Interview mit Yuval Noah Harari

Die Geschichte der Menschheit

FreieWelt.net spricht mit den israelischen Historiker Dr. Yuval Noah Harari über sein jüngstes Buch, mit dem sich der Bestsellerautor nicht weniger vornahm, als die Geschichte der Menschheit zu schreiben.

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FreieWelt.net: Die Geschichte der Menschheit in einem einzigen Buch erzählen zu wollen, ist ein ziemlich ehrgeiziges Projekt. Wie sind sie auf diese Idee gekommen?

Harari: In gewisser Weise habe ich ein Versprechen eingeflößt, das ich mir als Kind gegeben habe. Ich war etwa 12 oder 13 Jahre alt und hatte das Gefühl, die Erwachsenen würden ein wichtiges Geheimnis über die Welt vorenthalten. Etwas später, ich war inzwischen 15 oder 16, kam ich dahinter. Sie selbst verstanden die Welt nicht. Erwachsene gaben vor, zu verstehen, wie die Welt funktioniert und zu wissen, was gut ist und was böse, und wie man sich zu verhalten hätte – tatsächlich hatten sie keine Ahnung, wie die Welt funktioniert. Und seltsamerweise kamen sie so durchs Leben, sich nur auf die kleinen Dinge des Alltags konzentrierend, während sie die großen Fragen ignorierten – da ihnen die Antworten fehlten. Und so versprach ich mir, wenn ich selbst einmal erwachsen bin, werde ich mich nicht in den kleinen Fragen verlieren, sondern mich ernsthaft bemühen, das „große Ganze“ zu verstehen.

FreieWelt.net: Lassen Sie uns nun zur Geschichte der Menschheit kommen. Vor etwa 70 000 Jahren der Homo Sapiens sich auf dem Planten auszubreiten und innerhalb kürzester Zeit domminierte er ihn von den Wüsten Australiens bis zu den entlegenen, arktischen Regionen Sibiriens. Wie lässt sich diese bespiellose Erfolgsgeschichte erklären?

Harari: Der Erfolg des Homo Sapiens rührt daher, dass er als einzige Spezies in beinahe beliebig großen Gruppen zusammenarbeiten kann.  Ameisen und Bienen arbeiten zwar auch in großen Gruppen zusammen, doch sie spulen nur starre Programme ab und kooperieren nur mit ihren Geschwistern. Schimpansen sind flexibler als Ameisen, doch auch sie arbeiten nur mit einigen wenigen Artgenossen zusammen, die sie gut kennen. Menschen sind dagegen ausgesprochen flexibel und können mit einer großen Zahl von Wildfremden kooperieren. Und genau deshalb beherrscht der Mensch die Welt, während Ameisen unsere Essensreste verzehren und Schimpansen in unseren Zoos und Forschungslabors herumhocken. Sie können sich jede bedeutende menschliche Errungenschaft ansehen – große Städte, Handelsnetze, Mondflüge oder die Entschlüsselung der DNA – und sie werden das Ergebnis von großangelegten, flexiblen Kooperationen zwischen Fremden erkennen.

Doch befähigt dem Menschen zur Zusammenarbeit in großen Gruppen? Die Antwort ist: Unsere Vorstellungskraft oder, um es anders auszudrücken, unsere Fähigkeit, über Dinge zu reden, die es nicht gibt. Sie werden einen Schimpansen schwerlich davon überzeugen können, auf seine Banane zu verzichten, indem Sie ihn einen endlosen Bananenvorrat im Affenhimmel versprechen. Nur Menschen glauben an Dinge wie den Himmel. Solche Ideen sind von entscheidender Bedeutung, denn menschliche Zusammenarbeit basiert immer auf dem gemeinsamen Glauben an eine Idee.

