Zum Memorandum "Kirche 2011" katholischer Theologen

Das Memorandum sieht Kirche als eine Art Serviceunternehmen in der modernen Gesellschaft; sie müsse ein "differenziertes Verhältnis" zur dieser Gesellschaft finden, deren Regeln sie sich anzupassen habe. Genannt werden unter anderem die Liturgie, der Zölibat und die Ehescheidung. Einer der vielen Fehler dieses Memorandums besteht darin, zwei grundverschiedene Dinge durcheinander zu bringen: Regel oder Vorschrift und Ideal.

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Leo Tolstoi schrieb in seinem Nachwort zur "Kreutzersonate": "Die Keuschheit [sie ist nur ein Beispiel für viele; AFK] ist keine Regel oder Vorschrift, sondern ein Ideal oder vielmehr eine der Voraussetzungen dafür. Ein Ideal ist aber nur dann ein Ideal, wenn es lediglich ideell, in Gedanken zu verwirklichen ist, wenn es erst nach unendlicher Zeit erreichbar und deshalb die Möglichkeit, ihm näherzukommen, endlos zu sein scheint. Sobald das Ideal nicht nur erreicht werden kann, sondern wir uns auch seine Verwirklichung vorstellen können, hört es auf, ein Ideal zu sein. Solcherart ist das Ideal Christi: die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden [...], da alle Wesen in Liebe vereint sein werden. Der ganze Sinn des menschlichen Lebens besteht darin, sich auf dieses Ideal zuzubewegen, und daher schließt das Streben nach dem christlichen Ideal in seiner Gesamtheit und nach Keuschheit als einer der Voraussetzungen für dieses Ideal die Möglichkeit des Lebens nicht nur nicht aus, sondern im Gegenteil, das Fehlen dieses christlichen Ideals würde jede Vorwärtsentwicklung und folglich jede Lebensmöglichkeit vereiteln."

Tolstoi schreibt weiter: "So wie es zwei Arten gibt, einem Reisenden den Weg zu zeigen, gibt es auch zwei Arten der moralischen Anleitung für einen, der die Wahrheit sucht. Die eine besteht darin, den Betreffenden auf Gegenstände hinzuweisen, an denen er vorüberkommen muss und nach denen er sich dann orientiert.

Die andere besteht darin, dem Betreffenden nur die Himmelsrichtung anzugeben, so daß er anhand des Kompasses, den er bei sich trägt, immer die eine unveränderliche Richtung und damit auch jede Abweichung feststellen kann. [...] Maßstab für die Befolgung der äußerlichen religiösen Lehren ist das Übereinstimmen des Verhaltens mit den Bestimmungen dieser Religionen, und hier ist ein Übereinstimmen möglich.

Maßstab für die Befolgung der Lehre Christi ist das Erkennen des Grades des Nichtübereinstimmens mit der idealen Vollkommenheit. [...] Ein Mensch, der ein äußerliches Gesetz befolgt, ist ein Mensch, der im Licht einer an einem Pfahl hängenden Laterne steht. Er steht im Schein dieser Laterne, hat es hell, aber weitergehen kann er nicht. Ein Mensch, der Christi Lehre befolgt, gleicht einem Menschen, der an einer mehr oder weniger langen Stange eine Laterne vor sich her trägt. Das Licht ist stets vor ihm und veranlasst ihn, ihm stets zu folgen, es erschließt ihm immer wieder einen neuen, verlockenden lichten Raum."

Man vergleiche diese Sätze eines jeder kirchlichen Institution feindlich gesinnten Christen aus dem Jahr 1890 mit einem wunderbaren Interview, das Martin Mosebach, ganz offenbar ein kirchentreuer Katholik, letztes Jahr im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" gegeben hat. Es enthält sehr ähnliche Kernsätze, die jenen katholischen Theologen ins Stammbuch geschrieben werden können, die in ihrem Memorandum unter anderem schreiben: "Die Erneuerung kirchlicher Strukturen wird nicht in ängstlicher Abschottung von der Gesellschaft gelingen, sondern nur mit dem Mut [...] zur Annahme kritischer Impulse - auch von außen." Mosebach sagt: "Die Kirche muss immer das Unmögliche leisten. Sie ist immer paradoxal. Sie muss gerecht und barmherzig zugleich sein. Diese Überforderung ist doch das Großartige der Kirche. Friedrich Schlegel schreibt schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass der Islam eine umsetzbare und erfüllbare Religion sei, während das Christentum unerfüllbar sei und sich sogar häufig genug in schreiendem Gegensatz zu den Intentionen seines Gründers befinde. Genau darin aber liege die Stärke des Christentums. [...] Die Überforderung aus Prinzip verhindert die Banalisierung des Christentums. Was erfüllbar ist, ist banal. Der menschliche Geist erlahmt, wenn er sich nicht unerfüllbare Ziele setzt. [...] Die Religion tritt dem Menschen als etwas Fremdes entgegen, als das ganz Andere."

Die Kirche ist daher immer Gegenentwurf zum Zeitgeist, das ist ihr kostbarster Besitz. Kirche ist immer Gegengesellschaft.

 

Leo N. Tolstoi: Nachwort zur "Kreutzersonate", in: Späte Erzählungen 1886-1910, Artemis & Winkler: Düsseldorf / Zürich 2001, S. 207-222.

Link zum Interview mit Martin Mosebach

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Crono

Jó napot Herr Kovács,
vielen Dank für Ihren Beitrag! Lese sehr gerne Ihre Artikel.

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