnen, damit das Leben mit den Kindern in gute Bahnen kommen kann. Unser Einsatz erstreckt sich auch manchmal über mehrere Jahre und mit intensiver Einzelbetreuung unter Zuhilfenahme bindungsorientiert arbeitender professioneller Netzwerke. Unser Schlüssel heißt „persönlicher Beziehungsaufbau“.

Mangelnde emotionale Erfahrung aus der eigenen frühen Kindheit

FreieWelt.net: Ihre Eltern-Kind-Gruppe richtet sich an Eltern mit Kindern von 0-3 Jahren. 2012 landete Mecklenburg-Vorpommern mit einer Betreuungsquote der unter Dreijährigen von 53,6% auf dem zweiten Platz hinter Sachsen-Anhalt. Wie groß ist der Bedarf an einem solchen Angebot?

Sabine Wüsten: Mir erscheint der Bedarf größer als die tatsächliche Inanspruchnahme. Sehr viele Alleinerziehende sind stark isoliert, überfordert und unfähig, ihre Einsamkeit zu durchbrechen. Die so belasteten Mütter sind heilfroh, wenn sie dann ihre Kinder – auch mit den oben beschriebenen schlechten Gefühlen – mit einem Jahr in die Kita geben können. Jeder sagt ihnen, dass es das Beste für das Kind sei und sie glauben es dankbar. Es gibt nur wenige Mütter, die ihre Kinder nicht abgeben. Für diese Mütter ist unsere Gemeinschaft eine Quelle der Ermutigung und Bestätigung. Wenn sie dann die schwierigen Jahre der ersten Autonomieentwicklung mit ihren Kindern erfolgreich gemeistert haben, sind sie zu Recht stolz und sie wissen, dass sie eine sehr belastbare Beziehung zu ihren Kindern gegründet haben.

FreieWelt.net: In der DDR galt die berufstätige Mutter und Ganztagsbetreuung ab dem Säuglingsalter als Normalfall. Die damals rundum betreuten Kinder sind heute erwachsen und zumeist selber Eltern. Welche Auswirkungen hat eine solche Sozialisation Ihrer Erfahrung nach für die heutige Erziehung und Betreuung in Ostdeutschland?

Sabine Wüsten: Eltern-sein war schon immer schwierig und herausfordernd. Kinder treiben uns mit ihrer Vitalität sehr oft an unsere Grenzen. Wer da keine innere Ruhe, äußere Stabilität und geklärte Vorbilder und Erziehungsstrategien besitzt, hat es immer schwer, einen guten Weg zu finden. Für die heutige Elternkrippengeneration fehlt wie eingangs erwähnt schon die emotionale basale Erfahrung aus der eigenen frühen Kindheit. Sehr viele Menschen sind daher physisch und psychisch nicht wirklich belastbar, kommen schnell an ihre Grenzen und reagieren wie jeder, der sich in die Enge getrieben sieht, mit Aggressionen. Bewährte, gut Erziehungserfahrungen sind so gut wie nicht vorhanden, der Satz, „da musste ich auch durch, es hat mir ja nichts geschadet,  also kann das mein Kind auch aushalten“ ist leider eine gängige Entschuldigung für problematische Verhaltensweisen. Die eigene Beziehungsunfähigkeit (Patchwork, Alleinerziehend) wird dabei so gut wie nie reflektiert.

Erziehungsarbeit ist Knochenarbeit, der Lohn ist pralles Glück

FreieWelt.net: Manuela Schwesig, die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern, ist eine der vehementesten  Verfechterinnen des intensiven Ausbaus der Kleinstkind-Betreuung. Das Betreuungsgeld nennt sie „Irrsinn“ und „unverantwortlich“, es sei nichts anderes als eine „Fernhalteprämie“.  Was zeigen Ihre Erfahrungen in der Praxis – trifft sie damit den  Nerv der Familien in ihrem Bundesland?

