Clemens Schneider Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung

»Das Wichtigste ist: die Freiheit des Menschen«

Interview mit Clemens Schneider

Clemens Schneider ist freier Mitarbeiter bei der Human Rights Foundation. Er arbeitet im Augenblick an einer Dissertation in Katholischer Theologie über den liberalen englischen Historiker Lord Acton. Im Interview mit FreieWelt.net spricht er über die Gemeinsamkeiten zwischen Liberalen und Christen.

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FreieWelt.net: Katholizismus und Liberalismus gelten in Deutschland vielen als gegensätzliche weltanschauliche Grundhaltungen. Gegenseitige Schmähungen („Herz-Jesu-Marxist“, „Manchester-Kapitalist“) sind auch heute noch an der Tagesordnung. Derzeit sind mancherorts Bemühungen zu beobachten, die historisch überkommenen Gegensätze abzubauen oder sogar zu überwinden. Warum gerade jetzt? Gibt es einen besonderen Anlaß?

Clemens Schneider: Schon seit längerem kann man eine Absetzbewegung vom radikalen Laizismus in liberalen Kreisen bemerken. Die FDP zum Beispiel hat sich von ihren fast schon kirchenfeindlichen Äußerungen vor dreißig, vierzig Jahren distanziert, und gerade die junge Generation ist wieder wesentlich wohlwollender gegenüber Kirche und Religion eingestellt. Die Gruppe „Christen in der FDP-Fraktion“ umfasst inzwischen ein Drittel der Abgeordneten und ist somit die größte Gruppe innerhalb der Fraktion. Und der Parteivorsitzende Philipp Rösler sitzt sogar im Zentralkomitee Deutscher Katholiken.

Gleichzeitig öffnet sich gerade die katholische Kirche immer mehr der Idee, dass Marktwirtschaft die dem Menschen am meisten angemessene Wirtschaftsform ist. Vor allem Papst Johannes Paul II. hat da durchaus massive Akzente gesetzt, etwa mit seiner Sozialenzyklika „Centesimus Annus“ von 1991. Dort heißt es zum Beispiel: „Sowohl auf der nationalen Ebene der einzelnen Nationen wie auch auf jener der internationalen Beziehungen scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für den Einsatz der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein.“ Leider sind die evangelischen Kirchen in Deutschland immer noch auf einem zum Teil dezidiert linken Kurs. Das liegt natürlich auch an ihrer traditionell stärkeren Nähe zum Establishment in Politik und Medien.

FreieWelt.net: Sie haben in einer Ihrer Veröffentlichungen betont, dass ein gemeinsamer philosophischer Grundkonsens zwischen Liberalismus und Christentum gefunden werden sollte. Dazu haben Sie die Frage nach dem jeweiligen Menschenbild als geeigneten Ansatzpunkt für eine echte Verständigung markiert. Wie müssen wir uns die Entwicklung eines solchen Grundkonsenses aus der Frage nach dem Menschenbild vorstellen? Können Sie das einmal genauer skizzieren?

Clemens Schneider: Das Christentum hat einen personalen Gott – so sehr, dass er Mensch wird und damit tatsächlich sichtbar, hörbar, begreifbar. Nach dem Bild dieses Gottes ist auch der Mensch geschaffen. Das heißt, der Mensch ist Person. Vor allem anderen ist er Person, Individuum. Es kommt auf ihn an, auf seine Handlungen. Er ist in diese Welt gestellt mit der Aufgabe, seine Freiheit richtig zu nutzen. Der Mensch ist keine Marionette Gottes, sondern ein selbstverantwortliches Subjekt. Zentral sind dabei allerdings – das stellt auch Lord Acton deutlich heraus – die Begriffe Gewissen und Pflicht. Das Gewissen unterstützt den Menschen auf der Suche nach dem richtigen Gebrauch seiner Freiheit. Und zugleich ergeben sich Pflicht und Verantwortung aus den Geboten, vor allem dem Liebesgebot.