Kirchen etwa basieren auf Menschen mit gemeinsamen Glaubensvorstellungen. Zwei Katholiken können gemeinsam auf einen Kreuzzug gehen oder ein Spendenkonto für den Bau von Krankenhäusern einrichten, weil sie beide an einen Gott glauben, der als Mensch auf die Erde kam und für unsere Erlösung der Menschen am Kreuz. Auch Nationen basieren auf einem gemeinsamen Mythos. Zwei Serben, die sich nie begegnet sind, könnten ihr Leben füreinander riskieren, denn sie eint der Glauben an die serbische Nation, die serbische Heimat und die serbische Flagge. Dasselbe gilt für das Rechtssystem. Zwei Anwälte, die sich gänzlich fremd sind, können gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um einen ebenfalls fremden Mandanten zu verteidigen, denn beide glauben an Gesetze, Gerechtigkeit, Menschenrechte – und an das Geld, mit dem man ihr Honorar begleicht.

All diese Dinge existieren aber lediglich in Form von erfundenen Geschichten, die Menschen einander erzählen. In diesem Universum gibt es Götter, Geld, Menschenrechte, Gesetze und Gerechtigkeit nur in Form gemeinsamer, menschlicher Vorstellungen.

 

FreieWelt.net: Wie hat der Mensch die Ökosysteme beeinflusst, die er auf seinem Weg hin zur weltweiten Dominanz in Besitz nahm?

Harari: Der Mensch hat die Ökologie unseres Planeten von Anfang an – lange vor dem Industriezeitalter - vollständig umgekrempelt. Wir glauben nur zu gerne, dass unsere Vorfahren in Harmonie mit der Natur lebten und dass wir erst in den letzten 100 bis 200 Jahren massiven Einfluss auf das Ökosystem genommen haben. Tatsächlich veränderte der Mensch das Ökosystem bereits vor 50 000 Jahren.

Vor 50 000 Jahren erreichten die ersten Menschen die Küste Australiens und innerhalb von wenigen tausend Jahren waren 95% aller australischen Großwildarten ausgestorben. Aktuellen Schätzungen zufolge starben 75% aller großen Säugetierarten in Nordamerika, und 85% aller großen Säugetierarten in Südamerika durch die Neuankömmlinge aus. Als die ersten Menschen Ostafrika verließen, lebten etwas 200 Großwildarten auf diesem Planeten. Zur Erfindung des Ackerbaus waren noch 100 Arten übrig. Der Homo Sapiens hatte etwa die Hälfte aller Großwildarten ausgerottet, noch bevor er das Rad, die Schrift oder Eisenwerkzeuge erfand.

Die anschließende Entwicklung der Landwirtschaft und der Industrie hat das ökologische Gesicht unseres Planeten weiter verändert und uns ermöglicht zur dominanten Spezies aufzusteigen. Heute bevölkern sieben Milliarden Menschen unseren Planeten. Wenn Sie alle Menschen auf eine riesige Waage stellen würden, kämen Sie auf rund 300 Millionen Tonnen. Wenn Sie alle Nutztiere – Kühe, Schweine, Schafe und Hühner – auf dieselben Waage stellen würden, kämen Sie auf etwa 700 Millionen Tonnen. Im Gegensatz dazu brächten die freilebenden Wirbeltiere – von Igeln und Spitzmäusen bis zu Elefanten und Walen – gerade einmal 100 Millionen Tonnen auf die Waage. In unseren Kinderbüchern und auf unseren Fernsehschirmen wimmelt es nur so vor Giraffen, Wölfen und Schimpansen, doch in der wirklichen Welt gibt es kaum noch Wildtiere. In Deutschland gibt es ungefähr 150 Wölfe, aber 5 Millionen Hunde. Auf der Welt gibt es heute nur noch 200,000 Wölfe, verglichen mit 400 Millionen Hunden.

FreieWelt.net:  Das Feuer, das Rad, die Dampfmaschine: diese Erfindungen gelten als Meilensteine der menschlichen Entwicklung. Gab es in der Geschichte der Menschheit ähnlich bedeutende Innovationen, die man gemeinhin übergeht?