Sabine Wüsten: Viele unserer alleinerziehenden Mütter oder Familien sind Hartz-IV-Empfänger. Sie erhielten diese Leistung sowieso nicht ausbezahlt. Dann gibt es natürlich viele Familien, die mit einem Gehalt nicht, oder nicht so wie ein Doppelverdiener-Paar ohne Kind, leben können oder wollen. Hier würden sich sicherlich einige für eine längere Pause auf dem bezahlten Arbeitsmarkt entscheiden, wenn sie einen wirklichen Ausgleich für ihre Erziehungsarbeit zu Hause erhielten. Insgesamt aber ist das Ansehen eines Menschen, der sich „nur“ um die Erziehung der eigenen Kinder kümmert so miserabel, dass sich nur wenige diesem Rechtfertigungsdruck stellen möchten.

Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Eltern quer durch alle Schichten, die froh sind, wenn sie ihre Kinder möglichst wenig ertragen müssen. Insbesondere für diese wäre es aus meiner Sicht bedenkenswert, das Bertreuungsgeld in angemessener Höhe (Verdienst) an einen gleichzeitigen Kompetenzerwerb des erziehenden Elternteils zu knüpfen. Ich habe sechs Kinder groß gezogen, werde demnächst Großmutter und meine Kinder sind eine übergroße Ernte an Freude, Lebensmut und Verantwortungsbewusstsein, Leistungsfähigkeit  und Sozialkompetenz. Ich könnte mich also auf meinen Lorbeeren ausruhen. Dennoch staune ich über alles, was ich im Bereich Schwangerschaft, Geburt, Erziehung ständig an Neuem lerne. Wir kennen inzwischen so viele wissenschaftlich erhärtete Fakten, was Eltern und Kinder brauchen, um erfolgreich aneinander zu wachsen, dass ich allen werdenden Eltern, auch wenn sie noch so schlau und gebildet sind, nur dringend ans Herz legen kann: informiert euch, bildet euch mit Leib und Seele fort und lasst euch intensiv und fundamental davon berühren, was es heißt Eltern zu sein. Fragt nach, denkt mit, geht euren Gefühlen ehrlich auf den Grund, kommt mit eurer eigenen Kindheit ins reine. Das ist mehr, als ein Studium an der Hochschule bieten kann!

Ja, es ist schwere Arbeit, Knochenarbeit, unbezahlt und nicht angesehen, aber der Lohn ist pralles Glück!

FreieWelt.net: Was brauchen, was wünschen sich Familien Ihrer Meinung nach in erster Linie?

Sabine Wüsten: Frieden in den eigenen vier Wänden, verlässliche Ehepartner, Wärme, Vertrauen, gegenseitige Wertschätzung und Ermutigung, gute innerfamiliäre Zusammenarbeit.

FreieWelt.net: Und was wünschen Sie sich, mit Blick auf Ihre Arbeit bei „Mütter für Mütter“, von Politik und Gesellschaft?

Sabine Wüsten: Die Erkenntnis und Einsicht, dass nachhaltige und hochwertige Elternarbeit die fundamentale Voraussetzung ist, um uns aus der gegenwärtigen, wachsenden Krise in jeder Hinsicht herauszuarbeiten.

FreieWelt.net: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Weitere Informationen zur Initiative "Mütter für Mütter" finden Sie hier.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Hanne Kerstin Götze

Vielen Dank, Frau Wüsten, für dieses Interview. Ich schätze die Situation insgesamt genauso ein.
Wir haben im Osten inzwischen einen solchen Beziehungsnotstand, dass wir tatsächlich ein flächendeckende Traumaaufarbeitung bräuchten. Aber über allem liegt noch der Mantel des Schweigens. Ihn zu lüften, tut Not, ist aber auch sehr schmerzhaft. Und das steht der Aufarbeitung leider im Wege. Es sind daher nur kleine Schritte, wie diese Aktionen von "Mütter für Mütter" möglich. Daher nochmals vielen Dank!

Hanne Kerstin Götze
Autorin von "Kinder brauchen Mütter"

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