Die Liberalen stehen philosophisch in einer sehr verwandten Tradition. Denker wie Immanuel Kant oder Friedrich August von Hayek haben Verantwortung und Pflicht stets auch als wichtige Elemente einer freien Gesellschaft gesehen. Nur wenn jeder seine Verantwortung wahrnimmt, kann die Gesellschaft offen bleiben. Wer Verantwortung abgibt, spielt den Mächtigen in die Hände. Das sehen wir gerade ganz aktuell bei der Entwicklung des Sozialstaats in westlichen Gesellschaften. Hier entsteht eine Bedrohung für die Freiheit des Menschen, die Christen und Liberale gleichermaßen beunruhigen muss.

Natürlich ist für den Liberalen auch das Individuum der Ausgangspunkt seiner Überzeugungen. Liberale setzen den Einzelnen an die erste Stelle ihrer Philosophie. Im Gegensatz zu den beiden anderen großen Strömungen – Sozialismus und Konservatismus – spielt bei ihnen das Kollektiv nicht nur keine Rolle, sondern wird stets auch als Gefahr gesehen. Denn in Kollektiven wird die Freiheit des einzelnen früher oder später immer eingeschränkt. Innerhalb des Christentums wurden und werden immer wieder starke Sympathien für Sozialisten und Konservative gehegt. Die Sozialisten sieht man als Verbündete im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit – jedenfalls solange man nicht unmittelbare Erfahrungen mit ihrem „Kampf“ macht, wie in der Sowjetunion, Kuba oder Polen. Und mit den Konservativen teilt man viele ethische Werte und auch die Liebe zur Tradition. Freilich ist gerade die katholische Sicht auf Tradition stark vom Motiv der Entwicklung geprägt. Der Sinn der Tradition ist nicht stehenzubleiben, sondern sich auf dem Boden des bereits Gedachten und Geglaubten immer mehr der Wahrheit und mithin Gott anzunähern. Dieses „lebenslange Lernen“ ist eine Eigenschaft, die das Christentum mit den Liberalen teilt, die ja auch deshalb offen sind, weil sie – wie Popper einmal schrieb – wissen „dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr darauf, der Wahrheit näherzukommen.“

FreieWelt.net: Sie selbst befassen sich im Rahmen einer Dissertation intensiv mit den Schriften Lord Actons. Welche Erkenntnisse und Einsichten können Katholiken und Liberale durch die Beschäftigung mit dieser historischen Persönlichkeit erlangen, die sie zu besserem gegenseitigen Verständnis oder sogar zu einem „Grundkonsens“ führen können?

Clemens Schneider: Lord Acton sagte einmal in einem sehr persönlichen Brief über seine Lebensgeschichte: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der sein Leben begann in der Überzeugung, ein aufrechter Katholik und ein aufrechter Liberaler zu sein. Der deshalb allem am Katholizismus widersagte, das mit dem Liberalismus nicht übereinstimmte, und allem im Politischen, das mit dem Katholischen nicht übereinstimmte.“ Das klingt ein wenig nach Eklektizismus. Aus Sicht ideologischer Puristen wäre es das auch. Aber mit dieser Haltung war Acton einer jener Liberalen, die ihren Liberalismus besonders ernst nehmen: Er war kein Ideologe, er war Skeptiker. Sein eigener Verstand und noch viel mehr sein Gewissen – einer der zentralen Begriffe in Actons Werk – sollten ihm den Weg weisen, weil er sicher war, dass sie ihm genau aus diesem Grund von Gott geschenkt wurden. Dogmatismus und blindes Abnicken war ihm zuwider.

In seiner Zeit stand er damit in direkter Opposition zum vorherrschenden Fideismus in der Katholischen Kirche. Wie in den einzelnen Ländern Europas gab es auch in der Katholischen Kirche eine nationalistische Bewegung, in der alles auf Rom und den Papst konzentriert wurde. Rom führte die über den Erdkreis verstreute Kirche – politisch, moralisch und in Glaubensdingen. Im Zuge dieser Entwicklung wurde viel theologische Vielfalt zerstört. Das Katholische, also das Allumfassende, wurde zum Allerdrückenden. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Kirche wieder mehr auf ihre Vielfalt besonnen. Das 2. Vatikanische Konzil hat viel dazu beigetragen. Aber auch die Päpste der jüngsten Vergangenheit.