Harari: Es gibt viele wichtige Erfindungen, an die wir selten denken. Um nur ein Beispiel zu nenne: die Nadel. Die Nadel wurde vor mindestens 50 000 Jahren erfunden und sie war entscheidend für den Siegeszug der Menschheit. Menschen haben sich in Afrika entwickelt und waren daher sehr empfindlich gegenüber Kälte. Selbst die Neandertaler, die Europa für hundertrausende Jahre bevölkerten haben und kälterem Klima sehr viel besser gewachsen waren, sind an der Besiedlung Skandinaviens oder der Arktis gescheitert. Die Körper der ostafrikanischen Menschen waren nur für warmes Klima geeignet und dennoch gelang es ihnen dank einer Reihe einfallsreicher Erfindungen in kürzester Zeit nicht nur Skandinavien und die Arktis sondern auch Sibirien, Alaska und schließlich Amerika zu besiedeln. Und eine dieser Erfindungen war die Nadel. Auch die Neandertaler kleideten sich mit Fellen und Tierhäuten, doch dank der Nadel konnten die Menschen mehrere Fell und Hautschichten zusammennähen und Thermokleidung kreieren, ohne die das Überleben in arktischer Kälte unmöglich gewesen wäre.

FreieWelt.net: In ihrem Buch erklären Sie die zunehmende Globalisierung der menschlichen Gesellschaften anhand von Nationalgerichten?

Harari: Wir reden noch immer von „ursprünglichen“ Kulturen, aber wenn wir mit „ursprünglich“ etwas meinen, das sich unabhängig entwickelt hat, uralte regionale Traditionen verkörpert und nicht von außen beeinflusst wurde, dann gibt es das heute nicht mehr. In den vergangenen Jahrhunderten haben sich sämtliche Kulturen unter einer Flut globaler Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Ein interessanter Fall sind tatsächlich die Nationalgerichte. Wenn wir in ein italienisches Restaurant gehen, erwarten wir Spagetti mit Tomatensoße, bei polnischen und irischen Restaurants denken wir spontan an Kartoffeln, in einem argentinischen Restaurant wollen wir saftige Rindersteaks essen, in indischen Restaurants freuen wir uns auf kräftig mit Chili gewürzte Currygerichte, und in einem Schweizer Café auf die heiße Schokolade. Aber der Kakao kommt ursprünglich genauso wenig aus der Schweiz wie die Tomaten aus Italien oder die Chilischoten aus Indien. Tomaten, Chili und Kakao stammen aus Mesoamerika und kamen erst im 16. Jahrhundert, nach der Eroberung des Aztekenreichs durch die Spanier, nach Europa und Asien. Julius Caesar und Dante Alighieri aßen nie Spaghetti mit Tomatensoße, Wilhelm Tell wusste nicht, wie Schokolade schmeckt und Buddha würzte seine Speisen nicht mit Chili. Die Kartoffeln kamen vor weniger als 400 Jahren nach Polen und Irland. Und das einzige Steak, das man 1492 in Argentinien bekam, stammte vom Llama.

FreieWelt.net: Was waren die wichtigsten Triebfedern dieser frühzeitlichen Globalisierung?

Harari: Aufgrund seiner Evolution teilt der Mensch andere Menschen in zwei Gruppen ein. Die erste heißt „wir“ und die zweite heißt „die anderen“. Zur ersten Gruppe gehörten alle unmittelbar um einen selbst herum. Zur zweiten Gruppe gehörten alle andern. Auch andere soziale Tierarten folgen nie dem Interesse der gesamten Gruppe. Ein Schimpanse wird sich nie für das Wohlergehen aller anderen Schimpansen interessieren. Keine Schnecke jemals einen Fühler krumm machen, um für die Rechte einer globalen Schneckengemeinschaft einzustehen. Und kein Löwe wird jemals davon, träumen, König aller Löwen zu werden. Und an keinem Bienenstock wird man die Losung »Arbeiterbienen aller Länder, vereinigt euch« lesen.

Aus biologisch-evolutionärer Sicht ist die Globalisierung ein sehr seltsames Phänomen. Es ist sehr seltsam, dass Menschen auf dem gesamten Globus begannen miteinander zusammenzuarbeiten. Wie ich bereits vorher erwähnte, war der entscheidende Faktor für diese Art der Kooperation die menschliche Vorstellungskraft – die Fähigkeit zum gemeinsamen Mythos. Drei verschiedenen Formen von Mythen spielten dabei eine entscheidende Rolle: Das Geld, das Imperium und die Religion.

