Unpersönlich welthaltig

Vor 25 Jahren starb Jorge Luis Borges (1899-1986). Zur Erinnerung an den großen Dichter.

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Ab 1933 erschienen in einer der führenden Zeitschriften Argentiniens -dem Lande der Gauchos, des Tango und der glutäugigen Frauen -namens Critica Erzählungen, die überhaupt nicht zu den clichierten Vorstellungen passen, die sich Europäer von diesem südamerikanischen Land und seinen Bewohnern machen und die übrigens irgendwo auch stimmen. Es sind fast schon penibel genaue "Übungsstücke in erzählender Prosa", wie sie der Autor nannte, von einer barocken Verspieltheit des Inhalts bei gleichzeitiger extremer Kühle der Form. Als die moralischen Geschichten von Mördern, Betrügern, Piraten und anderen "niederträchtigen" Gestalten in einem Band mit dem pseudowissenschaftlichen Titel "Universalgeschichte der Niedertracht"zusammengefasst wurden, fand sich am Ende eine Angabe von Quellenliteratur. Waren diese Geschichten zwischen Ulk und Essay gar nicht die Erfindungen des Autors? Immerhin täuschte er Originalität nicht vor: Sein "Anteil" an mancher Erzählung beschränke sich "auf den des Übersetzers und Lesers", wobei die "guten Leser noch geheimnisvollere und seltenere Vögel" seien als die guten Autoren. Ein Spiel also, zu dem sich der gelehrte Autor, allein in dessen zwei kurzen Vorworten zu den Auflagen des Buches 1935 und 1954 sich schon Stevenson, Chesterton,Carriego, Valéry, Pope, Gracián, Donne und der Evangelist Johannes ein Stelldichein geben, mit einer aus dem Buddhismus übernommenen Überlegung bekennt: "Die Weisen des Großen Fahrzeugs lehren, daß der wesentliche Inhalt des Universums die Leere ist", die er auch für das Buch reklamiert, als "das Ganze nichts weiter als Schein ist". Doch warum nicht spielen, wenn es Vergnügen macht?

Der Autor selbst ist hinter diesen äußerst konzentrierten Erzählungen nicht zu erkennen. Will er mit diesen Pseudo-Essays belehren? Nein, er ist nicht engagiert. Sie wirken manchmal wie objektive Geschichtsschreibung sine ira et studio. Oder handelt es sich um l'artpour l'art? Bizarre und phantastische Geschichten als Vorwand ästhetisch in sich ruhender Kunstwerke? Auch Franz Kafka schrieb einige Jahre früher fein ziselierte Erzählungen mit teilweise monströser Handlung, die aber immer die Angst des Autors durchfühlen liessen. Davon kann bei diesem wie unbeteiligt seine kalten Diamanten schleifenden und auf Hochglanz polierenden Virtuosen keine Rede sein.

Die Literaturgeschichte erkennt in diesem Autor von damals Mitte Dreißig den Schöpfer dessen, was als "magischer Realismus" berühmt wurde und bei Großschriftstellern wie Garcia Márquez zu unerhörtem Erfolg führte. Aber das ist nur eine Facette. Dieser argentinische Dichter ist wie ein Meta-Autor, der aus dem Stoff aller Zeiten, Dichter und Völker seine Kunst webt und gerade dadurch unverwechselbar wird. Ist das postmodern? Unser Autor wäre sicher als einer der entscheidenden Vorläufer dieser literarischen Richtung anzusehen. Aber davon abgesehen, dass dieser Begriff selten unglücklich ist, weil man sich fragt, was danach kommen soll (eine Post-Postmoderne?), so liegt die Bedeutung dieses Dichters in etwas Anderem. Wie Shakespeare hinter seinen aus der Historie und aus zweitklassigen Vorlagen entwendeten Dramenpersonen verschwindet und man nie weiß, aus welcher er selbst spricht, weil er jeder so vollkommen ein eigenes Leben zu geben vermag, so unpersönlich welthaltig kann unser Argentinier genannt werden - sein Werk das Gegenteil einer großen Konfession. Die Psychologie ist überwunden, der Künstler spricht nicht mehr für sich und damit für das lesende Individuum, sondern für die Welt. Die SubjektLeere ermöglicht es, Platz für das Universum zu schaffen. Diese Antisubjektivität macht die ungeheure Modernität des vielfältig reichen Werks von Jorge Luis Borges aus, der heute vor 25 Jahren in Genf gestorben ist, wo er auch begraben liegt.

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