Aus meiner Sicht ist ein Grundkonsens in zwei ganz wesentlichen Punkten herzustellen: Bei der Wertschätzung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und bei der Überzeugung, dass eine absolute Wahrheit unter den Umständen dieser Welt nicht zu finden ist, dass also Ideologien und Dogmatismen, diese Ausgeburten menschlicher Hybris, gefährlich und abzulehnen sind. In vielen Punkten wird es freilich weiterhin Dissens geben, insbesondere in moralischen Fragen. Das ist aber gerade für die Kirche umso weniger ein Problem, je mehr sie sich wieder ihrem Kerngeschäft widmet: Der Verkündigung der frohen Botschaft, dass Gott Mensch wurde, für uns starb und wir durch seine Auferstehung erlöst wurden von Sünde und Tod.

FreieWelt.net: Welche Schritte sind Ihrer Einschätzung nach hilfreich, um den Dialog zwischen Katholiken und Liberalen in fruchtbarer Weise voranzubringen? Reicht es schon, wenn alle nur Lord Acton lesen oder braucht es noch etwas anderes?

Clemens Schneider: Wie schon angedeutet, verstricken sich beide – Katholizismus und Liberalismus – immer wieder in Einzelfragen. Es ist für die Erlösung nicht von zentraler Bedeutung, ob jemand einen Kondom benutzt. Und es ist für die Freiheit nicht hilfreich, dass es eine Mehrwertsteuerentlastung für Hoteliers gibt. Beide sollten sich mehr auf ihr Kerngeschäft besinnen. Der Liberalismus hat viel zu oft seine Prinzipien über Bord geworfen, um sich durch jämmerliche Zugeständnisse an den Trögen der Macht zu halten. Das Verhalten der FDP während der Euro-Rettung ist nur ein besonders eklatantes Beispiel dafür. Die Katholische Kirche hingegen hat sich viel zu sehr zu einem Moralexperten entwickelt. Damit will ich nicht sagen, dass die ganze katholische Morallehre falsch ist. Aber sie wird – oft noch verengt auf Themen der Sexualmoral – viel zu sehr in den Vordergrund gestellt. Der Erzbischof von Paris protestiert gegen die Möglichkeit ziviler Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare. Das mag ihm bei den Hundertprozentigen Zustimmung einbringen – mit der Botschaft Jesu Christi hat das aber so viel zu tun wie die Subventionierung alternativer Energien mit dem Liberalismus.

Wenn sich Katholiken – Christen überhaupt! – und Liberale auf ihre eigentlichen Grundüberzeugungen besinnen, werden sie sehr viele Gemeinsamkeiten finden und können gemeinsam für das eintreten, was ihnen das Wichtigste ist: die Freiheit des Menschen. Lord Acton schildert einmal sehr schön den eindrucksvollen Beitrag der freikirchlichen Bewegungen des 16. bis 18. Jahrhunderts für die Sache der Freiheit: „Jene großartige politische Idee, die Freiheit zu heiligen und sie Gott zu weihen, die Menschen zu lehren, die Freiheiten der anderen zu hegen wie die eigenen und sie zu verteidigen mehr aus Liebe zu Gerechtigkeit und Barmherzigkeit denn als einen Rechtsanspruch, war die Seele dessen, was am Fortschritt der vergangenen zweihundert Jahre groß und gut ist.“ Das ist aus meiner Sicht das gemeinsame Anliegen und der gemeinsame Weg, den Christen und Liberale gehen sollten.

Das Interview führte Christoph Kramer

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Tim K.

Hinzu kommt, dass das der christliche Grundgedanke die Natur erhalten will, neoliberale Marktlogik dies durch die mikroökonomische Sichtweise der Akteure jedoch nicht leisten kann. Umweltpolitik bedeutet nämlich Einbußen im Wachstum, eine nachhaltige Wirtschaft ist ohne den Eingriff von staatlicher Seite kaum möglich. Desweiteren sind die Maxime Gier, Egoismus und Risikobereitschaft der neoliberalen Marktlogik nicht mit der christlichen Lebensart vereinbar, wenn die staatliche Fürsorge für sozial Benachteiligte nicht gewährleistet wird.