Geld, Imperien und Religionen basieren alle auf der Idee, dass die Welt eine Einheit und die Menschheit eine Gemeinschaft ist. Händler, Eroberer und Propheten waren die ersten, die den Gegensatz von „wir“ und „die anderen“ überwanden. Für die Händler war die ganze Welt ein Markt und alle Menschen potenzielle Kunden. Sie wollten eine Wirtschaftsordnung errichten, die für alle Menschen gleichermaßen galt. Für die Eroberer war die ganze Welt ein Imperium und alle Menschen potenzielle Untertanen. Sie wollten eine politische Ordnung errichten, die für alle Menschen gleichermaßen galt. Und für die Propheten gab es auf der ganzen Welt nur eine einzige Wahrheit, und alle Menschen waren potenzielle Gläubige. Sie wollten eine religiöse Ordnung errichten, die für alle Menschen gleichermaßen galt.

Über die Jahrhunderte unternahmen die Menschen immer ehrgeizigere Anstrengungen, um diese Vision in die Tat umzusetzen und schließlich hatten sie Erfolg! Heute teilen sogar Menschen, die nichts als Hass füreinander übrig haben, dieselben Mythen. Denken sie an Osama bin-Laden. Trotz all seiner Verachtung für die amerikanische Religion, die amerikanische Kultur und die amerikanische Politik, war der doch sehr offen für amerikanische Dollars. Der Dollar ist ein weiterer Mythos – nichts als ein Stück wertloses Papier. Seinen Wert erhält er  nur aufgrund des Glaubens, den die Menschen in ihn setzen. Und dennoch ist dieser Mythos so mächtig, dass auch Osama bin-Laden sich ihm nicht entziehen konnte.

FreieWelt.net: In den vergangenen Jahrhunderten hat Europa die Welt domminiert. Warum Europa?

Harari: Die vordergründige Antwort ist, weil sich Kapitalismus und modern Wissenschaft zuerst in Europa entwickelte, und sich von dort über den Erdball verbreitete. Und da die modernen Wissenschaften und die kapitalistische Wirtschaftsordnung die bestimmenden Kräfte der jüngeren Geschichte waren, war Europas Aufstieg zum weltweiten Hegemon naheliegend.

Dies ist aber kaum eine befriedigende Antwort, denn man könnte nun fragen, warum sich die moderne Wissenschaft und der Kapitalismus zuerst in Europa entwickelt haben und nicht in Indien oder China? Für diese Frage kennen haben wir keine Antwort.

Es gehört zu den erstaunlicheren Wendungen der Geschichte, dass die Bewohner einer Insel im Nordatlantik Ende des 18. Jahrhunderts einen Kontinent auf der Südhalbkugel des Planeten eroberten. Über Jahrtausende hinweg waren die Britischen Inseln und ganz Westeuropa nichts als ein unbedeutender Wurmfortsatz des Mittelmeerraums gewesen. Hier passierte nichts, was von Bedeutung gewesen wäre. Auch das Römische Reich, das einzige europäische Imperium, verdankte seinen Reichtum den Provinzen in Nordafrika, dem Balkan und dem Nahen Osten. Die westeuropäischen Provinzen Roms waren ein armer und unterentwickelter „Wilder Westen“, der außer Erzen und Sklaven nichts zu bieten hatte. Der Norden Europas war sogar derart verlassen und rückständig, dass sich die Römer gar nicht erst die Mühe machten, ihn zu erobern.

FreieWelt.net: Inzwischen tummeln sich um die sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Kann die Erde all diese Menschen auf Dauer ernähren?

Harari: Theoretisch ist der Rohstoff- und Energievorrat des Planeten begrenzt, sodass er schließlich zuneige gehen und unser Wirtschaftssystem kollabieren muss. Soweit die Theorie. Tatsache ist: Während der Energie- und Rohstoffhunger der Menschheit in den letzten Jahren explodiert ist, haben die verfügbaren Vorkommen zugenommen. Sobald ein Versorgungsengpass drohte das Wachstum abzuwürgen, floss Geld in Wissenschaft und Technik. So entwickelten sich ständig neue und effizientere Methoden die Ressourcen auszubeuten, aber auch völlig neue Energiequellen und Rohstoffe wurden entdeckt.