Gravatar: Tim K.

"Leider sind die evangelischen Kirchen in Deutschland immer noch auf einem zum Teil dezidiert linken Kurs." - Herrlich, ich habe das Gefühl dieser Mensch hat ansonsten nichts verstanden. Wie schon bereits gesagt, wird hierbei Fdp mit Liberalismus gleichgesetzt - ich argumentiere also mal gegen den Neoliberalismus, den ich auch der Fdp zugestehe. Ich habe das Gefühl, dass Herr Scneider nur theoretische Konstrukte bedient. Mag ja sicherlich schön klingen, wenn von der Freiheit des Menschen die Rede ist. Ohne empirische Analyse ist das Ganze allerdings wertlos. Nur mal eine von Wikipedia (Soziale Ungleichheit) zitierte Stelle über die Ungleichheit in den USA, einem neoliberalen Vorzeigestaat, in dem die FREIHEIT ganz gross geschrieben wird: "Die reichsten 10 % der Amerikaner erzielten 2007 mit 49,7 % fast die Hälfte des Gesamteinkommens. In den 70er Jahren lag der Anteil noch bei 33 %." - Wie solche Entwicklungen dem Individuum zugute kommen sollen, bleibt mir schleierhaft. Desweiteren ist die Liberalisierung (etwa von Wasser, Strom etc. pp) immer mit steigenden Kosten für die Endnutzer (Konsumenten, also auch wieder das Kollektiv der Individuen) verbunden, was sich schlichtweg dadurch erklärt, dass Gewinne für die Investoren abfallen müssen, was vorher bei dem Staat nicht unbedingt nötig war.
Was mir besonders auffällt, ist die heutige liberale Terminologie, die euphemisiert wo sie nur kann: Die "Freiheit" ist etwa verbunden mit mehr "Eigenverantwortung", d.h. im Klartext das die Zivilgesellschaft (Familie) mehr selber finanzieren muss, ohne das dabei solidarische Hilfe verlangt werden kann. Interessant ist auch, dass im liberalen Staat nur noch Eigentum zählt (siehe USA). Je mehr ein Unternehmen mit der Ressource Geld ausgestattet ist, desto einfacher kann sie andere verklagen (gerade wenn der Gegenüber nicht solvent ist) - Der Interviewte sollte sich vielleicht einmal 'Haben und Sein' von Erich Fromm zu Gemüte führen, ansonsten scheint es für mich nur so, als wolle er die christliche Religion mit der Wirtschaft vereinen und gleichzeitig dafür missbrauchen. Wo dann noch Solidarität herkommen soll (Unternehmer investieren eben nur größtenteils in eigene Zwecke) bleibt offen. Wenn der Staat hier nicht mehr eingreift, sieht es dunkel aus.

Gravatar: Klimax

Das Gespräch leidet darunter, daß Herr Schneider fortwährend den Liberalismus mit der FDP verwechselt. Und wieso Subventionen nicht freiheitsfeindlich sind, muß er mir auch erst einmal erklären.

Gravatar: Dr. Wolfgang Thüne

Debkanstöße sind immer gut! Aber ich befürchte, dass sich Katholizismus und Liberalismus auf den Konsens geeinigt haben, dass sie die Welt retten müssen mit untauglichen und die Schöpfung infrage stellenden Mittel. Beide wollen den Klimawandel stoppen, obgleich der von Gott verfügt wurde! Gott sprach "es werde Licht" und setzte die Erde in Drehung, damit dieses Licht gleichmäßig über die Erde verteilt wird und überall das Wachsen grüner Pflanzen (Fotosynthese) ermöglich. CO2 soll ein Umweltgift sein?????

Gravatar: Lupengucker

@Kommentator
Was Sie bemängeln, ist mir zwar auch schon aufgefallen, dennoch möchte ich eine Lanze brechen für die Redaktion von "Freie Welt".
Mir gefällt ausnehmend gut, dass hier tagtäglich ungewöhnlich viele interessante Artikel zu lesen sind.
Diese Seite der Medaille ist für mich mindestens ebenso wichtig wie die Reaktionen durch Kommentare.
Darum ein herzliches Dankeschön an die Redaktion!

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