Nehmen wir die Fahrzeugindustrie. In den vergangenen dreihundert Jahren hat die Menschheit Milliarden von Fahrzeugen gebaut – von Handwagen und Schubkarren über Eisenbahnen und Autos bis hin zu Düsenflugzeugen und Space Shuttles. Man sollte meinen, dass wir durch diese gewaltige Produktion inzwischen sämtliche Rohstoffe erschöpft haben und mittlerweile am Boden des Tellers kratzen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Während die Fahrzeugindustrie im Jahr 1700 ihre Wagen und Kutschen aus Holz und Eisen baute, verwendet sie heute ein wahres Wunderhorn neuer Materialien wie Aluminium, Titan und vor allem Kunststoffe, von deren Existenz unsere Vorfahren noch nichts ahnten. Und während im Jahr 1700 die Energie vor allem aus der Muskelkraft der Schmiede und Zimmerleute, aus mit Holz befeuerten Schmelzöfen und mit Wind und Wasser betriebenen Mühlen stammte, werden die Fließbänder bei Volkswagen und Airbus heute mit Verbrennungsmotoren und Atomstrom in Gang gehalten. Der Fahrzeugbau hat eine Revolution erlebt, genau wie fast jede andere menschliche Tätigkeit.

Ein weiteres eindrückliches Beispiel ist das Aluminium. Das Aluminium wurde erst in den 1820er Jahren entdeckt, doch die Gewinnung war extrem aufwändig und kostspielig. Jahrzehntelang war Aluminium teurer als Gold. In den 1860er Jahren ließ Kaiser Napoleon III von Frankreich für seine vornehmsten Gäste ein Aluminiumbesteck auflegen – weniger distinguierte Gäste mussten mit Messern und Gabeln aus Gold Vorlieb nehmen.97 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Chemiker ein neues Verfahren, mit dem sich billiges Aluminium in großen Mengen herstellen ließ, und gegenwärtig werden weltweit pro Jahr 30 Millionen Tonnen des Leichtmetalls produziert. Napoleon III würde vermutlich blass, wenn er hören würde, dass die Nachfahren seiner Untertanen ihre Baguettes oder Essensreste in Aluminium einpacken.

Während des Ersten Weltkriegs verhängten die Alliierten eine Wirtschaftsblockade gegen Deutschland. Das Kaiserreich litt unter extremer Rohstoffknappheit, und vor allem Salpeter, das zur Herstellung von Sprengstoffen benötigt wird, war nicht zu bekommen. Die wichtigsten Salpetervorkommen befanden sich in Chile und Indien, in Deutschland wurde es gar nicht abgebaut. Salpeter ließ sich zwar durch Ammoniak ersetzen, aber auch das war teuer. Zum Glück für die Deutschen hatte einer ihrer Landsleute, der jüdische Chemiker Fritz Haber, im Jahr 1908 eine Möglichkeit entdeckt, wie sich Ammoniak aus der Luft gewinnen ließ. Das Verfahren war zwar kostspielig, doch als die Deutschen nach Kriegsausbruch investierten, verbesserten sie die Methode und begannen mit der Herstellung von Sprengstoffen aus Luft. Einige Wissenschaftler meinen, ohne Haber hätten die Deutschen schon lange vor dem November 1918 kapitulieren müssen.98 Im Jahr 1918 bekam Haber den Nobelpreis für seine Entdeckung – den Nobelpreis für Chemie, wohlgemerkt – nicht den Friedensnobelpreis.

Aber auch wenn die Angst vor Ressourcenknappheit offenbar keine Grundlage hat, sehe ich eine andere, allzu reale Gefahr; die Gefahr der ökologischen Zerstörungen. Wir könnten in der Zukunft beobachten, wie die Menschen einer Vielzahl neuer Ressourcen und Energiequellen habhaft werden, und zugleich den meisten Tierarten die Lebensräume entziehen, und sie aussterben lassen.

Umweltzerstörung sollte nicht mit Rohstoffknappheit verwechselt werden. Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, stehen der Menschheit immer mehr Ressourcen zur Verfügung, und das wird sich vermutlich auch in Zukunft nicht ändern. Die Rohstoffsituation ist also vermutlich kein Grund für Weltuntergangsszenarien. Die Furcht vor der Umweltzerstörung ist dagegen umso berechtigter. In Zukunft könnte der Menschin Ressourcen schwimmen, während die meisten natürlichen Lebensräume vernichtet und die meisten Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind.

Die Umweltprobleme könnten auch das Überleben des Menschen selbst gefährden. Die Erderwärmung, die schmelzenden Polkappen, der Anstieg der Meeresspiegel und die verbreitete Verschmutzung von Luft und Wasser könnten die Lebensbedingungen auf der Erde dramatisch verschlechtern, und in Zukunft könnte ein sich aufschaukelnder Wettlauf zwischen den menschlichen Möglichkeiten und den von Menschen verschuldeten Naturkatastrophen entstehen. Wenn wir unsere Macht nutzen, um die Naturgewalten zu bändigen und das Ökosystem nach unseren Wünschen und Vorstellungen zu manipulieren, kann dies immer mehr unbeabsichtigte und gefährliche Nebenwirkungen mit sich bringen. Diese lassen sich vermutlich nur durch noch drastischere Eingriffe in das Ökosystem kontrollieren, was wiederum noch schlimmeres Chaos verursacht.

Viele sprechen von einer „Zerstörung der Natur“. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch nur um eine Veränderung. Die Natur selbst lässt sich nicht zerstören. Vor 65 Millionen Jahren löschte ein Meteorit die Dinosaurier aus, doch gleichzeitig machte er den Weg für die Säugetiere frei. Heute löscht die Menschheit zahlreiche Arten aus und könnte sich sogar selbst ein Grab schaufeln, doch anderen Arten kommt dies sehr entgegen. Ratten und Kakerlaken erleben beispielsweise ein Goldenes Zeitalter. Diese zähen Lebewesen würden selbst unter den rauchenden Trümmern des nuklearen Holocaust hervorkriechen und ihre DNA weitergeben. Vielleicht werden intelligente Ratten in 65 Millionen Jahren voller Dankbarkeit auf die Verheerungen zurückblicken, die wir Menschen heute anrichten, genau wie wir heute auf den Meteoriten zurückblicken, der die Dinosaurier ausradierte.

FreieWelt.net: Wir wollen mit einer äußerst spekulativen Frage schließen. Wird es in 10 000 Jahren immer noch Menschen geben?

Harari: Diese Frage lässt sich tatsächlich sehr einfach beantworten. Nein, in 10 000 Jahren wird es die Menschen nicht mehr geben. Das ist ganz offensichtlich. Spannender und schwerer zu beantworten ist die Frage, ob es in 100 oder 200 Jahren immer noch Menschen geben wird. Wenn man sich das Tempo des technischen Fortschrittes anschaut, erscheint dies nicht sehr wahrscheinlich. In den nächsten 200 Jahren werden die Menschen derart viele Möglichkeiten haben, dass wir – vorausgesetzt, wir löschen uns nicht selbst aus – in der Lagen sein werden, uns in eine höhere Daseinsform, quasi eine andere Art zu verwandeln.

Dies könnte auf drei verschiedenen Wegen passieren: Erstens durch die biologische Manipulation unserer selbst. Bio-Ingenieure könnten die Erscheinung, die Fähigkeiten und die Sehnsüchte der Menschen verändern, um sie einer bestimmten kulturellen Vorstellung anzupassen. Dies ist per se nichts Neues. Menschen bedienen sich seit 10. 000 Jahren der Zuchtwahl, der Kastration und anderer Methoden der biologischen Manipulation. Jedoch eröffnen unsere neu erworbenen Erkenntnisse über die Funktionsweise von Organismen, die bis auf die zellulare und genetische Ebene hinabreichen, Möglichkeiten der Manipulation, die für unsere Vorfahren unvorstellbar gewesen wären. Zum Beispiel können Wissenschaftler heute Gene einer grün fluoreszierenden Qualle entnehmen und in einen Hasen implantieren, der dann seinerseits grün fluoresziert.

Kolibakterien wurden genetisch verändert, sodass sie menschliches Insulin oder Bio-Kraftstoff produzieren. Es ist gelungen, Kartoffeln mit Hilfe der Gene einer arktischen Fischsorte frostresistent zu machen.

Gentechniker haben bereits superintelligente Mäuse mit verbessertem Gedächtnis und schneller Auffassungsgabe erschaffen oder einen Methusalem-Wurm, der doppelt so lange lebt wie seine Artgenossen.  Es gibt keine ersthaften technischen Hindernisse auf dem Weg zum Supermenschen. Innerhalb des nächsten Jahrhunderts oder nur der nächsten Jahrzehnte können uns die Gentechnik und andere Methoden weitgehende Veränderungen an uns Menschen ermöglichen: an unserem Immunsystem, unserer Lebenserwartung, unserem physischen Erscheinungsbild und sogar an unseren geistigen und emotionalen Fähigkeiten.

Der zweite vorstellbare Weg, auf dem der Mensch sich verbessern könnte, ist noch radikaler. Statt sich auf die Manipulation von Lebewesen zu beschränken, könnten künftige Wissenschaftler dazu übergehen, anorganische Teile in menschliche Körper einzupflanzen und »Cyborgs« zu erschaffen. Gemeint sind Lebewesen mit nicht lebenden Teilen – ein Beispiel wären Menschen mit elektronischen Armprothesen.

In gewisser Weise bedienen sich die meisten Menschen schon heute der Technik, um ihre körperlichen und biologischen Limitationen zu überwinden. Denken sie an Brillen, Kontaktlinsen, Herzschrittmacher oder Computer. Diese Entwicklung wird künftig sehr viel weitreichender sein. Es könnte sehr wohl sein, dass wir in Zukunft mehr und mehr technische Geräte unmittelbar mit unseren Körpern verbinden. Maschinen untrennbar mit uns verbunden, die unsere Fähigkeiten, Sehnsüchte, Persönlichkeiten und Identitäten in fundamentaler Weise verändern.

Schon heute gibt es funktionstüchtige Prototypen von Ohren, Gliedern und Armen, die man direkt an das Gehirn anschließen kann. Derzeit dienen diese Geräte dazu, Menschen mit körperlichen Behinderungen das Leben zu erleichtern, doch schon bald könnten wir mit ihnen unsere Fähigkeiten erweitern. Noch sind künstliche Arme alles andere als ein vollwertiger Ersatz für richtige Arme, doch das Entwicklungspotential ist nahezu unbegrenzt. Die künstlichen Arme könnten in Sachen Kraft eines Tages Boxweltmeister in den Schatten stellen. Außerdem könnte man sie warten, austauschen oder gegen ein besseres Model ersetzen. Ein Mensch könnte seine Arme von seinem Körper trennen und sie fernsteuern oder sich sechs statt zwei Arme gönnen und  einer hinduistischen Gottheit nachahmen.

Während ich ihnen diese Zeilen schicke, arbeiten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Nanotechnologie an einem künstlichen Immunsystem bestehend aus einer Armee von Milliarden mikroskopischen Robotern, die eines Tages in unserem Körper herumschwirren könnten, um verkalkte Blutgefäße zu reinigen, Viren und Bakterien zu bekämpfen, Krebszellen zu entfernen oder sogar den Alterungsprozess aufzuhalten. Ehrgeizigere Projekte befassen sich mit der Entwicklung von Computer-Hirn-Schnittstellen, die neuronalen Signale im menschlichen Hirn zu lesen und zugleich Signalen an die Neuronen zu senden. Mit dieser Technologie könnte man Gehirne direkt an das Internet anschließen oder mehrere Gehirne miteinander verbinden. Niemand kann heute auch nur ahnen, wie dies das menschliche Bewusstsein und die menschliche Identität verändern könnte.

Drittens könnte die Wissenschaft das Feld der Biologie gänzlich hinter sich lassen und nicht biologisches Leben erschaffen. Das Human Brain Projekt, das 2005 seinen Anfang nahm, arbeitet daran ein vollständiges menschliches Gehirn in einem Computer zu simulieren, indem die Schaltkriese in den Mikrochips die Funktion der Hirnzellen übernehmen. Dem Projektleiter zufolge könnte es – eine ausreichende Förderung vorausgesetzt – in zehn bis zwanzig Jahren gelingen, ein Computergehirn zu erschaffen, das fühlt, spricht und sich verhält wie ein menschliches Gehirn. Ein Erfolg dieses Projektes würde bedeuten, dass das Leben nach vier Milliarden Jahren die Gitterstäbe der biologischen Evolution sprengt, sich zu anorganischen Sphären aufschwingt und Formen jenseits unserer kühnsten Träume annimmt.

Nicht alle Forscher stimmen darin überein, dass das menschliche Gehirn auf eine Art funktioniert, die analog zu unseren heutigen Computern ist. Es also nicht sicher, ob die Entwicklung des künstlichen Gehirns gelingen wird. Nichtsdestotrotz hat die Europäische Union das Human Brain Project im April 2013 zu ihrem Prestigeprojekt erklärt und entschieden, es mit einer Milliarde Euro zu fördern. Die EU – so scheint es – glaubt also durchaus an einen Durchbruch auf diesem Gebiet.

Zugegeben, es ist der EU in ihrer Geschichte nicht immer gelungen, zukünftige Entwicklungen richtig einzuschätzen. Und ich wäre sehr überrascht, alles, was ich gerade beschrieben habe, tatsächlich Realität wird. Die Geschichte lehrt uns, dass Entwicklungen die zum Greifen nahe scheinen, auf unvorhergesehene Hürden treffen können und sich nie realisieren. Nach Hiroshima und Sputnik glaubten viele, im Jahr 2000 würden Menschen mit Hilfe von Kernkraft und Raumfahrt Kolonien auf Mond, Jupiter und Pluto unterhalten. Andererseits ahnte niemand etwas vom Internet, das so viel faszinierender ist als Mondreisen.

Ich habe gerade keine Prophezeiungen gemacht, ich wollte lediglich ihre Fantasie anregen. Wir können heute nicht wissen, wann und in welchem Maße die Menschen ihre Daseinsformen verändern werden, aber wir müssen uns mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass es passieren könnte. Wir befinden uns inmitten eines Prozesses, an dessen Ende wir Fähigkeiten erlagen können, die uns erlauben, unseren Körper und unseren Geist auf neue Stufen zu heben und zu Göttern zu werden.

Dies ist keine Science Fiction. Die Meisten Science-Fiction-Geschichten handeln von gewöhnlichen Menschen die mit überlegenen Technologien wie Raumschiffen und Laserkanonen herumhantieren. Die ethischen und politischen Dilemmata dieser Geschichten sind aus unserer Welt entlehnt. Sie tun nichts, als unsere emotionalen und sozialen Konflikte vor einem futuristischen Hintergrund nachzuzeichnen. Aber das tatsächliche Potential künftiger Technologien besteht darin die Menschheit selbst zu verändern. Dies beinhaltet nicht nur unserer Werkzeuge und unsere Autos, sondern betrifft den Kern unseres Menschseins selbst.

FreieWelt.net: Wir bedanken uns für das Interview. 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: H.von Bugenhagen

Na ist denn das...
Der Vormensch der aus dem Meer kam und an Land blieb ist eigentlich ein Gen Defekt in der Evolution.Danach haben sie sich in den Gegenden angepasst in denen sie leben wollten.Nicht Gott oder Allah ist dafür verantwortlich das sind Märchen die ängstliche Menschen aufbauen möchten.
Warum werden in der Taiga Kinder geboren die völlig mit Fell bedeckt sind...Nur weil über Generationen die Vorfahren immer gefroren haben.Der Menschen ähnliche Vorfahre der im Meer geblieben ist ist der Delphin ,der heute leider in Asien als Thunfisch der immer seltener wird in die Dosen kommt(eigentlich Kannibalismus)

Gravatar: Prof. Dr. Jürgen Bellers

der interviewte hat recht: es ist die Vorstellungskraft der menschen, die ihre geschichte bestimmt, aber nicht die fiktiv geglaubte, wie behauptet wird, sondern der glaube an reale himmel und Ideen und an einen tatsächlichen Gott; Ideen sind nicht nur vom menschen konstruiert, sondern realia, die die welt bewegen. das wußte schon Platon, erst recht die kirchenväter.

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